Bearbeiter: Prof. Dieter Schmalz

Wichtiger Grund für Befreiung vom Schwimmunterricht aus religiösen Gründen. Verfassungs- und grundrechtskonforme Auslegung. Glaubensfreiheit, Art. 4 I GG. Einschränkung eines vorbehaltlos gewährleisteten Grundrechts durch kollidierenden Verfassungswert. Staatliches Bestimmungsrecht im Schulwesen, Art. 7 I GG; Integrationsaufgabe der Schule. Ausgleich der Verfassungswerte durch praktische Konkordanz

BVerwG Urteil vom 11. 9. 2013 (6 C 25/12) NVwZ 2014, 81

Fall
(Burkini)

Die elfjährige Schülerin M besucht das G-Gymnasium der im Lande L gelegenen Stadt S in der 5. Jahrgangsstufe. In dieser wird der Schwimmunterricht für Jungen und Mädchen gemeinsam (koedukativ) durchgeführt. M und ihre Eltern E gehören dem muslimischen Glauben an. Zu Beginn des Schuljahres stellten die Eltern namens der M bei der Schulleitung den Antrag, M vom Schwimmunterricht zu befreien. Zwar sei im Islam jede Art sportlicher Betätigung erlaubt und erwünscht. Deshalb nahm M auch am sonstigen Sportunterricht teil, bekleidet mit langen Ärmeln, einer Hose und einem Kopftuch. Jedoch erlaubten die islamischen Bekleidungsvorschriften kein gemeinsames Schwimmen. Ein Grund hierfür sei, dass sie sich keinen Blicken der Jungen auf ihren Körper aussetzen dürfe. Auch sei ihr der Blick auf männliche Schüler untersagt, die bloß eine Badehose tragen und nicht in einer den islamischen Vorgaben entsprechenden Weise gekleidet sind. Die Schulleitung lehnte den Antrag ab. Sie verwies darauf, dass M im Schwimmunterricht einen Burkini tragen könne, der den Körper bis auf Hände, Füße sowie das Gesicht abdeckt und auch im nassen Zustand ein Abzeichnen der Körperkonturen verhindert, ohne dass das Schwimmen dadurch behindert wird. M und ihre E lehnten das aber ab, weil sich auch bei einem solchen Kleidungsstück bei einzelnen Bewegungen oder Übungen die Körperformen abzeichnen könnten und sich zufällige Berührungen durch männliche Schüler nicht verhindern ließen. Überdies führe ein Burkini zur Ausgrenzung der M, die für andere Schüler Anlass zu intoleranten Reaktionen werden könne. Zugunsten des Befreiungsantrags spreche schließlich noch, dass ein solches Befreiungsverlangen nur von ganz wenigen Schülerinnen geltend gemacht werde und lediglich einzelne Unterrichtsstunden in einem weniger wichtigen Fach betreffe.

E legten namens der M den - im Lande L in solchem Fall zulässigen - Widerspruch ein. Diesen wies die hierfür zuständige Schulaufsichtsbehörde mit ausführlicher Begründung zurück. Darin führte sie auch aus, dass der von M beanstandete Blick auf Badehosen tragende Schüler angesichts der der Schule obliegenden Integrationsaufgabe zumutbar sei. Gegen den Bescheid der Schulleitung haben E namens der M Klage vor dem zuständigen Verwaltungsgericht erhoben. In der Klageschrift wird auch noch beanstandet, dass in den behördlichen Bescheiden die Möglichkeit übersehen worden sei, eine Befreiung aufgrund Ermessens auszusprechen. Wie ist über die Klage zu entscheiden?

Das SchulG des Landes L bestimmt in § 34, dass für Schüler und Schülerinnen eines bestimmten Alters Schulpflicht besteht.

