Bearbeiter: Prof. Dieter Schmalz
► Versammlungsrecht; Auflage nach § 15 I VersG. ► Gefahr für die öffentliche Sicherheit durch Eingriffe Privater. ► Eingriff in Persönlichkeitsrecht durch Demonstration von Abtreibungsgegnern. ► Abwägung zwischen grundrechtlich geschützten Rechtsgütern. ► Versammlungsfreiheit, Meinungsfreiheit, Glaubensfreiheit
VG Karlsruhe Beschluss vom 27. 3. 2019 (2 K 1979/19) NVwZ 2019, 897
Fall (Spießrutenlauf)
Nach dem Vorbild der in Texas (USA) gegründeten, religiös geprägten Organisation „40 Days for Life“ betätigt sich der V-Verein in der im Lande L gelegenen Stadt S mit Protesten gegen Schwangerschaftsabbrüche. V meldete bei der hierfür zuständigen Polizeibehörde B eine über einen Zeitraum von 40 Tagen geplante Demonstration an. Der Demonstrationsort befindet sich auf dem Gehweg der Bergstraße vor einer Beratungsstelle, die von Pro Familia Deutsche Gesellschaft für Familienplanung und Sexualberatung (pro familia) unterhalten wird. Sie ist die einzige Beratungsstelle in S, die Beratungsbescheinigungen als Voraussetzung für einen straffreien Schwangerschaftsabbruch ausstellt, und kann nur über die Bergstraße erreicht werden. Am Demonstrationsort wollen ca. 20 Personen täglich gegen Abtreibungen demonstrieren. Nach einem Kooperationsgespräch zwischen V und B richtete B am 28. Februar eine schriftliche Verfügung an V, nach deren Nr. 1 dem Veranstalter V zur Auflage gemacht wird, die Aktion während der Beratungszeiten von pro familia (montags bis freitags 7 bis 18 Uhr) nur außerhalb der direkten Sichtbeziehungen zum Eingang von pro familia durchzuführen. Die Gehwegbereiche, innerhalb derer die Versammlung nicht stattfinden darf, sind auf einem beigefügten Plan eingezeichnet. Die Verfügung ist auf das Versammlungsgesetz (VersG) gestützt, das im Lande L noch in der Fassung des Bundes-Versammlungsgesetzes gilt. Die Begründung der Verfügung verweist darauf, dass bereits früher „40 Days for Life“ veranstaltet wurden und dass dabei die Frauen, die die Beratungsstelle aufsuchen wollten, von Demonstranten mit lauten Gesängen, Gebeten, Plakaten und Fotos bedrängt und eingeschüchtert wurden; offenbar sei das auch bei der angemeldeten Demonstration wieder beabsichtigt. Mit der Auflage solle verhindert werden, dass die ratsuchenden Frauen die Beratungsstelle erst nach einem Spießrutenlauf erreichen können. Der Schutz der Frauen habe Vorrang vor den Grundrechten der Demonstranten, was näher ausgeführt und durch Ermessenserwägungen ergänzt wird.
V beruft sich auf die Grundrechte der Versammlungsfreiheit und der Meinungs- und Glaubensfreiheit, kraft derer seine Mitglieder und weitere Personen zum Schutz des ungeborenen Lebens aufrufen wollen. Damit sei unvereinbar, dass sie nicht näher an dem Ort demonstrieren dürfen, an dem die von ihnen abgelehnte Beratung stattfindet. V beabsichtigt eine verwaltungsgerichtliche Klage gegen Nr. 1 der Verfügung vom 28. 2. Hat die Klage Aussicht auf Erfolg? Ein Widerspruchsverfahren ist im Lande L nicht mehr durchzuführen.
Lösung
Vorbemerkungen: Im Originalfall handelte es sich um ein Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes, in dem die Beteiligten als Antragsteller und Antragsgegner zu bezeichnen waren. Aus Vereinfachungsgründen ist nach der Aufgabenstellung eine Klage zu prüfen, bei der die Beteiligten als V und B bezeichnet werden können; das wird auch in die Originalzitate übernommen. – Der Originalfall war nach bad.- württ. Recht zu entscheiden, wurde hier aber auf das Recht des anonymen Landes L umgestellt; dem werden auch die Originalzitate angepasst. – Dem Entscheidungsabdruck in der NVwZ ist auf S. 902 eine Anmerkung von v. Schwanenflug angefügt, wonach der Beschluss „überzeugt und vollumfänglich zu begrüßen ist.“
A. Zulässigkeit der verwaltungsgerichtlichen Klage
I. Die Zulässigkeit des Verwaltungsrechtsweges richtet sich nach § 40 I VwGO.
1. Eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit liegt vor, wenn die streitentscheidende Norm eine Norm des öffentlichen Rechts ist.
