Bearbeiter: Prof. Dieter Schmalz

Verfassungsbeschwerde gegen die Auferlegung einer Geldleistungspflicht (Kanalanschlussbeitrag), Art. 2 I GG. Rückwirkung von Gesetzen; echte und unechte Rückwirkung; Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 III GG) und Vertrauensschutz. Verfassungswidrige Anwendung eines Gesetzes

BVerfG
Beschluss vom 12. 11. 2015 (1 BvR 2961/14 und 3051/14) NVwZ 2016, 301

Fall (Beitragsbescheid nach langer Zeit)

§ 8 Kommunalabgabengesetz (KAG) des Landes L aus dem Jahre 1991 regelt die Erhebung von Beiträgen für leitungsgebundene Anlagen, die der Wasserversorgung oder der Abwasserentsorgung dienen. Zahlungspflichtig sind die Grundstückseigentümer. Nach § 8 Abs. 7 KAG (alter Fassung = aF) entsteht die Beitragspflicht, wenn ein Grundstück an die Anlage angeschlossen werden kann und eine Satzung die Beitragspflicht begründet.

Frau B ist Eigentümerin eines Grundstücks in der im Lande L gelegenen Gemeinde G. Das Grundstück wurde im Jahre 1990 an die gemeindliche Kanalisation angeschlossen. Eine Heranziehung zu einem Beitrag erfolgte nicht, weil die Gemeinde noch keine Satzung erlassen hatte. 1993 beschloss die Gemeinde G eine Kanalanschlussbeitragssatzung. Nachdem G eine Reihe von Beitragsbescheiden erlassen hatte - allerdings noch nicht gegenüber B - , stellte sich heraus, dass die Satzung nicht rechtswirksam war.

Das KAG des Landes L verweist auf Vorschriften der Abgabenordnung (AO), u. a. auf §§ 47, 169, 170 AO, wonach die Abgabenpflicht erlischt, wenn eine Festsetzungsverjährung eingetreten ist. Die Frist dafür beträgt vier Jahre und beginnt mit dem Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Abgabenpflicht entstanden ist. Das Oberverwaltungsgericht des Landes L ging in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass bei § 8 Abs. 7 KAG (aF) die Festsetzungsverjährung bereits mit dem formellen Erlass einer Satzung beginnt und die Satzung nicht rechtswirksam zu sein braucht. Da in mehreren Gemeinden des Landes die erlassenen Satzungen nicht rechtswirksam waren, befürchteten Regierung und Gesetzgeber des Landes, dass es nicht allen Gemeinden innerhalb von vier Jahren gelingen würde, wirksame Satzungen und Beitragsbescheide zu erlassen, und dass es deshalb zu hohen Einnahmeverlusten kommt. Deshalb wurde im Jahre 2004 § 8 Abs. 7 KAG „zum Zwecke der Klarstellung“ dahin abgeändert, dass die Beitragspflicht erst mit Inkrafttreten einer „rechtswirksamen“ Satzung entsteht (§ 8 Abs. 7 KAG nF).

Im Jahre 2009 erließ die Gemeinde G eine rechtswirksame Kanalanschlussbeitragssatzung (KAB-S). Auf ihrer Grundlage zog sie Frau B mit Bescheid vom 29. 11. 2011 zu einem Kanalanschlussbeitrag in Höhe von 2.520 Euro heran. B macht geltend, nach so langer Zeit sei das Recht zur Erhebung eines Beitrags verwirkt. Weder sie noch die anderen Grundstückseigentümer hätten damit gerechnet, noch mit einem solchen Betrag belastet zu werden. Die von B mit einer Anfechtungsklage angerufenen Verwaltungsgerichte (VG, OVG, BVerwG) hielten die Neufassung des § 8 Abs. 7 KAG für rechtswirksam und anwendbar und den Bescheid für rechtmäßig, so dass die Klage abgewiesen wurde. B bittet um ein Rechtsgutachten zu der Frage, ob eine Verfassungsbeschwerde Aussicht auf Erfolg hat.

A. Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde

I. Die VfB muss sich gegen einen Hoheitsakt richten (§ 90 I BVerfGG). Im vorliegenden Fall sind folgende Hoheitsakte ergangen: § 8 Abs. 7 KAG nF; die KAB-S; der Bescheid vom 29. 11. 2011 und die Urteile des VG, des OVG und des BVerwG.

1. Das KAG ist ein Gesetz, das nach § 93 III BVerfGG nur innerhalb eines Jahres angegriffen werden kann. Diese Frist ist abgelaufen. Bei der KAB-S kann offen bleiben, welche Frist gilt. Denn die Monatsfrist des § 93 I 1 BVerfGG ist ebenso abgelaufen wie die Jahresfrist des § 93 III BVerfGG.

