Fortsetzungsfeststellungsklage, ursprüngliche, § 113 I 4 VwGO analog. Identitätsfeststellung durch Bundespolizei zur Gefahrenabwehr. Anscheinsgefahr und Gefahrenverdacht. Ermessen und Ermessensfehler, § 114 VwGO. Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Rasse bzw. der Hautfarbe, Art. 3 III 1 GG. Rechtfertigung einer Diskriminierung bei einer auf einem Motivbündel beruhenden Maßnahme. Immanente Schranke aufgrund eines kollidierenden Verfassungsguts

OVG Münster
Urteil vom 7. 8. 2018 (5 A 294/16) NVwZ 2018, 1497

Fall (Racial Profiling)

Der 38jährige K ist deutscher Staatsangehöriger und hat als Sohn eines afrikanischen Vaters eine dunkle Hautfarbe. Am späteren Abend des 12. 11. betrat er die Eingangshalle des Hauptbahnhofs der Großstadt S, um seine Lebensgefährtin, eine Rechtsanwältin, abzuholen. Die in der Halle dienstlich anwesenden Polizeibeamten P1 und P2 der Bundespolizei (künftig nur P) beobachteten, dass K sie offenbar gesehen hatte, sich eine Kapuze über den Kopf zog und hinter einen Aufzugsschacht trat. P begab sich zu K und verlangte von ihm seinen Ausweis. K verweigerte das zunächst mit der Begründung, er werde offenbar wegen seiner Hautfarbe kontrolliert und wolle sich eine solche rassistische Diskriminierung nicht gefallen lassen. Er habe sich nicht verstecken wollen, die Kapuze habe er übergestreift, weil er nasse Haare hatte. Es folgte eine Diskussion zwischen P, K und der Lebensgefährtin des K, die K damit beendete, dass er seinen Personalausweis vorlegte; danach beendete auch P den Einsatz gegenüber K.

Nachdem eine Dienstaufsichtsbeschwerde keinen Erfolg hatte, hat K Klage vor dem zuständigen Verwaltungsgericht erhoben und die Feststellung beantragt, dass die Identitätsfeststellung vom 12. 11. rechtswidrig war und ihn in seinem Recht auf Schutz vor Diskriminierung verletzt habe. In ihrer Klageerwiderung begründet die Bundespolizeibehörde B, für die P tätig war, das Einschreiten des P damit, dass es im Bahnhof S häufig zu Eigentumsdelikten komme und dass die Täter vielfach Männer aus Nordafrika, aber auch aus Schwarzafrika seien. Auch würden von diesem Täterkreis verstärkt Drogendelikte begangen. Diese auf Erfahrung beruhende Einschätzung sowie das auffällige Verhalten des K hätten P zu der Kontrolle bewogen. Schriftliche Lagebilder oder genauere Erkenntnisse über die Gefährdungslage am 12. 11. gebe es nicht. Inzwischen sei aber festgestellt worden, dass im November vermehrt Personen illegal über den Bahnhof S eingereist seien. Wie wird das Verwaltungsgericht entscheiden, wenn es zu dem Ergebnis kommt, dass die der Begründung für ein Einschreiten zugrunde gelegten Tatsachen zutreffend waren?

Lösung

Vorbemerkung: Der Originalfall ereignete sich im Bochumer Hauptbahnhof. - Das Urteil des OVG wird besprochen von Waldhoff JuS 2019, 95); Hebeler JA 2019, 237; Kerkemeyer NVwZ 2018, 1501. Der Fall wird als Aktenvortrag für Referendare bearbeitet von A. Müller JA 2019, 295. Einen ähnlichen Fall behandelte bereits OVG Koblenz NJW 2016, 2820.