a) Als streitentscheidende Norm kommt im vorliegenden Fall § 15 I VersG in Betracht. Nach § 15 I VersG in der Fassung des Bundesgesetzes (vgl. Art. 125 a I 1 GG; Dietel/Gintzel/Kniesel, Versammlungsgesetze, 17. Aufl. 2016, S. 613) kann die zuständige Behörde die Versammlung verbieten oder von bestimmten Auflagen abhängig machen, wenn nach den zur Zeit des Erlasses der Verfügung erkennbaren Umständen die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bei Durchführung der Versammlung unmittelbar gefährdet ist.
b) Für die Anwendung des § 15 I VersG müsste die von V angemeldete Demonstration eine öffentliche Versammlung sein. Der Versammlungsbegriff des Versammlungsrechts ist derselbe wie der des Art. 8 GG. (Unterschiedlich ist aber, dass Art. 8 GG für alle Versammlungen gilt, das VersG dagegen nur für öffentliche Versammlungen.) VG [27, 28] Eine Versammlung wird dadurch charakterisiert, dass eine Personenmehrheit durch einen gemeinsamen Zweck inhaltlich verbunden ist. Das Grundrecht schützt die Freiheit der Versammlung als Ausdruck gemeinschaftlicher, auf Kommunikation angelegter Entfaltung. Der besondere Schutz der Versammlungsfreiheit beruht auf ihrer Bedeutung für den Prozess der öffentlichen Meinungsbildung in der freiheitlich-demokratischen Ordnung des Grundgesetzes. Für die Eröffnung des Schutzbereichs von Art. 8 Abs. 1 GG reicht es wegen seines Bezugs auf den Prozess öffentlicher Meinungsbildung nicht aus, dass die Teilnehmer bei ihrer kommunikativen Entfaltung durch einen beliebigen Zweck verbunden sind. Voraussetzung ist vielmehr zusätzlich, dass die Zusammenkunft auf die Teilnahme an der öffentlichen Meinungsbildung gerichtet ist. Versammlungen im Sinne des Art. 8 GG sind demnach örtliche Zusammenkünfte mehrerer Personen zu gemeinschaftlicher, auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Erörterung oder Kundgebung (vgl. BVerfGE 104, 92;…).
b) Danach handelt es sich bei dem Vorhaben des V um eine dem Art. 8 GG unterfallende Versammlung. V will - zusammen mit weiteren, zahlenmäßig einer Versammlung genügenden Teilnehmern - mit seinem Vorhaben im Rahmen der Versammlung für den Schutz des ungeborenen Kindes und gegen Schwangerschaftsabbrüche sowie gegen das in der BRD geltende Recht, unter bestimmten, gesetzlich vorgeschriebenen Voraussetzungen Schwangerschaftsabbrüche straffrei durchführen zu können, …eintreten und diese Meinung durch die Versammlung nach außen dokumentieren. Somit ist § 15 I VersG die streitentscheidende Norm. Sie gehört zum öffentlich-rechtlichen Polizei- und Ordnungsrecht, so dass eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit vorliegt.
2. Die Streitigkeit ist auch nichtverfassungsrechtlicher Art. Zwar sind auch Grundrechte aus dem GG anzuwenden. An der Streitigkeit ist aber kein Verfassungsorgan beteiligt, so dass keine doppelte Verfassungsunmittelbarkeit vorliegt. Da die Streitigkeit auch keinem anderen Gericht zugewiesen ist, ist der Verwaltungsrechtsweg eröffnet.
II. Klageart könnte eine Anfechtungsklage sein. Dann müsste sie sich gegen einen Verwaltungsakt richten (§§ 42 I VwGO, 35 VwVfG).
1. Die Verfügung vom 28. 2. untersagt V, bei den Demonstrationen auf der Bergstraße während bestimmter Zeiten bestimmte Bereiche zu betreten. Dieses Verbot ist eine Regelung kraft öffentlichen Rechts.