2. Es bleiben der Bescheid vom 29. 11. 2011 und die drei VG-Urteile.

a) Nach der Systematik des § 90 BVerfGG liegt am nächsten, den Bescheid vom 29. 11. als Hoheitsakt i. S. des § 90 I BVerfGG und die Urteile der VGe als Ausschöpfen des Rechtsweges i. S. des § 90 II 1 BVerfGG anzusehen.

b) Allerdings ergibt sich die auf ihre Vereinbarkeit mit den Grundrechten zu prüfende Begründung für die Belastung der B aus den VG-Urteilen, letztlich aus dem Urteil des BVerwG. Das spricht dafür, auch die Urteile als Hoheitsakte in die VfB einzubeziehen, so dass es sich um eine Urteilsverfassungsbeschwerde handelt.

c) Das BVerfG hat in der Sache 1 BvR 2961/14 (nur) die Urteile der VGe, in der Sache 3051/14 die Urteile der VGe und den Bescheid als Gegenstände der VfB aufgeführt. Hier wird der letzteren Verfahrensweise gefolgt, indem als Hoheitsakte die Auferlegung des Beitrags durch den Bescheid vom 29. 11. sowie dessen Bestätigung durch die Urteile der VGe zugrunde gelegt werden. Der Sache nach handelt es sich aber nur um einen Eingriff - einen Hoheitsakt -, der einheitlich geprüft wird.

II. Der Beschwerdeführer muss geltend machen, in einem Grundrecht verletzt zu sein (§ 90 I BVerfGG). Dadurch, dass B zur Zahlung von 2.520 Euro verpflichtet wird, kann sie zumindest in ihrem Grundrecht auf allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 I GG) verletzt sein. B kann also geltend machen, in einem Grundrecht verletzt zu sein.

III. B hat, wie in § 90 II 1 BVerfGG vorgeschrieben, den (Verwaltungs-) Rechtsweg ausgeschöpft.

IV: Die VfB kann formgerecht (§ 23 BVerfGG) erhoben und begründet werden (§ 92 BVerfGG). Die Monatsfrist (§ 93 BVerfGG), die mit der Zustellung des letztinstanzlichen Urteils des BVerwG begonnen hat, kann eingehalten werden. Die VfB ist zulässig.

B. Die VfB ist begründet, wenn B durch die Auferlegung der Beitragspflicht in einem Grundrecht verletzt ist.

I. B könnte in ihrem Grundrecht auf Schutz des Eigentums (Art. 14 I GG) verletzt sein. Dann müsste die Auferlegung einer Beitragspflicht einen Eingriff in den Schutzbereich dieses Grundrechts enthalten.

1. Der Schutzbereich des Art. 14 I GG wird durch den Begriff des Eigentums bezeichnet. Dieser ist weit zu fassen und umfasst über das Eigentum des BGB hinaus jedes vermögenswerte Privatrecht sowie vermögenswerte öffentlich-rechtliche Positionen, wenn sie eigentumsgleich sind. Er erfasst jedoch nicht bloße Vermögenswerte. Das Vermögen als solches wird nicht als Eigentum geschützt. Die Auferlegung einer Geldzahlungspflicht mindert das Vermögen. Sie wirkt sich nicht auf bestimmte Rechte aus. Dem als Gläubiger des Anspruchs auf eine Geldleistung auftretenden Staat geht es nicht darum, bestimmte Vermögensgegenstände, etwa Geldscheine, zu erhalten, sondern er zielt auf die Übertragung eines Vermögenswerts. Die Auferlegung einer Abgabe greift somit grundsätzlich nicht in den Schutzbereich des Art. 14 I GG ein ( BVerfGE 93, 319, 338; 95, 267, 300 ).

2. Ausnahmen bestehen in zwei Fällen.

a) Nach BVerfGE 115, 97, 111 greift eine Abgabe in das Eigentum ein, wenn sie daran anknüpft, dass jemand einen bestimmten Eigentumsgegenstand erworben hat, und diesen Erwerb belastet (was z. B. bei der Einkommen- und der Gewerbesteuer der Fall sein kann). Der Kanalanschlussbeitrag hat zwar Eigentum am angeschlossenen Grundstück zur Voraussetzung, belastet aber nicht den Erwerb des Grundstücks. Er knüpft nicht an den Erwerb des Grundstücks an, sondern ist ein Ausgleich für den durch den Anschluss an das Kanalnetz gewährten Nutzungsvorteil.

b) Ferner schützt Art. 14 I GG ausnahmsweise gegen die Auferlegung einer Geldleistungspflicht, wenn diese den Betroffenen übermäßig belastet und seine Vermögensverhältnisse so grundlegend beeinträchtigt, dass ihr eine erdrosselnde Wirkungzukommt (Anwendungsfall: BVerwG NVwZ 2015, 992, Kampfhundesteuer; vgl. auch BVerwG NVwZ 2016, 529). Ein Kanalanschlussbeitrag in Höhe von 2.520 Euro hat keine erdrosselnde Wirkung.