A. Die Klage des k müsste zulässig sein.

I. Für die Eröffnung des Verwaltungsrechtswegs ist eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit erforderlich. Da K sich gegen eine Maßnahme der Bundespolizei wendet, sind streitentscheidend die öffentlich-rechtlichen Vorschriften des Gesetzes über die Bundespolizei (BPolG); speziell die Standardmaßnahme Identitätsfeststellung ist dort in § 23 geregelt. Somit ist die Streitigkeit öffentlich-rechtlich. Sie ist auch nichtverfassungsrechtlicher Art. Zwar ist für ihre Entscheidung auch das grundrechtlich in Art. 3 III 1 GG verankerte Diskriminierungsverbot relevant. An der Streitigkeit ist aber kein Verfassungsorgan beteiligt, so dass die für eine verfassungsrechtliche Streitigkeit erforderliche doppelte Verfassungsunmittelbarkeit nicht vorliegt. Auch eine abdrängende Zuweisung an die Strafgerichtsbarkeit nach §§ 23 I 1 („Strafrechtspflege“), 25 EGGVG greift nicht ein, weil P nicht zur Strafverfolgung, sondern zur Verhinderung von Straftaten und damit zur Gefahrenabwehr gehandelt hat. Folglich ist der Verwaltungsrechtsweg eröffnet.

II. Als Klageart könnte eine ursprüngliche Fortsetzungsfeststellungsklage analog § 113 I 4 VwGO statthaft sein. Während bei der in § 113 I 4 VwGO unmittelbar geregelten nachträglichen Fortsetzungsfeststellungsklage der VA sich nach Erhebung der Anfechtungsklage erledigt, ist auf den - weit häufigeren - Fall der Erledigung bereits vor Klageerhebung § 113 I 4 VwGO analog anwendbar (BVerwGE 87, 25; 129, 142; gute Übersicht zur Fortsetzungsfeststellungsklage bei Bühler/Brönnecke JA 2017, 34 ff., zur analogen Anwendung des § 113 I 4 auf S. 39/40).

1. Voraussetzung für eine Fortsetzungsfeststellungsklage ist, dass ursprünglich ein Verwaltungsakt (§ 35 VwVfG) ergangen ist. Das Verlangen des P, K solle seinen Ausweis vorlegen, enthielt ein Handlungsgebot gegenüber K und damit eine Regelung im Einzelfall (OVG Koblenz NJW 2016, 2820 Rdnr. 25). Für den Regelungscharakter spricht auch, dass die Vorlageaufforderung nach § 23 III BPolG durchgesetzt werden kann. Zwar haben nicht alle Standardmaßnahmen einen VA-Charakter. Die Identitätsfeststellung gehört aber - ebenso wie eine Vorladung, ein Platzverweis oder ein Aufenthaltsverbot - zu den Standardmaßnahmen mit Regelungselement (Poscher/Rusteberg JuS 2012, 27; Neumann JA 2013, 141: anordnende Standardmaßnahmen). Gegensatz sind die Standardmaßnahmen ohne Regelungselement, die lediglich als Realakt ergehen, wie z. B. eine Observation oder eine Ingewahrsamnahme von Demonstranten durch Einkesselung (Neumann JA 2013, 141; Poscher/Rusteberg JuS 2012, 27).

2. Nachdem K noch am 12. 11. den Ausweis vorgelegt hatte, war das Vorlagegebot des P erfüllt und hatte keine Rechtsfolge mehr; der VA hatte sich erledigt (vgl. § 43 II VwVfG: Erledigung „auf andere Weise“). OVG [22] Die Klage ist als Fortsetzungsfeststellungsklage analog § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO statthaft. Die Aufforderung an K, sich auszuweisen, stellte einen VA dar (vgl. nur Rachor, in: Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts, 5. Aufl. 2012, E, Rn. 48 f.; Pieroth/ Schlink/ Kniesel, POR, 9. Aufl. 2016, § 12, Rn. 11), der sich vor Klageerhebung durch die ohne Vollstreckungsmaßnahmen der B erfolgte Erfüllung der auferlegten Handlungspflicht durch K erledigt hat. Somit ist nur noch eine Klage auf Feststellung der Rechtswidrigkeit sinnvoll und die richtige Klageart.

III. Besondere Sachurteilsvoraussetzungen für eine Fortsetzungsfeststellungsklage bestehen in zweifacher Hinsicht.

1. Da die Fortsetzungsfeststellungsklage eine - wirklich oder gedanklich - umgewandelte Anfechtungsklage ist (vgl. die Stellung des § 113 I 4 innerhalb des die Anfechtungsklage regelnden § 113 I VwGO), müsste vor Erledigung eine Anfechtungsklage zulässig gewesen sein. Das war im Fall des K zu bejahen. Insbesondere stand K die Klagebefugnis (§ 42 II VwGO) zu, weil er geltend machen konnte, in seinem Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 I GG) und auf Schutz vor Diskriminierung (Art. 3 III 1 GG) verletzt zu sein.