2. Sie müsste auch einen Einzelfall betreffen. Das ist jedenfalls dann zu bejahen, wenn die Regelung einen konkreten Fall betrifft und sich an einen individuellen Adressaten richtet. Die Verfügung vom 28. 2. richtet sich an V und damit an einen individuellen Adressaten. Der geregelte Fall ist zunächst insoweit konkret, als er sich auf einen konkreten Bereich bezieht. Die Verfügung betrifft allerdings Demonstrationen über einen Zeitraum von 40 Tagen, und bezieht sich deshalb nicht auf einen einzelnen Vorgang. Die Teil-Demonstrationen folgen aber aufeinander, verlaufen gleich und sind deshalb noch hinreichend konkret. Es handelt sich nicht um eine allgemeine Regelung, die lediglich an abstrakte Voraussetzungen geknüpft wird („Jedesmal, wenn…“). Da das Verbot für eine längere Zeit gilt, handelt es sich um einen Dauerverwaltungsakt.
3. Dass in der Verfügung dem V „zur Auflage“ gemacht wird, bestimmte Beschränkungen einzuhalten, führt nicht zur Annahme einer bloßen Nebenbestimmung i. S. des § 36 II Nr. 4 VwVfG. Für eine Auflage fehlt es an einem begünstigenden VA, dem sie beigefügt sein könnte. Eine öffentliche Versammlung ist weder genehmigungsbedürftig noch genehmigungsfähig, sondern bedarf, wenn sie unter freiem Himmel stattfindet, lediglich einer Anmeldung. Bei der Auflage i. S. des § 15 I VersG handelt es sich um eine selbstständige Polizeiverfügung und nicht um eine Auflage i. S. des § 36 II VwVfG (Ruffert JuS 2013, 576 Fn. 4). Gleiches gilt für die offenbar den Wortlaut des § 15 I VersG übernehmende Verfügung vom 28. 2.
Die Klage ist somit eine Anfechtungsklage.
III. Die Klagebefugnis nach § 42 II VwGO steht V zu, weil er geltend macht, in den Rechten auf Versammlungsfreiheit, Meinungs- und Glaubensfreiheit verletzt zu sein. Diese Rechte können auch einem Verein zustehen (vgl. Art. 19 III GG).
IV. Ein Widerspruchsverfahren (§ 68 VwGO) braucht im Lande L nicht mehr durchgeführt zu werden. Klagegegner ist das Land L als Träger der Polizei (§ 78 I Nr. 1 VwGO). Die Klagefrist von einem Monat (§ 74 VwGO) kann eingehalten werden. Ebenso können die Anforderungen nach §§ 61 - 63 VwGO erfüllt werden. Die Anfechtungsklage ist zulässig. Erhoben werden muss sie vom Vorstand des V (§ 26 BGB).
B. Die Begründetheit der Anfechtungsklage richtet sich nach § 113 I VwGO. Danach muss der angefochtene VA, d. h. die Auflage in der Verfügung vom 28. 2., rechtswidrig sein.
I. Wie bereits ausgeführt (A I 1) ist § 15 I VersG die anwendbare und den VA möglicherweise rechtfertigende Ermächtigungsgrundlage (zum Inhalt A I 1 a).
II. Für den Erlass der Auflage gelten formelle Voraussetzungen.
1. Die Zuständigkeit der Polizeibehörde B, die die Verfügung vom 28.2. erlassen hat, ergibt sich aus dem Sachverhalt. (Für NRW: § 1 der VO GVBl NRW 1987, 62.)
2. Nach § 28 I VwVfG war eine Anhörung des V erforderlich. Da ein Kooperationsgespräch stattgefunden hat, ist davon auszugehen, dass die Polizei eine Auflage wie später erlassen angekündigt hat und dass V dazu hat Stellung nehmen können.
3. Aus der im Sachverhalt wiedergegebenen Begründung ergibt sich, dass diese den Anforderungen des § 39 I VwVfG entspricht.
4. Da die Verfügung auch schriftlich (§ 37 II VwVfG) ergangen ist, ist sie formell rechtmäßig.
III. Für die materielle Rechtmäßigkeit ist Voraussetzung, dass die Verfügung den Anforderungen der Ermächtigungsgrundlage (§ 15 I VersG) entspricht.