§ 43 SchulG regelt die Teilnahme am Unterricht und an sonstigen Schulveranstaltungen wie folgt:

(1) Schülerinnen und Schüler sind verpflichtet, regelmäßig am Unterricht und an den sonstigen verbindlichen Schulveranstaltungen teilzunehmen…

(2) Ist eine Schülerin oder ein Schüler durch Krankheit oder aus anderen nicht vorhersehbaren Gründen verhindert, die Schule zu besuchen…

(3) Die Schulleiterin oder der Schulleiter kann Schülerinnen und Schüler auf Antrag der Eltern aus wichtigem Grund bis zur Dauer eines Schuljahres vom Unterricht beurlauben oder von der Teilnahme an einzelnen Unterrichts- oder Schulveranstaltungen befreien…

A. Zulässigkeit der Klage

I. Die Zulässigkeit des Verwaltungsrechtswegs ergibt sich aus § 40 I VwGO. Streitentscheidende Normen sind die öffentlich-rechtlichen Vorschriften des § 43 SchulG, so dass eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit vorliegt. Als Streitigkeit auf dem Gebiet des Schulrechts ist sie auch nichtverfassungsrechtlicher Art und keinem anderen Gericht zugewiesen.

II. Klageart ist die Verpflichtungsklage (§ 42 I VwGO), wenn die Klage auf Erlass eines Verwaltungsakts i. S. des § 35, 1 VwVfG gerichtet ist. M begehrt eine Befreiung vom Schwimmunterricht durch die Schulleitung. Als für Entscheidungen im Rahmen des öffentlich-rechtlichen Schulverhältnisses zuständige Stelle (§ 43 III SchulG) ist die Schulleitung Verwaltungsbehörde. Eine Regelung mit Außenwirkung liegt darin, dass die Befreiung die teilweise Freistellung von der Schulbesuchspflicht der §§ 34, 43 I SchulG und somit eine M begünstigende Rechtsfolge herbeiführen soll. Eine Einzelfallregelung ergibt sich zwar noch nicht aus dem zu regelnden Fall, weil dieser sämtliche Unterrichtsstunden des Schuljahres, in denen Schwimmunterricht stattfinden soll, betrifft. Sie ergibt sich aber daraus, dass Adressatin der Maßnahme M als Einzelperson ist. Eine solche individuelle Regelung ist keine allgemeine Regelung durch Rechtsnorm, sondern eine Einzelfallregelung durch VA. Diesen VA hat die Schulleitung abgelehnt, so das die Verpflichtungsklage die richtige Klageart ist.

III. Die Klagebefugnis (§ 42 II VwGO) der M folgt daraus, dass sie geltend machen kann, einen Anspruch auf Befreiung nach § 43 III SchulG zu haben und durch die Ablehnung in diesem Recht verletzt zu sein.

IV. Das nach § 68 II, I VwGO erforderliche Widerspruchsverfahren, das im vorliegenden Fall nicht für entbehrlich erklärt wurde (vgl. § 110 II Nr. 3 a JustizG NRW), ist durchgeführt und hat nicht zur Erteilung der Befreiung geführt.

Da ein Widerspruchsbescheid vorliegt, kommt der - auch für die Verpflichtungsklage geltende - § 79 I Nr. 1 VwGO zur Anwendung, wonach Streitgegenstand der ursprüngliche Verwaltungsakt in der Gestalt des Widerspruchsbescheids ist. Das hat hier Bedeutung für das Argument der M, ihr sei der Blick auf männliche Schüler untersagt, die bloß eine Badehose tragen. Dazu hatte die Schulleitung keine Ausführungen gemacht. Hierzu hat aber der Widerspruchsbescheid Stellung genommen, so dass diese Stellungnahme als Argument der Behördenseite für die Ablehnung mit zu berücksichtigen ist.

V. Die noch minderjährige und deshalb nicht prozessfähige M (vgl. § 62 I Nr. 1 VwGO) wurde bei der Klageerhebung durch ihre Eltern vertreten (§ 1629 BGB). Weitere Zulässigkeitsbedenken sind nicht ersichtlich. Die Klage ist zulässig.

B. Begründetheit der Klage

Die in § 113 V 1 VwGO enthaltenen Voraussetzungen für die Begründetheit der Verpflichtungsklage sind jedenfalls dann erfüllt, wenn M einen Anspruch auf die Befreiung hat. Dieser kann sich aus § 43 III SchulG ergeben. Voraussetzung ist ein wichtiger Grund. Liegt diese Voraussetzung vor, kann der Grund für die Befreiung so gewichtig sein, dass sich das auf Rechtsfolgeseite eingreifende Ermessen auf Null reduziert, so dass M einen strikten Anspruch hat. Andernfalls sind Ermessensfehler zu prüfen, bei deren Vorliegen es zu einem Bescheidungsurteil nach § 113 V 2 VwGO kommt.