2. Spezielle Zulässigkeitsvoraussetzung bei § 113 I 4 VwGO ist ein Feststellungsinteresse. Bei der ursprünglichen Fortsetzungsfeststellungsklage gibt es dazu drei Fallgruppen (vgl. Bühler/Brönnecke JA 2017, 38; Lindner NVwZ 2014, 180 ff.; Deiseroth DVBl 2013, 1548/9; Schübel-Pfister JuS 2013, 994).

a) Eine Wiederholungsgefahr für K kann zwar nicht ausgeschlossen werden. Sie müsste aber konkret sein, d. h. es müsste die Gefahr bestehen, dass K sich wiederum auf Bahnhofsgelände aufhält, ohne Reisender zu sein, und sich gegenüber Beamten der Bundespolizei verdächtig macht (vgl. BayVGH NJW 2017, 2779 LS 4; Müller JA 2019, 301). Eine dahingehende Feststellung ist nach dem Sachverhalt nicht hinreichend sicher möglich. Auch würde ein erfolgreiches Urteil den in solchem Fall handelnden Beamten wahrscheinlich nicht bekannt sein und deshalb eine Wiederholung nicht verhindern.

b) Ein Feststellungsinteresse besteht bei einem Grundrechtseingriff, der diskriminierend wirkt und ein Rehabilitationsinteresse auslöst. Ob bei K eine Diskriminierung vorliegt, ist das Hauptproblem des Falles und kann an dieser Stelle noch offen bleiben. Denn für ein Rehabilitationsinteresse wäre erforderlich, dass andere Personen von dem Vorgang Kenntnis genommen hätten (BayVGH NJW 2017, 2779 Rdnr. 4; Müller JA 2019, 301), was sich aus dem Sachverhalt nicht ergibt.
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c) Ein Feststellungsinteresse besteht bei einer sich kurzfristig erledigenden Maßnahme, gegenüber der der Betroffene typischerweise primären Rechtsschutz nicht erlangen kann (klassisches Beispiel ist ein kurz vorher verhängtes Versammlungsverbot). Teilweise wird zusätzlich ein „tiefgreifender Grundrechtseingriff“ verlangt (BayVGH NJW 2017, 2779 LS 2 und 3), wofür aber kein Grund besteht; in diesem Sinne Bühler/Brönnecke JA 2017, 38; BVerwGE 146, 303 und OVG Münster [23, 24] im vorliegenden Fall: K verfügt über das nach § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO erforderliche berechtigte Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit. Ein solches ist wegen Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG anzunehmen, wenn sich die angegriffene Maßnahme typischerweise so kurzfristig erledigt, dass sie ohne die Annahme eines Fortsetzungsfeststellungsinteresses regelmäßig keiner Überprüfung im gerichtlichen Verfahren zugänglich ist (vgl. BVerwGE 146, 303…). Dies ist bei der Identitätsfeststellung der Fall, da diese sich typischerweise kurzfristig dadurch erledigt, dass der Betroffene einer entsprechenden Aufforderung Folge leistet. (Diese Fallgruppe verwendet auch das BVerfG, um eine Verfassungsbeschwerde gegen einen erledigten Hoheitsakt für zulässig zu erklären, so BVerfG NJW 2018, 1667 [28], Stadionverbot; BVerfGE 81, 138, 140 f.; 110, 77, 92.)

IV. Für Klagen gegen Bundesbehörden ist weiterhin grundsätzlich ein Widerspruch nach § 68 VwGO erforderlich, nicht jedoch bei einem erledigten VA, weil ein Widerspruch einen fortbestehenden, nicht erledigten VA voraussetzt; einen Fortsetzungsfeststellungswiderpruch gibt es nicht. Eine Klagefrist läuft bei einer Fortsetzungsfeststellungsklage ebenfalls nicht (BVerwGE 109, 207). Weitere Zulässigkeitsvoraussetzungen, die problematisch sein könnten, sind nicht ersichtlich. Die Fortsetzungsfeststellungsklage ist daher zulässig. Klagegegner ist analog § 78 I Nr. 1 VwGO die Bundesrepublik Deutschland - der Bund - als Träger der Bundespolizei (§ 1 BPolG); im Originalfall wurde sie vertreten durch die Bundespolizeidirektion.