1. Die von V angemeldete Versammlung könnte die öffentliche Sicherheit unmittelbar gefährden.
a) Schutzgut der öffentlichen Sicherheit sind Rechtsgüter wie Leben, Gesundheit, Freiheit, Ehre, Eigentum und Vermögen des Einzelnen sowie die Unversehrtheit der Rechtsordnung und der staatlichen Einrichtungen (OVG Münster NWVBl 2013, 111). Zu ihnen gehört auch das allgemeine Persönlichkeitsrecht (VG [33]; VGH Mannheim VBlBW 2008, 375). Dazu VG [34]: Das allgemeine Persönlichkeitsrecht dient dem Schutz der engeren persönlichen Lebenssphäre und der Erhaltung ihrer Grundbedingungen, die sich durch die traditionellen konkreten Freiheitsgarantien nicht abschließend erfassen lassen (vgl. BVerfGE 99, 185; 114, 339; 120, 274)… Dem Einzelnen wird ein Bereich freier Persönlichkeitsentfaltung garantiert, in dem er „sich selbst besitzt“ und in den er sich frei von staatlicher Kontrolle und sonstiger Beeinträchtigung zurückziehen kann (…).
b) Bei einer schwangeren Frau sind die Kenntnis von der Schwangerschaft und die körperlichen und seelischen Beziehungen zu dieser Lebenssituation Bestandteil der geschützten Persönlichkeitssphäre, wobei eine große Nähe zur Intimsphäre besteht. VG [36] Insbesondere in der Frühphase der Schwangerschaft, in der diese noch nicht äußerlich erkennbar ist, entscheidet die Frau darüber, ob sie die Schwangerschaft publik macht oder geheim hält. Der Schutz der Privatsphäre ist umso intensiver, je näher der Sachbereich der Intimsphäre steht. Gerade das erste Drittel der Schwangerschaft, in dem sich die überwiegende Mehrzahl der Frauen befinden dürfte, die eine Schwangerschaftsberatungsstelle aufsuchen, weist eine große Nähe zur Intimsphäre auf, so dass für die Prognose der Gefährdungslage im Sinne des § 15 Abs. 1 VersG ein sehr hohes Schutzniveau für das allgemeine Persönlichkeitsrecht zugrunde zu legen ist… In der Frühphase der Schwangerschaft befinden sich die meisten Frauen in einer besonderen seelischen Lage, in der es in Einzelfällen zu schweren Konfliktsituationen kommen kann, so dass sie besonders schutzbedürftig sind.
c) Das so beschriebene Persönlichkeitsrecht der um Beratung nachsuchenden Frauen müsste unmittelbar gefährdet sein. VG [30-32] Eine unmittelbare Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung liegt vor, wenn eine konkrete Sachlage vorliegt, die nach dem gewöhnlichen Verlauf der Dinge den Eintritt eines Schadens mit hoher Wahrscheinlichkeit erwarten lässt und daher bei ungehindertem Geschehensablauf zu einem Schaden für die der Versammlungsfreiheit entgegenstehenden Rechtsgüter führt (BVerfG NVwZ 2008, 671;…).
Unmittelbar bedeutet nicht gegenwärtig im Sinne einer zeitlichen Nähe. Dies folgt bereits daraus, dass die Entscheidung der Versammlungsbehörde über Maßnahmen gegen die Versammlung so rechtzeitig vor dem geplanten Beginn erfolgen soll, dass Rechtsmittel gegen den VA noch möglich sind. Notwendig ist daher eine Prognose über ein zukünftiges Geschehen, das möglicherweise erst in einigen Wochen stattfindet. Dies wird in § 15 Abs. 1 VersG durch die Formulierung klargestellt, dass die Gefahr bei Durchführung bestehen und erst dann gegenwärtig sein muss, während für die Entscheidung auf deren Zeitpunkt und auf die zu diesem Zeitpunkt erkennbaren Umstände abzustellen ist. Eine Unmittelbarkeit der Gefahr ist deshalb bereits dann gegeben, wenn eine hohe Wahrscheinlichkeit besteht, dass der Schaden eintritt (BVerfG NVwZ 1998, 834)… Zwischen dem Wahrscheinlichkeitsmaßstab und der Größe des Schadens besteht eine Wechselwirkung. Je größer und folgenschwerer der drohende Schaden ist, desto geringer sind die Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit seines Eintritts. („Je-desto-Formel“ bei der Gefahrenprognose)