I. Mit dem Erfordernis eines wichtigen Grundes enthält § 43 III SchulG einen unbestimmten Rechtsbegriff, der der Auslegung und Konkretisierung bedarf. Fällt der Sachverhalt, der unter diesen Begriff zu subsumieren ist, in den Anwendungsbereich einer Vorschrift der Verfassung, kann eine verfassungskonforme Auslegung oder spezieller: eine grundrechtskonforme Auslegung geboten sein (zur verfassungskonformen und richtlinienkonformen Auslegung Kühling JuS 2014, 481; zur richtlinien- und verfassungskonformen Auslegung im Privatrecht Herresthal JuS 2014, 289). Im vorliegenden Fall kommt eine grundrechtskonforme Auslegung unter Heranziehung des Art. 4 GG in Betracht. Diese muss ergebnisrelevant erfolgen, muss also zu dem Ergebnis führen können, dass ein wichtiger Grund vorliegt oder nicht vorliegt. Auch ist die Eigenart der die Auslegung leitenden Verfassungsvorschrift zu berücksichtigen. Aufgabe eines (Abwehr-) Grundrechts ist, eine Verletzung durch staatliches Handeln zu verhindern. Deshalb muss eine Grundrechtsverletzung geprüft werden. Daraus folgt als Auslegungshypothese für die grundrechtskonforme Auslegung: Ein wichtiger Grund liegt vor, wenn im Fall der Ablehnung der Befreiung vom Schwimmunterricht M in ihrem Grundrecht auf Glaubensfreiheit aus Art. 4 GG verletzt wird. Bei Art. 4 werden die beiden Absätze 1 und 2 zu dem einheitlichen Grundrecht der Glaubens- und Religionsfreiheit aus Art. 4 I, II GG zusammengefasst. Im vorliegenden Fall genügt es jedoch, allein Art. 4 I anzuwenden. Dieses Grundrecht ist verletzt, wenn der für die Entscheidung über den wichtigen Grund maßgebliche Sachverhalt unter den Schutzbereich des Grundrechts fällt, ein Eingriff vorliegt und der Eingriff nicht gerechtfertigt ist.

1. Schutzbereich

a) BVerwG [8]: Die durch Art. 4 Abs. 1 GG geschützte Glaubens- und Bekenntnisfreiheit umfasst nicht nur die (innere) Freiheit, zu glauben oder nicht zu glauben, sondern auch die Freiheit, den Glauben in der Öffentlichkeit zu manifestieren und zu verbreiten. Umfasst ist auch das Recht des Einzelnen, sein gesamtes Verhalten an den Lehren des Glaubens auszurichten und im Alltag seiner Glaubensüberzeugung gemäß zu handeln (BVerfGE 32, 98, 106; st. Rspr.). Erforderlich ist, dass ein Verhalten glaubensgeleitet ist und dass der Glaube nicht Vorwand für ein in Wahrheit auf anderen Motiven beruhendes Verhalten ist.

b) M will verhindern, dass sie ihr Körper den Blicken und Berührungen männlicher Schüler ausgesetzt wird und dass ihr eigener Blick zwangsläufig auf nur spärlich bekleidete männliche Schüler gerichtet wird. Davon, dass beide Vorgänge den Glaubensgeboten des Islam widersprechen, ist nach dem hier gegebenen Sachverhalt auszugehen, ohne dass dazu näher auf den Text des Koran eingegangen zu werden müsste. Das Bestreben der M, die beschriebenen Verhaltensweisen zu vermeiden, ist als glaubensgeleitet anzuerkennen. Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass M mit ihrem Bestreben ein anderes Motiv verfolgen könnte. BVerwG [9]: Der Verwaltungsgerichtshof hat auf Grundlage der Darlegungen der Klägerin…in nicht zu beanstandender Weise festgestellt, dass diese für sich Gebote als religiös verpflichtend erachtet, ihren Körper gegenüber Angehörigen des männlichen Geschlechts weitgehend zu bedecken, sich nicht mit dem Anblick von Männern bzw. Jungen in knapp geschnittener Badebekleidung zu konfrontieren sowie Männer bzw. Jungen nicht zu berühren. Mittel hierfür ist für M - und ihre personensorgeberechtigten Eltern - die Nichtteilnahme am Schwimmunterricht. Somit fällt das durch die Befreiung vom Schwimmunterricht erstrebte Verhalten unter die Glaubensfreiheit und damit unter den Schutzbereich des Art. 4 I GG.