Der Beitragsbescheid greift nicht in den Schutzbereich des Eigentumsgrundrechts ein. (Das BVerfG hat Art. 14 GG nicht angesprochen.)

II. Der Beitragsbescheid könnte das Grundrecht des Art. 2 I GG der B verletzen. Dann müsste ein Eingriff in den Schutzbereich erfolgt sein.

1. Art. 2 I GG schützt – neben dem Persönlichkeitsrecht und dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung – die allgemeine Handlungsfreiheit. Danach kann grundsätzlich „jeder tun und lassen was er will“ (vgl. BVerfGE 6, 32, 36). Diese Freiheit umfasst auch die Entscheidung über die Verwendung des eigenen Geldes und Vermögens. Geld und Vermögen einer Person fallen somit unter den Schutzbereich des Art. 2 I GG.

2. Die Auferlegung einer Beitragspflicht bedeutet einen Eingriff in die Freiheit der Verwendung des eigenen Geldvermögens und damit einen Eingriff in den Schutzbereich des Art. 2 I GG.

III. Der Eingriff könnte gerechtfertigt sein.

1. Rechtfertigungsgrundlage ist der in Art. 2 I GG enthaltene Vorbehalt zugunsten der verfassungsmäßigen Ordnung. Entsprechend der weiten Fassung des Schutzbereichs wird auch dieser Vorbehalt weit ausgelegt und umfasst die gesamte verfassungsmäßige Rechtsordnung, d. h. sämtliche formell und materiell verfassungsmäßigen Rechtsnormen. BVerfG NJW 2006, 1339: Abgesehen von einem absolut geschützten Kernbereich der privaten Lebensgestaltung ist die allgemeine Handlungsfreiheit nur in den Schranken des zweiten Halbsatzes des Art. 2 I GG gewährleistet und steht damit unter dem Vorbehalt der verfassungsmäßigen (Rechts-)Ordnung (vgl. BVerfGE 6, 32, 37 f.; 74, 129, 152; 80, 137, 153).

2. Als eine die Auferlegung der Beitragspflicht rechtfertigende Rechtsnorm kommt die KAB-S der Gemeinde G aus dem Jahre 2009 in Betracht.

a) Laut Feststellung im Sachverhalt ist diese Satzung rechtmäßig und rechtswirksam. Als untergesetzliche Rechtsnormen bedürfen Satzungen einer Ermächtigungsgrundlage - ebenso wie Rechtsverordnungen (vgl. Art. 80 GG) -. Ermächtigungsgrundlage für die KAB-S ist § 8 KAG, wonach die Gemeinde Beiträge für leitungsgebundene Anlagen, die der Abwasserentsorgung dienen, erheben und dafür die erforderliche Satzung erlassen darf.

b) Die Satzung (KAB-S) wird durch den Erlass eines Beitragsbescheids vollzogen, wobei der Bescheid mit den Bestimmungen der Satzung in Einklang stehen muss. Nach § 8 VII KAB-S ist Voraussetzung für die Erhebung eines Beitrags, dass - neben dem Erlass der Satzung - das Grundstück an die Anlage angeschlossen werden kann. Diese Voraussetzung ist im Fall der B dadurch erfüllt, dass das Grundstück angeschlossen worden ist. Ferner muss die Höhe des verlangten Beitrags den Anforderungen der Satzung und des KAG entsprechen. Davon kann, da B dagegen keine Einwendungen erhoben hat, ausgegangen werden. Im Übrigen prüft das BVerfG in einer VfB, der Urteile der Fachgerichte vorausgegangen sind, d. h. in einer Urteilsverfassungsbeschwerde, die Begründungen der Urteile nur auf spezifische Verfassungsverletzungen hin (dazu BVerfG NJW 2016, 1081), wozu die richtige Berechnung eines Beitrags nicht gehört.

Die nach KAG und KAB-S erforderlichen Voraussetzungen für die Entstehung des Beitrags sind somit erfüllt, so dass der Eingriff in die Handlungsfreiheit gerechtfertigt sein könnte.