aa) Im vorliegenden Fall kann angenommen werden, dass die angemeldeten Versammlungsverläufe ähnlich sind wie bei den bisher veranstalteten „40 Days for Life“. Die um Beratung nachsuchenden Frauen werden mit lauten Gesängen, Gebeten und unter Konfrontation mit Plakaten und Fotos bedrängt und eingeschüchtert. Da der Grund hierfür die Schwangerschaft ist und diese zur Persönlichkeitssphäre gehört, liegt darin eine Beeinträchtigung ihrer Persönlichkeit. VG [38] Aufgrund der vorgehend beschriebenen Konfliktsituation hat die schwangere Frau, die eine anerkannte Schwangerschaftsberatungsstelle aufsucht, ein aus ihrem allgemeinen Persönlichkeitsrecht fließendes Recht darauf, diese ohne „Spießrutenlauf“ (vgl. hierzu BVerfG NJW 2011, 47) durch eine über mehrere Wochen dauernde, blockadeartige Versammlung von Abtreibungsgegnern, die in unmittelbarer Nähe zum Eingang der Beratungsstelle stattfinden soll, zu erreichen. Zwar beinhaltet die Versammlungsfreiheit auch ein Selbstbestimmungsrecht über den Ort der Veranstaltung, insbesondere diesen mit dem Ziel auszuwählen, das der Versammlung zugrundeliegende Anliegen auch mit Blick auf einen bestimmten Ort so öffentlichkeitswirksam wie möglich kundzutun. Im vorliegenden Fall ist der Versammlungsort aber gerade darauf ausgerichtet, einen bestimmten Adressaten - nämlich die schwangere Frau in ihrer Konfliktsituation und im Zustand hoher Verletzlichkeit - einer Anprangerung und Stigmatisierung auszusetzen….Die Frauen können auch nicht abwarten, bis die Demonstrationen vorbei sind. Denn Frauen können nur innerhalb der ersten zwölf Wochen der Schwangerschaft drei Tage nach einer Schwangerschaftskonfliktberatung straffrei die Abtreibung vornehmen lassen.
bb) Eine endgültige Entscheidung darüber, ob die Persönlichkeitsrechte der Frauen in einer dem § 15 I VersG entsprechenden Weise gefährdet sind, ist nicht ohne Einbeziehung der Rechte möglich, die V und die anderen Teilnehmer im Hinblick auf die Demonstration haben. Dabei ist allerdings zweifelhaft, wie diese Überlegungen methodisch in den Gedankengang einzufügen sind.
(1) VG Karlsruhe führt unter [24] aus, die Tatbestandsvoraussetzungen des § 15 I VersG seien „im Lichte des Art. 8 GG auszulegen“. Später, unter [45-53], prüft es, ob der „Eingriff“ in das allgemeine Persönlichkeitsrecht „gerechtfertigt“ ist, und nimmt dabei eine Abwägung zwischen den betroffenen Grundrechten vor. Das VG prüft also wie bei einer hoheitlichen Maßnahme, beispielsweise bei einem Eingriff durch VA. Dabei wird aber nicht hinreichend berücksichtigt, dass das Persönlichkeitsrecht der Frauen durch V und den Demonstranten beeinträchtigt wird - also nicht durch die Verfügung, die Gegenstand der Anfechtungsklage ist - und dass zwischen den Frauen und V Privatrecht gilt. Deshalb kann V nicht wie ein hoheitlich eingreifender Staat behandelt werden.
(2) Als Konsequenz daraus, dass das Persönlichkeitsrecht der Frauen durch V als privaten Verein beeinträchtigt wird, sind die privatrechtlichen Grundsätze über das Persönlichkeitsrecht anzuwenden. Danach ist dieses ein Rahmenrecht, bei dem die Rechtswidrigkeit des Eingriffs durch Abwägung der betroffenen Rechte und Interessen festzustellen ist (BGH NJW 2019, 781 [19], presserechtliche Informationsschreiben). Da aber sowohl bei der Methode (2) als auch bei (1) eine Abwägung der beiderseitigen Rechte vorzunehmen ist, verläuft der weitere Gedankengang in beiden Fällen im Wesentlichen gleich und führt auch zu einem gleichen Ergebnis.
d) Somit ist die Frage, ob eine unmittelbare Gefährdung der Persönlichkeitsrechte der Frauen vorliegt, durch eine Abwägung zwischen deren Persönlichkeitsrechten und den Rechten des V und seiner Anhänger zu entscheiden.
aa) V kann sich auf die Versammlungsfreiheit berufen. Jedoch wird die Versammlung nicht untersagt. Es werden ihr nur die Beschränkungen auferlegt, die zum Schutze der Frauen geboten sind. Wie unter III 1 c aa) ausgeführt wurde, brauchen die Frauen eine Versammlung, die für sie zu einem „Spießrutenlauf“ wird, nicht hinzunehmen. Insoweit überwiegen die Persönlichkeitsrechte der Frauen.