2. Eingriff

Die Ablehnung der Befreiung bedeutet für M, dass sie ihr glaubensgeleitetes Verhalten nicht verwirklichen kann. Sie muss sich in einer Weise verhalten, wie es bestimmten Glaubensregeln des Islam widerspricht. Darin liegt ein Eingriff in die Glaubensfreiheit.

3. Rechtfertigung

a) Art. 4 I GG wird durch die Ablehnung des Befreiungsantrags nur verletzt, wenn die Ablehnung ein nicht gerechtfertigter Eingriff ist. Für die Rechtfertigung bedarf es einer Grundlage im GG. § 43 III SchulG reicht hierfür nicht aus. Die normale Rechtfertigung ergibt sich bei einem Freiheitsrecht aus einer Grundrechtsschranke durch einen Gesetzesvorbehalt. Diese greift hier nicht ein, weil Art. 4 I, II GG keinen Gesetzesvorbehalt enthält. Die Glaubensfreiheit ist ein vorbehaltlos gewährleistetes Grundrecht. Vorbehaltlos bedeutet aber nicht schrankenlos. Vielmehr unterliegen auch vorbehaltlos gewährleitete Grundrechte Schranken, die sich aus anderen Vorschriften oder Prinzipien des GG ergeben.

b) BVerwG [11]: Die Glaubensfreiheit (Art. 4 Abs. 1 GG) ist zwar vorbehaltlos gewährt, wird jedoch auf Ebene der Verfassung durch das staatliche Bestimmungsrecht im Schulwesen beschränkt, das in Art. 7 Abs. 1 GG verankert ist (vgl. zuletzt BVerfG NJW 2009, 3151 Rn. 14; st. Rspr.). Art. 7 Abs. 1 GG überantwortet dem Staat die Aufsicht über das gesamte Schulwesen. Die Vorschrift begründet nicht nur Aufsichtsrechte des Staates im technischen Sinne des Wortes, sondern…einen umfassend zu verstehenden staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrag. Dieser verleiht dem Staat Befugnisse zur Planung, Organisation, Leitung und inhaltlich-didaktischen Ausgestaltung des Schulwesens, seiner Ausbildungsgänge sowie des dort erteilten Unterrichts (vgl. BVerfGE 96, 288, 303; BVerwGE 107, 75, 78). Hierunter fällt grundsätzlich neben der Befugnis, den Inhalt des Unterrichts festzulegen, auch die Befugnis, über seine äußeren Modalitäten wie etwa die Frage seiner Durchführung in koedukativer oder monoedukativer Form zu bestimmen. Danach darf durch Schulgesetz und Bestimmung durch die Schule vorgeschrieben werden, dass der Unterricht und auch der Schwimmunterricht für Mädchen und Jungen gemeinsam (koedukativ) durchgeführt wird.

c) Für die weitere Prüfung ist das Verhältnis zwischen Glaubensfreiheit und staatlichem Bestimmungsrecht im Schulwesen genauer zu bestimmen.

aa) BVerwG [12]: Das Grundrecht auf Glaubensfreiheit sowie das staatliche Bestimmungsrecht im Schulwesen stehen sich gleichrangig gegenüber (vgl. nur BVerfGE 98, 218, 244; st. Rspr.). Sie bedürfen gemäß dem Grundsatz praktischer Konkordanz der wechselseitigen Begrenzung in einer Weise, die nicht eines von ihnen bevorzugt und maximal behauptet, sondern beiden Wirksamkeit verschafft und sie möglichst schonend ausgleicht (vgl. BVerfGE 93, 1, 21…). Dies bedingt schon auf abstrakt-genereller Ebene wechselseitige Relativierungen beider Verfassungspositionen… Somit wird einerseits die Glaubensfreiheit durch das Schul-Bestimmungsrecht des Staates beschränkt und andererseits das Schul-Bestimmungsrecht durch die Glaubensfreiheit.