IV. Einer Rechtfertigung würde aber entgegen stehen, wenn im Falle der B ein Beitrag wegen Festsetzungsverjährung nicht mehr erhoben werden dürfte. Maßgebliche Vorschriften sind §§ 47, 169, 170 AO und § 8 VII KAG. Danach erlischt eine Abgabenpflicht, wenn eine Festsetzungsverjährung eingetreten ist, wobei die Frist dafür vier Jahre beträgt und mit dem Ablauf des Kalenderjahres beginnt, in dem die Abgabe entstanden ist.

1. Der Zeitpunkt der Entstehung des Beitragsanspruchs richtete sich nach § 8 VII KAG nF. Diese Vorschrift galt seit 2004, hatte § 8 VII KAG aF aufgehoben und war folglich im Zeitpunkt des Erlass des Bescheids am 29. 11. 2011 die maßgebliche Norm. Nach § 8 VII KAG nF ist der Anspruch erst mit Ablauf des Jahres 2009, in dem die rechtswirksame Satzung (KAB-S) erlassen wurde, entstanden. Die damit ausgelöste Vier-Jahres-Frist war bei Erlass des Beitragsbescheids im Jahre 2011 noch nicht abgelaufen. Das entspricht nicht nur dem Wortlaut des § 8 VII KAG nF, sondern war auch Sinn der Neufassung des § 8 VII KAG, wonach Festsetzungsverjährungen durch bereits abgelaufene Fristen und die damit verbundenen Einnahmeausfälle der Kommunen verhindert werden sollten. Folglich war in Anwendung des § 8 VII KAG nF eine Festsetzungsverjährung im November 2011 nicht eingetreten.

2. Jedoch könnte eine Anwendung des § 8 VII KAG nF auf Fälle wie die der B eine rechtsstaatswidrige Rückwirkung enthalten und verfassungswidrig sein (was das BVerfG im hier gegebenen Fall einer UrteilsVfB als spezifische Verfassungsverletzung zu prüfen hat).

(Dagegen scheidet die - von B angesprochene - Verwirkung aus. BVerfGE 133, 143 [ 48]

Der Beitragspflicht können die Bürgerinnen und Bürger im Regelfall nicht durch den Einwand der Verwirkung entgehen. Nach der st. Rspr. des BVerwG (…) und des BFH (…) erfordert Verwirkung nicht nur, dass seit der Möglichkeit der Geltendmachung eines Rechts längere Zeit verstrichen ist. Es müssen auch besondere Umstände hinzutreten, welche die verspätete Geltendmachung als treuwidrig erscheinen lassen. Diese Voraussetzung dürfte selbst in den Fällen der Beitragserhebung nach scheinbarem Ablauf der Festsetzungsfrist regelmäßig nicht erfüllt sein.)

Im Fall einer rechtsstaatswidrigen Rückwirkung des § 8 VII KAG nF könnte auf den Fall der B statt der Neufassung des § 8 VII KAG die Vorschrift in der alten Fassung und der Auslegung des OVG des Landes L zur Anwendung kommen, so dass die Verjährungsfrist bereits im Jahre 1993 begonnen hätte und 1997 abgelaufen wäre.

a) Ob die vom Gesetzgeber durch Neufassung des § 8 VII KAG (nF) vorgeschriebene Anwendung dieser Vorschrift statt des § 8 VII aF eine unzulässige Rückwirkung enthält, ist eine Frage der Rückwirkung von Gesetzen. Ihre Zulässigkeit beurteilt das BVerfG nach dem Rechtsstaatsprinzip und dem darin enthaltenen Gebot zum Vertrauensschutz. Aus Anlass dieses Falles fasst das BVerfG in der hier behandelten Entscheidung unter [40-42] seine Rechtsprechung wie folgt zusammen:

(1) Das BVerfG unterscheidet bei rückwirkenden Gesetzen in ständiger Rechtsprechung zwischen Gesetzen mit echter Rückwirkung, die grundsätzlich nicht mit der Verfassung vereinbar sind (vgl. BVerfGE 45, 142,167 f;…135, 1, 13; jeweils m. w. N.), und solchen mit unechter Rückwirkung, die grundsätzlich zulässig sind (vgl. BVerfGE 132, 302, 318; 135, 1, 13).

(2) Eine Rechtsnorm entfaltet echte Rückwirkung, wenn sie nachträglich in einen abgeschlossenen Sachverhalt ändernd eingreift (BVerfGE 132, 302, 318; 135, 1, 13…). Dies ist insbesondere der Fall, wenn ihre Rechtsfolge mit belastender Wirkung schon vor dem Zeitpunkt ihrer Verkündung für bereits abgeschlossene Tatbestände gelten soll („Rückbewirkung von Rechtsfolgen“; BVerfGE 132, 302, 318; 135, 1, 13).