B. Für die Begründetheit der Klage ist wesentliche Voraussetzung, dass die durch den VA durchgeführte Ausweiskontrolle rechtswidrig war.

I. Es ist die anwendbare Ermächtigungsgrundlage zu bestimmen.

1. Nach § 22 I BPolG kann die Bundespolizei unter bestimmten Voraussetzungen Personen befragen; eine Befragung des K war aber nicht Zweck des Einschreitens.

2. Nach § 22 I a BPolG kann die Bundespolizei die Vorlage von Ausweispapieren verlangen „zur Verhinderung oder Unterbindung unerlaubter Einreise in das Bundesgebiet.“ Bei dem den Bahnhof von außen betretenden K bestand aber kein Anhaltspunkt für eine illegale Einreise (OVG [84]; zu § 22 I a BPolG OVG Koblenz NJW 2016, 2820; Liebscher NJW 2016, 2779; Klausur von Schneider/Olk Jura 2018, 936).

3. Nach § 23 I Nr. 4 BPolG ist eine Identitätsfeststellung zulässig, wenn eine Person sich in einer Anlage der Eisenbahnen des Bundes aufhält und Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass dort Straftaten begangen werden sollen, durch die in oder an diesen Objekten befindliche Personen oder diese Objekte selbst unmittelbar gefährdet sind. Jedoch dient diese Vorschrift speziell dem Objektschutz im Bahnhofsbereich und dem Schutz der Reisenden (OVG [82]). Diebstähle und Drogendelikte, deren Verhinderung vornehmlich das Einschreiten des P diente, sind keine Gefahren speziell für den Bahnhof und die Reisenden, sondern gehören zur allgemeinen Kriminalität. (Falls das - durchaus vertretbar - anders gesehen wird, sind auch bei Anwendung dieser Vorschrift die Erwägungen zum Ermessen anzustellen, die unten IV. im Zusammenhang mit § 23 I Nr. 1 BPolG angestellt werden; dazu OVG [56].)

4. Als Ermächtigung bleibt daher die allgemeine Vorschrift des § 23 I Nr. 1 BPolG, wonach eine Identitätsfeststellung zur Abwehr einer Gefahr erfolgen darf.

II. In formeller Hinsicht ist die Zuständigkeit der Bundespolizei (früher: Bundesgrenzschutz, der auch die Aufgabe der Bahnpolizei hatte) zu prüfen. Nach § 3 I BPolG erstreckt sich die Zuständigkeit der Bundespolizei darauf, auf dem Gebiet der Bahnanlagen der Eisenbahnen des Bundes Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung abzuwehren, die 1. den Benutzern, den Anlagen oder dem Betrieb der Bahn drohen oder 2. beim Betrieb der Bahn entstehen oder von den Bahnanlagen ausgehen. Zu den Bahnanlagen gehört auch die Eingangshalle des Bahnhofs (Hebeler JA 2019, 237). Die von P bekämpften Taschendiebstähle und Diebstähle von Reisegepäck sind Gefahren, die jedenfalls auch für die Reisenden bestehen. Ferner bedeutet es zumindest auch eine Störung der öffentlichen Ordnung, wenn sich auf Bahnhöfen Drogenszenen bilden. Ein Widerspruch zu den Ausführungen oben I 3 besteht nicht, weil es gerechtfertigt ist, die Zuständigkeitszuweisung des § 3 I BPolG weiter auszulegen als die spezielle Ermächtigung des § 23 I Nr. 4 BPolG. Da K auch gemäß § 28 VwVfG angehört worden ist, war die Ausweiskontrolle nicht formell fehlerhaft.

III. In materieller Hinsicht war das Vorgehen der P nur rechtmäßig, wenn die Voraussetzungen des § 23 I Nr. 1 BPolG erfüllt waren. Hierfür ist erforderlich, dass eine Gefahr (§ 14 II 1 BPolG) vorlag, die durch die Ausweiskontrolle abgewehrt werden sollte.

1. P hielt es aufgrund entsprechender Vorfälle in der Vergangenheit für möglich, dass am 12. 11. im Bahnhof Diebstähle oder Drogendelikte begangen wurden und K damit in Verbindung stand. Tatsächlich war das aber nicht der Fall war. Vielmehr steht aufgrund der Erkenntnisse nach Überprüfung des K, d. h. bei einer ex-post-Betrachtung, fest, dass K seine Lebensgefährtin abholen und keine Straftat begehen wollte. Ein konkrete Gefahr bestand somit nicht.