bb) Der Sache nach ist das das Gleiche, was auch mit dem Begriff der verfassungsimmanenten Schranke bezeichnet wird. Letzterer Begriff hat den Vorteil, dass er die verwendete Rechtsfigur systematisch in die Schrankenlehre einzugliedern gestattet. Er ist aber nicht nötig und wird vom BVerwG auch nicht verwendet.

cc) Anstelle der Ausgangsüberlegung aa) über das Verhältnismäßigkeitsprinzip zu lösen (so Kingreen JURA-Kartei 4/14 GG Art. 4 I/39), trifft die Intention des BVerwG nicht. Beim Verhältnismäßigkeitsprinzip wird davon ausgegangen, dass ein Eingriff zunächst einmal berechtigt ist, aber im Ermessen steht und durch das Verhältnismäßigkeitsprinzip begrenzt wird. Demgegenüber ist nach BVerwG oben aa) bereits über die Voraussetzungen für eine Maßnahme - im vorliegenden Fall: über das Vorliegen eines wichtigen Grundes - durch Abwägen zwischen beiden gleichrangigen Rechtsgütern zu entscheiden. Auch eine zusätzliche Anwendung des Verhältnismäßigkeitsprinzips zu der Abwägung ist nicht geboten, weil nach einer sachgemäßen Abwägungsentscheidung bereits feststeht, dass das Ergebnis zur Lösung des Konflikts geeignet, notwendig und angemessen ist.

d) Die für die Ausgleichs- und Abwägungsentscheidung wesentlichen Argumente verteilt des BVerwG auf zwei Ebenen (Uhle NVwZ 2014, 545: 2-Stufen-Modell, wird dort aber kritisch betrachtet).

(1) Auf einer ersten Ebene werden über bestimmte Konfliktsituationen und Argumente ohne nähere Prüfung des Einzelfalls entschieden.

aa) BVerwG [13]: Das Grundrecht auf Glaubensfreiheit wird auf einer ersten Ebene durch die Eigenständigkeit der staatlichen Wirkungsbefugnisse im Schulbereich relativiert… Die Schule soll allen jungen Bürgern ihren Fähigkeiten entsprechende Bildungsmöglichkeiten gewährleisten und einen Grundstein für ihre selbstbestimmte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben legen. Zugleich soll sie…dazu beitragen, die Einzelnen zu dem Ganzen gegenüber verantwortungsbewussten „Bürgern“ heranzubilden und hierüber eine für das Gemeinwesen unerlässliche Integrationsfunktion erfüllen (folgen umfangreiche Nachweise). Für die Ausfüllung seiner Rolle ist der Staat darauf angewiesen, das Bildungs- und Erziehungsprogramm für die Schule grundsätzlich unabhängig von den Wünschen der beteiligten Schüler und ihrer Eltern anhand eigener inhaltlicher Vorstellungen bestimmen zu können… [14]: Das Neutralitäts- und Toleranzgebot stimmt den Bildungs- und Erziehungsauftrag des Staates aus Art. 7 Abs. 1 GG sowie die religiösen Grundrechte aufeinander ab und gleicht sie untereinander aus.

bb) [17]: Daraus folgt, dass im Bereich der Schule alle Beteiligten…in einem bestimmten Umfang Beeinträchtigungen ihrer religiösen Überzeugungen als typische, von der Verfassung von vornherein einberechnete Begleiterscheinung des staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrags und der seiner Umsetzung dienenden Schulpflicht hinzunehmen haben… Eine Befreiung wegen befürchteter Beeinträchtigungen religiöser Positionen hat danach die Ausnahme zu bleiben. Von diesem Grundsatz ist der Senat bereits in seinem Urteil BVerwGE 94, 82 ff. ausgegangen.