(3) Eine unechte Rückwirkung liegt vor, wenn eine Norm auf gegenwärtige, noch nicht abgeschlossene Sachverhalte und Rechtsbeziehungen für die Zukunft einwirkt und damit zugleich die betroffene Rechtsposition entwertet (BVerfGE 101, 239, 263; 123, 186, 257; 132, 302, 318), so wenn belastende Rechtsfolgen einer Norm erst nach ihrer Verkündung eintreten, tatbestandlich aber von einem bereits ins Werk gesetzten Sachverhalt ausgelöst werden („tatbestandliche Rückanknüpfung“; BVerfGE 132, 302, 318).

(4) Von der grundsätzlichen Unzulässigkeit der Gesetze mit echter Rückwirkung gibt es Ausnahmen, die noch unter c).behandelt werden.

(5) Umgekehrt kann auch eine unechte Rückwirkung unzulässig sein; dazu noch 3.

b) Im vorliegenden Fall könnte eine echte Rückwirkung darin liegen, dass eine Festsetzungsverjährung eingetreten war und diese nachträglich rückgängig gemacht wurde.

aa) Im Jahre 1993 galt § 8 VII KAG aF. Dabei war offen, ob die für den Fristbeginn erforderliche Satzung rechtswirksam sein musste. Argument für die Rechtswirksamkeit als Voraussetzung für den Fristbeginn war, dass nur ein entstandener Anspruch verjähren kann und dass für die Entstehung des Anspruchs auf eine Beitragszahlung eine rechtswirksame Satzung vorliegen muss. Gegen diese Interpretation spricht aber, dass meist ungewiss sein wird, ob eine Satzung rechtmäßig und rechtswirksam ist, so dass Rechtsunsicherheit im Hinblick auf den Verjährungsbeginn und die Verjährung droht. Möglicherweise besteht eine solche Rechtsunsicherheit über so lange Zeit, dass der Zweck der Verjährungsregelung, mit der Frist von vier Jahren eine baldige Klärung herbei zu führen, unterlaufen würde.

Die somit offene Frage musste von den Gerichten entschieden werden, wobei dem OVG des Landes L, da es um die Auslegung von Landesrecht ging, die letztverbindliche Entscheidung oblag. Diese Entscheidung hatte es laut Sachverhalt in seiner früheren Rechtsprechung in dem Sinne getroffen, dass der bloß formelle Erlass der Satzung genügen sollte. Das BVerfG legt diese Rechtsprechung als verbindlich zugrunde, [45] Nach § 8 Abs. 7 KAG aF in seiner Auslegung durch das OVG war für den Zeitpunkt der Entstehung der sachlichen Beitragspflicht der Zeitpunkt der ersten Beitragssatzung mit formellem Geltungsanspruch maßgeblich (…). Somit begann im Falle der B die Vier-Jahres-Frist für die Festsetzungsverjährung mit Erlass der Satzung im Jahre 1993 zu laufen und war Ende 1997 abgelaufen. In diesem Zeitpunkt war von die Festsetzungsverjährung eingetreten. Es handelte sich um einen abgeschlossen geregelten Sachverhalt.

bb) In diesen Sachverhalt müsste nachträglich ändernd eingegriffen worden sein. Ein Änderung liegt in der Neufassung des § 8 VII KAG im Jahre 2004. Dass diese Rückwirkung haben sollte, war zwar nicht ausdrücklich bestimmt. Sie wurde aber auch nicht - etwa durch eine Übergangsregelung - ausgeschlossen. Durch die Bezeichnung der Änderung als bloße Klarstellung hat der Gesetzgeber zum Ausdruck gebracht, dass die geänderte Rechtslage bereits seit Inkrafttreten des KAG im Jahre 1991 gelten sollte. In diesem Sinne haben auch die VGe im Klageverfahren des B die Änderung verstanden und folglich § 8 VII KAG nF auf den Fall der B angewendet. Dadurch wurde die Rechtslage im Fall der B, in dem Festsetzungsverjährung eingetreten war, nachträglich dahin geändert, dass die Frist für die Festsetzungsverjährung neu zu laufen begann. Das 1997 eingetretene Erlöschen der Befugnis zur Beitragserhebung wurde durch die „Rückbewirkung der Rechtsfolge“, den Beitrag doch noch erheben zu dürfen, rückgängig gemacht. Darin liegt eine echte Rückwirkung.