2. Liegt zwar aus ex-post-Sicht keine Gefahr vor, ist die (Polizei- oder Ordnungs-) Behörde aber bei ihrer damals allein möglichen ex-ante-Betrachtung von einer wirklichen oder möglichen Gefahr ausgegangen, kann das Handeln gleichwohl rechtmäßig sein.

a) Zur Rechtfertigung stehen zwei Fallgruppen zur Verfügung: Eine Anscheinsgefahr wird angenommen, wenn die für die Behörde handelnde Person nach einer - soweit möglich - sorgfältigen Prüfung (andernfalls nur Schein- oder Putativgefahr) zu dem Ergebnis gekommen war, dass eine Gefahr vorliegt. Als Beispiele - sie sind selten - werden angeführt: Die Polizei wird davon benachrichtigt, dass im Park einer Stadt ein junger Löwe frei herumläuft; später stellt sich heraus, dass das Tier einen Halter hat und vollständig zahm ist (OVG Hamburg NJW 1986, 2005; als Klausur in NWVBl 2008, 197); dass beim Blick durch das Fenster einer Erdgeschosswohnung eine auf dem Boden liegende, nackte und offenbar hilflose Frau zu sehen ist; es handelte sich aber um eine Sexpuppe. In diesen Fällen ist ein Einschreiten durch das Interesse an der Effektivität der Gefahrenabwehr gerechtfertigt (OVG Münster DVBl 2013, 931, JuS 2014, 383). Die Anscheinsgefahr wird der wirklichen Gefahr gleichgestellt (Pils DÖV 2008, 946, Klaß JA 2014, 275). Beim Gefahrenverdacht (Poscher/Rusteberg JuS 2011, 988; OVG Hamburg NVwZ-RR 2009, 880; Pils DÖV 2008, 947) ist möglich, dass eine Gefahr vorliegt, so dass Aufklärungsbedarf besteht. Spezialfall ist § 9 II BBodSchG. Im Übrigen ist auf die Vorschrift abzustellen, nach der eingeschritten werden kann, wenn sich der Verdacht bestätigt; also z. B. auf die polizei- oder ordnungsrechtliche Generalklausel oder auf eine Standardmaßnahme. Beim Gefahrenverdacht ist die Behörde zu Gefahrerforschungsmaßnahmen berechtigt; den (Verdachts-)Störer trifft grundsätzlich nur eine Duldungspflicht. Wird eine Anscheinsgefahr oder ein Gefahrenverdacht bejaht, muss auch beim Störer und bei der Verhältnismäßigkeit der Anschein bzw. der Verdacht zugrunde gelegt werden und ausreichen (Poscher/Rusteberg JuS 2011, 1084).

b) Im vorliegenden Fall handelte es sich um einen Gefahrenverdacht, der P zu einer weiteren Aufklärung zunächst durch die Ausweiskontrolle berechtigte.

aa) OVG [28-30] Für die Annahme einer Gefahr im Sinne des § 23 Abs. 1 Nr. 1 BPolG ist ein Gefahrenverdacht ausreichend. Er ist gegeben, wenn die Polizei aufgrund objektiver Umstände das Vorhandensein einer Gefahr für möglich hält, sich aber nicht sicher ist, ob diese vorliegt. Besteht ein solcher durch Tatsachen begründeter Verdacht, ist die Polizei berechtigt, die Maßnahmen zu treffen, die zur weiteren Erforschung und Aufklärung des Sachverhalts erforderlich sind (…Drews/ Malmberg/ Walter, BPolG, 2015, § 23 Rn. 15…). Es ist gerade kennzeichnend für die Identitätsfeststellung durch Befragung und Verlangen des Vorzeigens von Ausweispapieren (vgl. § 23 Abs. 3 BPolG), dass hierdurch nicht schon eine konkrete Gefahr abgewehrt wird, sondern vielmehr die weitere Gefahrenabwehr durch Aufklärung des Sachverhalts ermöglicht werden soll (vgl. Rachor, in: Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts, 5. Aufl. 2012, E, Rn. 327 f.).