cc) [19, 20]: Insbesondere darf das Vorliegen eines Ausnahmefalls nicht bereits deshalb angenommen werden, weil ein Befreiungsverlangen nur von einer einzelnen Person in einer bestimmten Situation geltend gemacht wird… Auch damit, dass ein Befreiungsverlangen nur eine einzelne Unterrichtsstunde oder eine überschaubare Zahl von Unterrichtseinheiten betrifft, kann eine Unterrichtsbefreiung regelmäßig noch nicht hinreichend begründet werden. Folglich müssen die Argumente der M, ein solches Befreiungsverlangen werde nur von ganz wenigen Schülerinnen geltend gemacht und betreffe lediglich einzelne Unterrichtsstunden in einem weniger wichtigen Fach, außer Betracht bleiben.

(2) Die wesentlichen Überlegungen finden auf einer zweiten Ebene statt.

aa) BVerwG [18]: Der Grundsatz praktischer Konkordanz fordert…bei Auftreten eines konkreten Konflikts zwischen beiden Verfassungspositionen zunächst auszuloten, ob…eine nach allen Seiten hin annehmbare, kompromisshafte Konfliktentschärfung im Bereich des Möglichen liegt, die beiden Positionen auch in Bezug auf den Einzelfall Wirksamkeit verschafft und eine Vorrangentscheidung als verzichtbar erscheinen lässt. Eine solche Konfliktentschärfung liegt in dem Angebot der Schule zum Tragen eines Burkini. BVerwG [24, 25]: Hiermit wäre - entsprechend der oben erwähnten Vorgabe der Herstellung praktischer Konkordanz im Einzelfall - eine ausgleichend-schonende Zuordnung der konträren Verfassungspositionen erreichbar gewesen. Die Unterrichtsteilnahme im Burkini stellt für die Klägerin eine annehmbare Ausweichmöglichkeit dar. Es ist…nicht nachvollziehbar, inwiefern die Klägerin selbst bei Anlegen eines Burkini nicht hinreichend ihren religiösen Überzeugungen hätte folgen können… Auch bei Verwendung weit geschnittener Kleidung ist es im Sportunterricht unvermeidlich, dass sich in der Bewegung Körperkonturen abzeichnen. Gleichwohl sieht sich die Klägerin nicht aus Glaubensgründen an einer Teilnahme am sonstigen Sportunterricht gehindert. [26] Auch soweit die Klägerin entgegenhält, das Tragen eines Burkini führe zu religiöser Stigmatisierung und Ausgrenzung, vermag der Senat ihr nicht zu folgen. Zwar ist nicht von der Hand zu weisen, dass der Anblick eines Burkini einzelne Mitschüler zu intoleranten sozialen Reaktionen veranlassen könnte… Jedoch muss derjenige, der auf die konsequente Umsetzung seiner religiösen Überzeugungen im Rahmen des Schulunterrichts dringt und von der Schule in diesem Zusammenhang Rücksichtnahme einfordert, seinerseits grundsätzlich akzeptieren, dass er sich hierdurch in eine gewisse, für andere augenfällig hervortretende Sonderrolle begeben kann. Im Übrigen haben die Lehrkräfte dafür zu sorgen, dass M durch ihren Glauben keine unzumutbaren Nachteile in der Schule hat.

Folglich führt der Vortrag der M, sie dürfe sich keinen Blicken der Jungen auf ihren Körper aussetzen, nicht zu einem Vorrang der Glaubensfreiheit und einem Nachrang des staatlichen Schul-Bestimmungsrechts.

BVerwG [31]: Im Hinblick auf das von der Klägerin in Bezug genommene Gebot, keine männlichen Mitschüler zu berühren, genügt der Hinweis, dass die entsprechende Gefahr durch eine umsichtige Durchführung des Unterrichts von Seiten der Lehrkräfte sowie durch zusätzliche eigene Vorkehrungen der Klägerin auf das für sie ohne weiteres hinnehmbare Maß reduziert werden kann.

bb) Weiterhin macht M geltend, ihr sei der Blick auf männliche Schüler untersagt, die bloß eine Badehose tragen. Dieser Konflikt kann nicht durch einen Kompromiss beigelegt werden. Wie BVerwG [28] näher ausführt, wäre ein getrennter Schwimmunterricht für Jungen und Mädchen eine der Schule nicht zumutbare Abweichung von ihrem fachlich-pädagogischen Konzept. Es bedarf also einer Abwägungsentscheidung.