Nach BVerfG [52] bedeutet die Anwendung der Vorschrift des § 8 Abs. 7 KAG nF in den Fällen der Bf. eine echte Rückwirkung … Ein nachträglicher Eingriff in einen abgeschlossenen Sachverhalt liegt vor, weil eine Veranlagung der Grundstücke der Bf. zu einem Herstellungsbeitrag rechtlich nicht mehr möglich gewesen wäre, wenn es bei der seinerzeitigen Gesetzeslage geblieben wäre. Die sachliche Beitragspflicht konnte für diese Grundstücke nach § 8 Abs. 7 KAG aF nicht mehr wirksam entstehen. Wäre eine auf den 30. Juni 1993 - den Tag des Inkrafttretens der ersten unwirksamen Satzung - rückwirkende wirksame Beitragssatzung beschlossen worden, wäre die vierjährige Festsetzungsfrist gemäß § 12 Abs. 1 Nr. 4 Buchstabe b KAG in Verbindung mit § 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2, § 170 Abs. 1 AO in Lauf gesetzt worden und Festsetzungsverjährung mit Ablauf des 31. Dezember 1997 eingetreten. Die Forderungen wären dann in der „juristischen Sekunde“ ihres Entstehens erloschen. § 8 Abs. 7 KAG nF eröffnete damit in Fällen, in denen Beiträge nach der alten Rechtslage nicht mehr erhoben werden konnten, erneut die Möglichkeit, die Beitragsschuldner zu Anschlussbeiträgen heranzuziehen.

[47-50] Anders als in der Begründung des Gesetzentwurfs angenommen (…), ist § 8 Abs. 7 KAG nF nicht als „Klarstellung“, sondern als konstitutive Änderung der alten Rechtslage zu behandeln… Für die Beantwortung der Frage, ob eine rückwirkende Regelung aus verfassungsrechtlicher Sicht als konstitutiv zu behandeln ist, genügt die Feststellung, dass die geänderte Norm in ihrer ursprünglichen Fassung von den Gerichten in einem Sinn ausgelegt werden konnte und ausgelegt worden ist, der mit der Neuregelung ausgeschlossen werden soll (…). Ausgehend von diesen Grundsätzen erweist sich die rückwirkende „Klarstellung“ durch § 8 Abs. 7 KAG nF als konstitutiv. Nach dem früheren Urteil des OVG…war § 8 Abs. 7 KAG aF so auszulegen, dass es für den Zeitpunkt des Entstehens der sachlichen Beitragspflicht und damit auch für den Zeitpunkt des Verjährungsbeginns lediglich auf das formelle Inkrafttreten der ersten unwirksamen Beitragssatzung, nicht aber auf das Inkrafttreten einer wirksamen Satzung ankam. Diese Auslegungsmöglichkeit sollte mit der Neuregelung gerade ausgeschlossen werden.

Folglich enthält die Anwendung des § 8 VII KAG nF in Fällen wie denen der B eine echte Rückwirkung. Sie verstößt grundsätzlich gegen das Rechtsstaatsprinzip und ist verfassungswidrig.

c) Anders liegt es, wenn eine Ausnahme von dieser grundsätzlichen Beurteilung eingreift.

aa) Allgemein dazu BVerfG [55] Das Rückwirkungsverbot findet im Grundsatz des Vertrauensschutzes nicht nur seinen Grund, sondern auch seine Grenze (…). Es gilt nicht, soweit sich kein Vertrauen auf den Bestand des geltenden Rechts bilden konnte (…) oder ein Vertrauen auf eine bestimmte Rechtslage sachlich nicht gerechtfertigt und daher nicht schutzwürdig war (…).

bb) bb) Konkretisiert wird das durch fünf Fallgruppen, die das BVerfG nachfolgend aufführt (mit umfangreichen Nachw. - Die Nummerierung der Fallgruppen wurde vom Bearbeiter des Falles zum Zwecke besserer Übersichtlichkeit eingefügt): [56] Eine (1.) Ausnahme vom Grundsatz derUnzulässigkeit echter Rückwirkungen ist gegeben, wenn die Betroffenen schon im Zeitpunkt, auf den die Rückwirkung bezogen wird, nicht auf den Fortbestand einer gesetzlichen Regelung vertrauen durften, sondern mit deren Änderung rechnen mussten (…). Vertrauensschutz kommt insbesondere dann nicht in Betracht, wenn die Rechtslage so unklar und verworren war, dass eine Klärung erwartet werden musste (…[Beispiel hierfür bei Omlar NJW 2016, 1266/7]), oder (2.) wenn das bisherige Recht in einem Maße systemwidrig und unbillig war, dass ernsthafte Zweifel an seiner Verfassungsmäßigkeit bestanden (…). Der Vertrauensschutz muss ferner zurücktreten, (3.) wenn überragende Belange des Gemeinwohls, die dem Prinzip der Rechtssicherheit vorgehen, eine rückwirkende Beseitigung erfordern (…), (4.) wenn der Bürger sich nicht auf den durch eine ungültige Norm erzeugten Rechtsschein verlassen durfte (…), oder (5.) wenn durch die sachlich begründete rückwirkende Gesetzesänderung kein oder nur ganz unerheblicher Schaden verursacht wird (sog. Bagatellvorbehalt, …).