bb) Im vorliegenden Fall konnten die handelnden Polizeibeamten einen entsprechenden Verdacht des Vorliegens einer Gefahr annehmen. Angesichts der erheblichen Anzahl von Straftaten im Hauptbahnhof reichte hierfür das von ihnen beobachtete auffällige Verhalten des K aus, das den Schluss zuließ, dass dieser jedenfalls möglicherweise versuchte, seiner Identifizierung durch die Polizeibeamten zu entgehen, indem er sich die Kapuze über den Kopf zog und sich den Blicken der Polizeibeamten durch ein Verweilen hinter dem Aufzugschacht entzog. Dies konnte bei den handelnden Polizeibeamten aus der maßgeblichen ex-ante-Sicht den Eindruck erwecken, dass K möglicherweise eine Straftat begehen oder verdecken wollte. Da das Verlangen nach der Vorlage eines Ausweises nur eine geringfügige Belastung bedeutet, genügt auch ein nur schwächerer Verdacht. OVG [27] Die Polizeibeamten handelten zur Abwehr einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung… Eine solche Gefahr lag in Form eines Gefahrenverdachts vor.

Die Voraussetzungen des § 23 I Nr. 1 BPolG liegen vor (Müller JA 2019, 302).

III. Die weiteren Anforderungen an ein polizeiliches Einschreiten sind erfüllt.

1. K war als Verursacher des Gefahrenverdachts nach § 17 BPolG Verhaltensstörer und damit der richtige Adressat der Maßnahme (OVG [33]).

2. Gegen die Verhältnismäßigkeit der Maßnahme (§ 15 BPolG) bestehen keine Bedenken. Die Ausweiskontrolle war als Einstieg in die Ermittlung, ob K sich gesetzwidrig verhalten hat, geeignet und war das mildeste Mittel und deshalb erforderlich. Da der Grundrechtseingriff nur eine geringe Intensität hatte (Kerkemeyer NVwZ 2018, 1502), fügte er K keinen schwerwiegenden und deshalb unangemessenen Nachteil zu (OVG [34]).

IV. Wegen des in § 23 I Nr. 1 BPolG enthaltenen Begriffs „kann“ (allgemeiner: § 16 I BPolG) stand die Ausweiskontrolle im Ermessen des P. Sie ist deshalb rechtswidrig, wenn ein Ermessensfehler (§ 114 VwGO) vorliegt. Ein Ermessensfehler könnte sich aus einem Verstoß gegen Art. 3 III 1 GG ergeben. Danach darf n iemand „wegen … seiner Rasse … benachteiligt werden“ (Diskriminierungsverbot).

Für den Einbau eines solchen Grundrechts in die Prüfung einer polizeilichen oder ordnungsrechtlichen Maßnahme gibt es verschiedene Möglichkeiten: Das Grundrecht kann als eigene Schranke verstanden werden (Obersatz: „Die Verfügung darf nicht gegen ein Grundrecht verstoßen“). Demgegenüber fügen OVG Münster [35]; OVG Koblenz NJW 2016, 2820 Rdnr. 103; Hebeler JA 2019, 237; Müller JA 2019, 302 Art. 3 III 1 GG in die Ermessensfehlerprüfung ein; dem wird hier gefolgt. Allerdings verzichtet das OVG Münster auf eine explizite Einordnung in die Kategorien Ermessensüberschreitung oder Ermessensfehlgebrauch (vgl. § 114 VwGO und § 40 VwVfG) und spricht nur von Ermessensfehler (ebenso OVG Koblenz NJW 2016, 2828; Waldhoff JuS 2019, 96; Müller JA 2019, 302). Es führt allerdings unter [37] aus, durch Art. 3 GG werde den „Handlungsräumen der Verwaltung feste Grenzen“ gesetzt, was für die Einordnung eines entsprechenden Fehlers als Ermessensüberschreitung spricht. Andererseits kommt es bei Art. 3 GG vielfach auf die Begründung an, so dass sich auch vertreten lässt, eine gegen Art. 3 GG verstoßende Begründung sei ein Ermessensfehlgebrauch. Eine größere Bedeutung hat diese Einordnungsfrage nicht, so dass sie hier offen bleiben kann. Folglich ist zu prüfen, ob ein Ermessensfehler vorliegt, weil Art. 3 III 1 GG verletzt wurde.