Dabei ist für das Gewicht der Glaubensentscheidung maßgeblich (so BVerwG [21, 22]), ob die Beeinträchtigung den Umständen nach eine besonders gravierende Intensität aufweist. Diese hat wiederum zur Voraussetzung, dass das Glaubensgebot, das die Ausnahme rechtfertigen soll, eine strikte Verbindlichkeit hat. Ist diese Voraussetzung nicht erfüllt, kommt dem staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrag Vorrang zu. Einer weitergehenden Abwägung bedarf es dann nicht mehr… Ist diese Voraussetzung aber erfüllt, d.h. liegt eine besonders gravierende Beeinträchtigung religiöser Belange vor, führt dies noch nicht automatisch zu einem Zurücktreten des staatlichen Bestimmungsrechts. Es können dann noch andere Argumente zugunsten des staatlichen Bildungsauftrags sprechen. Im vorliegenden Fall ist das der Integrationsauftrag der Schule.

Zur entscheidenden Abwägung BVerwG [30]: Es steht bereits nicht fest, ob das von M in Anspruch genommene Glaubensgebot strikt bindend ist und einen hohen Stellenwert hat. Selbst wenn dies der Fall wäre, hätte die Glaubensfreiheit der Klägerin in Ansehung des besonderen Zuschnitts des fraglichen Glaubensgebots sowie der Art und Weise, in der es schulischen Funktionserfordernissen entgegenwirkt, zurücktreten müssen. Das Gebot läuft darauf hinaus, vom Anblick einer Bekleidungspraxis verschont zu werden, die auch außerhalb der Schule zum allgemein akzeptierten Alltagsbild - jedenfalls an bestimmten Orten bzw. zu bestimmten Jahreszeiten - gehört. Mit ihrem Befreiungsverlangen knüpft die Klägerin ihre Bereitschaft, am Schulunterricht teilzunehmen, an die Bedingung, dass dort ein bestimmter, nach allgemeiner Auffassung unverfänglicher Ausschnitt sozialer Realität ausgeblendet werden sollte. Dies stellt den schulischen Wirkungsauftrag in seinem Kern in Frage. Die Schule soll, neben ihrer Bildungsaufgabe…eine für das Gemeinwesen unerlässliche Integrationsfunktion erfüllen. Hierbei kommt dem Anliegen, bei allen Schülern die Bereitschaft zum Umgang mit bzw. zur Hinnahme von Verhaltensweisen, Gebräuchen, Meinungen und Wertanschauungen Dritter zu fördern, die ihren eigenen religiösen oder kulturellen Anschauungen widersprechen, entscheidende Bedeutung zu. In der Konfrontation der Schüler mit der in der Gesellschaft vorhandenen Vielfalt an Verhaltensgewohnheiten - wozu auch Bekleidungsgewohnheiten zählen - bewährt und verwirklicht sich die integrative Kraft der öffentlichen Schule in besonderem Maße. Diese würde tiefgreifend geschwächt werden, wenn die Schulpflicht unter dem Vorbehalt stünde, dass die Unterrichtsgestaltung die soziale Realität in solchen Abschnitten ausblendet, die im Lichte individueller religiöser Vorstellungen als anstößig empfunden werden mögen.

d) Somit hat die Glaubensfreiheit der M hinter die der Schule obliegenden Aufgaben zurückzutreten. Das staatliche Bestimmungsrecht über die Schule und damit die Durchführung eines koedukativen Schwimmunterrichts hat Vorrang. Die Ablehnung der Befreiung vom Schwimmunterricht verletzt die Glaubensfreiheit der M nicht. Die grundrechtskonforme Auslegung führt somit nicht dazu, dass ein wichtiger Grund i. S. des § 43 III SchulG vorliegt.