cc) Im vorliegenden Fall prüft das BVerfG die Fallgruppe (1.). [57-60] Von den in der Rechtsprechung anerkannten Fallgruppen zulässigerweise echt rückwirkender Gesetze kommt hier nur diejenige der Vorhersehbarkeit einer Neuregelung wegen Unklarheit und Verworrenheit der ursprünglichen Gesetzeslage in Betracht. Diese vermag die Rückwirkung des § 8 Abs. 7 KAG nF in den vorliegenden Fällen aber nicht zu rechtfertigen.

Die Betroffenen mussten vorliegend nicht mit einer Rechtsänderung rechnen. Das OVG [in seiner früheren Rechtsprechung]…hatte sich eindeutig dafür entschieden, in dem Konflikt zwischen den finanziellen Interessen der Gemeinden und Zweckverbände einerseits und den Interessen der Bürger andererseits letzteren den Vorrang zu geben. Es wollte ausdrücklich einer „erheblichen Rechtsunsicherheit hinsichtlich des Zeitpunkts des Entstehens und der Verjährung von Beitragsforderungen“ entgegenwirken“ (…). Das OVG …schloss sich damit der Rechtsprechung des OVG Münster an, das zur Parallelbestimmung des nordrhein-westfälischen Kommunalabgabengesetzes…bereits mit Urteil NVwZ-RR 2000, 535 ff.) die Auslegung vertreten hatte, dass es für den Zeitpunkt des Entstehens der sachlichen Beitragspflicht maßgeblich auf das erste „Inkraftsetzen“ einer vermeintlich gültigen Satzung ankomme… Angesichts des klärenden Urteils des OVG und der nachfolgenden Rechtsprechung (…) sprach bis zur Neuregelung nichts dafür, dass der Gesetzgeber die Vorschrift des § 8 Abs. 7 KAG aF rückwirkend abändern würde. Im Übrigen rechtfertigt allein die Auslegungsbedürftigkeit einer Norm nicht deren rückwirkende Änderung. Erst wenn Auslegungszweifel ein Maß erreichen, das zur Verworrenheit der Rechtslage führt, darf der Gesetzgeber eine klärende Neuregelung auf die Vergangenheit erstrecken (vgl. BVerfGE 135, 1, 23). Eine solche Unklarheit und Verworrenheit der ursprünglichen Gesetzeslage war hier nicht gegeben. Die Vorschrift des § 8 Abs. 7 KAG aF war hinsichtlich ihres Verständnisses nach Wortlaut und Regelungsgehalt nicht fragwürdig oder gar unverständlich, sondern klar formuliert. Ihre Auslegungsbedürftigkeit im Hinblick auf die Voraussetzungen für das Entstehen der Beitragspflicht hat zwar zu divergierenden Standpunkten geführt. Eine „Klarstellung“ durch ein echt rückwirkendes Gesetz rechtfertigt dies indes nicht (vgl. BVerfGE 135, 1, 25).

d) Folglich bleibt es bei der Unzulässigkeit der echten Rückwirkung. Allerdings bedeutet das weder die Nichtigkeit des § 8 VII KAG nF noch dessen vollständige Unvereinbarkeit mit der Verfassung (zur Unvereinbarkeitserklärung BVerfGE 133, 143 [49 ff.]). Vielmehr behält die Vorschrift ihre Bedeutung für die Zukunft. Das BVerfG hat davon abgesehen, von § 95 III 2 BVerfGG Gebrauch zu machen und das Gesetz für nichtig (oder für unvereinbar) zu erklären. Es hat die Anwendung des § 8 VII KAG nF auf den Fall der B beanstandet (vgl. die Zitatstelle oben B IV 2 b bb [52]), praktisch also eine verfassungskonforme, einschränkende Auslegung der Vorschrift vorgenommen, und die angegriffenen Hoheitsakte, weil sie mit dieser Auslegung nicht in Einklang standen, aufgehoben.