1. Wird eine Benachteiligung allein wegen der Hautfarbe der betroffenen Person vorgenommen, liegt darin eine Diskriminierung wegen der Rasse und somit eine Verletzung des Art. 3 III 1 GG (OVG [42]; Waldhoff JuS 2019, 95; Kerkemeyer NVwZ 2018, 1501). P hat die Ausweiskontrolle aber primär mit der Gefahr von Eigentums- und Drogendelikten begründet.

2. Die B-Behörde verweist darauf, dass es im Bahnhof S häufig zu Eigentumsdelikten komme, und fügt hinzu, dass die Täter auch Männer aus Schwarzafrika seien. Auch bei den Drogendelikten verweist sie auf diesen Täterkreis. Da K eine dunkle Hautfarbe hat, kann das nur bedeuten, dass P den K auch wegen seiner Hautfarbe als verdächtig eingestuft hat. Wie vielfach in solchen Fällen lag dem Einschreiten also K ein Motivbündel zugrunde. Dabei war die Hautfarbe des K ein Element in diesem Motivbündel.

a) OVG [38, 39] Eine nach Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG grundsätzlich verbotene Differenzierung liegt auch dann vor, wenn eine Maßnahme an ein dort genanntes Merkmal kausal, als (mit-)tragendes Kriterium („wegen“) neben anderen Gründe in einem Motivbündel, anknüpft (vgl. BVerfG, Beschluss vom 28. April 2011 ‑ 1 BvR 1409/10 -, juris, Rn. 52). Die Berücksichtigung der Hautfarbe innerhalb eines Motivbündels ist demnach grundsätzlich eine an ein durch Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG verpöntes Merkmal anknüpfende Behandlung (vgl. OVG Koblenz NJW 2016, 2820 Rn. 106; zustimmend Liebscher NJW 2016, 2779, 2781).

b) Ist aber die Diskriminierung nur ein Element innerhalb eines Motivbündels mit noch weiteren Motiven, kann sie - ebenso wie bei einem Freiheitsrecht - gerechtfertigt sein. Soweit es dafür keine geschriebene Schranke gibt, kann eine immanente Schranke aufgrund kollidierenden Verfassungsrechts eingreifen und die an sich untersagte Diskriminierung rechtfertigen. Wie die nachfolgenden Ausführungen zeigen, kann eine immanente Schranke also nicht nur - parallel zum Gesetzesvorbehalt - eine normative Beschränkung eines Grundrechts rechtfertigen, sondern auch eine Einzelfallregelung durch VA.

aa) OVG [41, 44] Ausnahmsweise kann eine an sich verbotene Anknüpfung an eines der in Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG genannten Merkmale – wie auch im Falle anderer vorbehaltlos gewährleisteter Grundrechte – nach Maßgabe verfassungsimmanenter Grenzen im Rahmen einer strengen Verhältnismäßigkeitsprüfung gerechtfertigt sein (vgl. BVerfGE 114, 357; … Osterloh/Nußberger, in: Sachs, GG, 7. Aufl. 2014, Art. 3 Rn. 254; Langenfeld, in: Maunz/Dürig, GG, 79. EL Dezember 2016, Art. 3 Abs. 3 Rn. 73; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, 14. Aufl. 2016, Art. 3 Rn. 135…). Dies setzt entsprechend der Bedeutung der besonderen Diskriminierungsverbote gem. Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG ein kollidierendes Gut mit Verfassungsrang voraus.

bb) Hier kommt insbesondere die staatliche Pflicht in Betracht, Leib und Leben sowie das Eigentum der Bürger vor unrechtmäßigen Zugriffen Dritter zu schützen. Diese sind hochrangige Güter. Wägt man sie ab mit der Belastung, die darin liegt, dass die kurzfristige Vorlage eines Ausweises in diskriminierender Weise verlangt wird, kann man diesen Gütern den Vorrang einräumen.