II. Der Gesetzgeber könnte einen wichtigen Grund auch in Fällen bejahen, in denen die Ablehnung nicht gegen Art. 4 I GG verstößt. In der Krabat-Entscheidung NJW 2014, 804, 809 [36] führt das BVerwG aus, das GG verwehre dem Gesetzgeber nicht, die Möglichkeit einer Unterrichtsbefreiung wegen drohender Beeinträchtigung religiöser Erziehungsbelange auch für Fälle vorzusehen, in denen es selbst keinen dahingehenden grundrechtlichen Anspruch der Eltern begründet. Jedoch sind im vorliegenden Fall Gesichtspunkte, die für die Annahme eines wichtigen Grundes jenseits des grundrechtlichen Schutzes der Glaubensfreiheit sprechen, nicht ersichtlich. Damit steht fest, dass ein wichtiger Grund i. S. des § 43 III SchulG nicht besteht.

III. Wenn M in der Klageschrift noch beanstandet, dass die Möglichkeit übersehen worden sei, eine Befreiung aufgrund Ermessens auszusprechen, ist das unzutreffend. Liegt kein wichtiger Grund vor, bleibt es bei der Verpflichtung nach § 43 I SchulG zur Teilnahme am Schwimmunterricht und ist die Erteilung einer Befreiung durch eine Ermessensentscheidung rechtmäßig nicht möglich.

Ergebnis: M hat weder einen strikten noch einen auf eine Ermessenentscheidung gerichteten Anspruch. Die Verpflichtungsklage ist unbegründet.

Ergänzende Hinweise:

In gleichem Sinn hat das BVerwG im Urteil vom 11. 9. 2013 (6 C 12/12) NJW 2014, 804 - Krabat entschieden. Dort hatten die den Zeugen Jehovas angehörenden Eltern dagegen geklagt, dass ihr Sohn im Unterricht den Film Krabat ansehen musste. Sie hatten erklärt, sie könnten als Angehörige der Zeugen Jehovas nicht zulassen, dass ihr Sohn an der Filmvorführung teilnehme, weil der Film sich mit Spiritismus und Magie befasse. Das BVerwG erkannte an, dass dieses Vorbringen glaubensgeleitet war und dass ein Eingriff in das Recht der Eltern zur Erziehung ihrer Kinder in religiöser Hinsicht (Art. 6 II 1 i. V. mit Art. 4 I GG vorlag. Bei der Frage der Rechtfertigung geht das BVerwG von denselben Ausführungen aus wie im Fall Burkini. Danach wird das religiöse Erziehungsrecht der Eltern durch das staatliche Bestimmungsrecht im Schulwesen nach Art. 7 I GG beschränkt, so dass zwischen beiden Verfassungsgütern abzuwägen ist. Ebenso wie im Fall Burkini konnte auch hier nicht festgestellt werden, dass ein unbedingt verpflichtendes Glaubensgebot in gravierender Weise verletzt wurde, zumal von dem Sohn lediglich ein rein rezeptives Verhalten verlangt war und das im Film dargestellte Praktizieren schwarzer Magie weder durch den Film noch durch die Schule mit einem positiven Wertbezug versehen worden ist. Außerdem würde eine verpflichtende Rücksichtnahme der Schule auf einen derart fundamental gefassten religiösen Bestimmungsanspruch die Erfüllung der staatlichen Bildungs- und Erziehungsverantwortung erheblich schwächen und in einen tendenziell unbeschränkten Nachrang gegenüber individuellen religiösen Tabuisierungsvorstellungen versetzen. Deshalb wurden sowohl eine Verletzung der Glaubensfreiheit als auch das Vorliegen eines wichtigen Grundes für ein Befreiung verneint. Die Klage der Eltern hatte keinen Erfolg.

Uhle NVwZ 2014, 541 und Muckel JA 2014, 232, 234 behandeln beide Urteile; Hufen JuS 2014, 379 und Kingreen JURA-Kartei 4/14 GG Art. 4 I/39 besprechen den Fall Burkini.

Ähnliche Probleme ergeben sich in den Fällen, in denen Eltern aus religiösen Gründen die Schulpflicht ablehnen und statt dessen „homeschooling“ betreiben (dazu BVerfG NVwZ 2003, 113), und in denen muslimische Metzger tierschutzwidrig durch Schächten schlachten (dazu BVerfGE 104, 337 und DÖV 2003, 147).


Zusammenfassung