3. Neben der primären Lösung über eine echte Rückwirkung hat BVerfG [65-69] zusätzlich dargelegt, dass auch bei Annahme einer unechten Rückwirkung, von der die VGe in ihren vorangegangenen Urteilen ausgegangen waren, § 8 VII KAG nF nicht auf Fälle wie die der B hätte angewendet werden dürfen, weil auch eine unechte Rückwirkung hier nicht zulässig wäre.

a) Bei der im Falle einer unechten Rückwirkung gebotenen Gesamtabwägung zwischen dem Gewicht des enttäuschten Vertrauens einerseits und dem Gewicht und der Dringlichkeit der die Rechtsänderung rechtfertigenden Gründe andererseits (vgl. BVerfGE 127, 1,17 f.; 127, 31, 47 f.; 127, 61, 76 f.; 132, 302, 320) hat der Gesetzgeber dem verfassungsrechtlich gebotenen Vertrauensschutz der Bf. nicht in hinreichendem Maß Rechnung getragen. In den vorliegenden Fällen erwächst Vertrauen zwar nicht in erster Linie durch in besonderer Weise schützenswerte Dispositionen der Beitragsschuldner, sondern im Wesentlichen aus der Gewährleistungsfunktion des geltenden Rechts (vgl. BVerfGE 135, 1, 22; 127, 31, 57 f.)… Hierfür ist maßgeblich, dass die Forderung nicht mehr erhoben werden durfte. Hierauf müssen die Abgabepflichtigen vertrauen dürfen. Andernfalls wäre das Vertrauen in die Rechtssicherheit und Rechtsbeständigkeit der Rechtsordnung als Garanten einer freiheitlichen Wirtschaftsordnung ernsthaft gefährdet (…). Zwar genießt die bloß allgemeine Erwartung, das geltende Recht werde zukünftig unverändert fortbestehen…keinen besonderen verfassungsrechtlichen Schutz (…). Das diesen Grundsatz rechtfertigende Anliegen, die notwendige Flexibilität der Rechtsordnung zu wahren, zielt indes auf künftige Rechtsänderungen und relativiert nicht ohne Weiteres die Verlässlichkeit der Rechtsordnung für die Vergangenheit (vgl. BVerfGE 135, 1, 22).

b) Das allgemeine Ziel der Umgestaltung des Abgabenrechts sowie fiskalische Gründe - das öffentliche Interesse an der Refinanzierung der öffentlichen Abwasserbeseitigungsanlagen - rechtfertigen die rückwirkende Abgabenbelastung hier nicht… Zwar wurde durch die Herstellung der Abwasserbeseitigungsanlage der Wert der angeschlossenen Grundstücke dauerhaft erhöht. Die Bürger haben einen Sondervorteil empfangen, für den sie grundsätzlich die nach dem Gesetz entstandene Gegenleistung zu erbringen haben (…). Jedoch hatten die Gemeinden durchaus die Möglichkeit, Beitragsforderungen rechtzeitig geltend zu machen und so keine finanziellen Einbußen zu erleiden…

Darüber hinaus konnten die Gemeinden vor der Neuregelung des § 8 Abs. 7 KAG auch nicht davon ausgehen, dass ihnen nach dem Erlass der ersten Beitragssatzung mehr als die gesetzliche vierjährige Festsetzungsfrist bleiben würde, um Beitragsbescheide gegenüber den Beitragspflichtigen zu erlassen. Denn sie mussten bei pflichtgemäßem Verhalten wenigstens selbst von der Wirksamkeit der eigenen Beitragssatzung ausgehen. Sie hätten damit Anlass gehabt, die Beitragspflichtigen innerhalb von vier Jahren nach Ablauf des Jahres ihres ersten Satzungsbeschlusses zu veranlagen. Dass die Beklagte dies im vorliegenden Fall nicht rechtzeitig getan hat, fällt in ihren Verantwortungsbereich (…).

V. Folglich darf § 8 VII KAG nF auf den Fall der B nicht angewendet werden. Es bleibt beim Ablauf der Festsetzungsverjährung im Jahre 1997 (oben IV 2 b aa). Weitere Folge ist, dass der Eingriff in das Grundrecht der B aus Art. 2 I GG nicht gerechtfertigt ist. Vgl. den Tenor des Beschlusses des BVerfG: Die angegriffenen Hoheitsakte verletzen die Beschwerdeführer in ihrem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 1 GG in Verbindung mit dem verfassungsrechtlichen Grundsatz des Vertrauensschutzes (Artikel 20 Absatz 3 GG).

Somit ist die Fallfrage dahin zu beantworten, dass eine VfB Aussicht auf Erfolg hat und zu einer Aufhebung des Beitragsbescheids und der diesen bestätigenden VG-Urteile führen würde.


Zusammenfassung