cc) Jedoch muss die Diskriminierung ein Mittel sein, um die genannten Güter zu schützen. Das ist sie bei einem Anknüpfen an die Hautfarbe dann, wenn die Hautfarbe ein Indiz für die Zugehörigkeit zu einer Personengruppe ist, von der eine höhere Gefährdung ausgeht. Nach OVG [46, 47] darf bei Vorliegen belastbarer Anhaltspunkte für eine bestimmte äußerlich erkennbare Tätergruppe bei der polizeilichen Arbeit auch auf die entsprechenden Charakteristika innerhalb eines Motivbündels abgestellt werden, und zwar auch dann, wenn diese Charakteristika eines der Diskriminierungsverbote des Art. 3 Abs. 3 GG betreffen. Die sich auf solche Anhaltspunkte berufende Behörde trifft allerdings eine erhöhte Darlegungslast, weshalb diese Anknüpfung zur effektiven Gefahrenabwehr erforderlich ist (Krieger, in: Schmidt-Bleibtreu u.a., GG, 14. Aufl. 2018, Art. 3 Rn. 63). Der erhöhten Darlegungslast kann aufgrund der Bedeutung des betroffenen Diskriminierungsverbots nicht durch bloße Behauptungen genügt werden.… Es reicht aus, ist aber auch erforderlich, dass die jeweilige Polizeibehörde anhand von auf die Örtlichkeit oder Situation bezogenen Lagebildern eine erhöhte Delinquenz bestimmter Zielgruppen darlegt. Dies verlangt zumindest eine Unterfütterung der Behauptungen durch konkret geschilderte Erkenntnisse.

Diese Anforderungen sind im vorliegenden Fall nicht erfüllt. Anlass für ein Einschreiten gegenüber dem dunkelhäutigen K kann nur die - für sich genommen richtige - Erkenntnis sein, Täter der Eigentums- und Drogendelikte seien „Männer…auch aus Schwarzafrika“. Da aber nicht alle Männer aus Schwarzafrika delinquenzverdächtig sind, ermöglicht diese Erkenntnis noch keine Zuordnung des K zu einem Personenkreis, von dem eine erhöhte Gefährdung ausgeht. OVG [53] Die von B angeführten Gesichtspunkte rechtfertigen keine Anknüpfung an die Hautfarbe des K.… Völlig unergiebig ist die Aussage, diese würden „auch“ von Schwarzafrikanern begangen. Denn nach der allgemeinen Lebenserfahrung wird es kaum eine Bevölkerungsgruppe geben, die keine Taschendiebstähle begeht. Es handelt sich also um eine hinsichtlich des K unschlüssige und auch zu unbestimmte Behauptung. Über weitergehende Erkenntnisse, insbesondere über schriftliche Lagebilder oder genauere Erkenntnisse zur Gefährdungslage am 12. 11. verfügt die Bundespolizei nicht.

Somit ist der Verstoß gegen Art. 3 III 1 GG nicht gerechtfertigt. Art. 3 III 1 GG ist verletzt. Nach den Ausführungen oben IV. liegt darin ein Ermessensfehler. OVG [35] Die Maßnahme erfolgte ermessensfehlerhaft, da die Ausübung des Ermessens gegen Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG verstieß.

c) Daran ändert der Vortrag der B nichts, inzwischen gebe es Erkenntnisse, dass im November vermehrt Personen über den Bahnhof S illegal eingereist seien. Wie bereits oben B I 2 ausgeführt wurde, bestand bei dem den Bahnhof von außen betretenden K kein Anhaltspunkt für eine illegale Einreise. Außerdem führt OVG [54, 55] aus: War die Ermessensausübung fehlerhaft, ist eine Korrektur dieser Erwägungen nach Erledigung des VA nicht mehr möglich (vgl. OVG Urteil vom 12. Dezember 2017 – 5 A 2428/15 -, juris, Rn. 39). Die Möglichkeit, die konkrete Identitätsfeststellung neu und ohne Rückgriff auf die ermessensfehlerhafte Berücksichtigung der Hautfarbe des K zu begründen, besteht also nicht.

C. Ergebnis: Der VA, durch den P dem K die Vorlage seines Ausweises aufgegeben hat, war ermessensfehlerhaft und damit rechtswidrig. Er verletzte K in seinem Grundrecht aus Art. 3 III GG. Der Klage ist somit stattzugeben. Der Tenor des OVG-Urteils lautet: Es wird festgestellt, dass die Aufforderung der Beamten der Beklagten an den Kläger am 12. November 2013, seine Ausweispapiere vorzuzeigen, rechtswidrig gewesen ist. (ebenso Müller JA 2019, 303)


Zusammenfassung