bb) Da auf den Demonstrationen gegen Abtreibungen Stellung genommen werden soll, fällt dieses Verhalten unter den Schutz der Meinungsfreiheit. VG [49, 50] Die Meinungsfreiheit umfasst…auch das Recht, selbst zu bestimmen, wo und wann die Meinungskundgabe erfolgt, zumal an Orten, an denen ein allgemeiner öffentlicher Verkehr eröffnet ist. Denn der öffentliche Straßenraum ist das natürliche und geschichtlich leitbildprägende Forum, auf dem Bürger ihre Anliegen besonders wirksam in die Öffentlichkeit tragen und hierüber die Kommunikation anstoßen können (so im Zusammenhang mit der Versammlungsfreiheit: BVerfGE 128, 226). Auch die Auswahl des Meinungsadressaten obliegt prinzipiell dem Meinenden. Er bestimmt, wen er mit seiner Meinungsäußerung konfrontieren will. Der von der Meinungskundgabe thematisch Betroffene muss die Meinung grundsätzlich ebenso „aushalten“ wie der Meinungslose und der Desinteressierte, wobei Kehrseite der Meinungsäußerungsfreiheit die selbstverständliche Freiheit des Einzelnen ist, von Meinungen anderer verschont zu bleiben und ihnen auszuweichen… V will mit seinem Vorhaben im Rahmen der Versammlung für den Schutz des ungeborenen Kindes und gegen Schwangerschaftsabbrüche allgemein sowie gegen das in der Bundesrepublik Deutschland geltende Recht, unter bestimmten Voraussetzungen Schwangerschaftsabbrüche straffrei durchführen zu können, …eintreten und diese Meinung durch die Versammlung kollektiv äußern.
Jedoch geht das Vorhaben des V über eine bloße Meinungskundgabe hinaus. Durch die Wahl des Versammlungsortes soll nicht nur eine Meinung kundgetan werden, sondern es sollen bestimmten Adressaten - nämlich Frauen, die eine Schwangerschaftsberatungsstelle aufsuchen - getroffen und auf diese durch den konkreten Standort, der hier bewusst als Mittel zum Zweck eingesetzt wird, eingewirkt werden. Durch den ausgewählten Versammlungsort wird den wegen ihrer Verletzlichkeit infolge der Konfliktsituation in besonderer Weise betroffenen Frauen eine bestimmte Meinung aufgedrängt, der sie sich in dieser konkreten Situation nicht entziehen können, wenn sie die Beratungsstelle aufsuchen wollen. Handlungen, durch die anderen eine bestimmte Meinung aufgedrängt werden soll, werden durch Grundrechte nicht geschützt (BVerfG NJW 2011, 47). Insoweit kann der Meinungsfreiheit kein Vorrang eingeräumt werden.
cc) Zugunsten des V könnte die Glaubensfreiheit für ein Überwiegen seiner Interessen sprechen. VG [52, 53] V beruft sich zur Begründung der angemeldeten Versammlung…auch auf die religiöse Überzeugung, die einen uneingeschränkten Schutz des ungeborenen Kindes verlangt und deshalb den Abbruch von Schwangerschaften nicht gestattet. Gerät Art. 4 GG in Kollision mit einer anderen Verfassungsnorm, so ist eine dem Prinzip der Konkordanz verpflichtete Abwägung erforderlich (vgl. BVerfGE 52, 223; BVerwGE 112, 314). Die danach vorzunehmende Abwägung mit dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht der von der 40tägigen Versammlung betroffenen Frauen führt zu einem Überwiegen der Grundrechte letzterer. Denn die Religionsfreiheit berechtigt - ähnlich wie die Versammlungs- und Meinungsfreiheit - nicht dazu, anderen Menschen die eigene religiöse Überzeugung aufzudrängen und diese zum Maßstab für das Verhalten der anderen zu machen.
dd) Nach den Überlegungen aa) - cc) haben zwar die einzelnen Rechte des V kein hinreichendes Gewicht, um dahinter die Persönlichkeitsrechte der Frauen zurücktreten zu lassen, jedoch könnte eine Gesamtbetrachtung der drei Rechtspositionen eine Verstärkung ihrer Wirkungen zur Folge haben. Jedoch liegt eine gegenseitige Verstärkung im Verhältnis der Versammlungsfreiheit zur Meinungsfreiheit nicht vor, weil ein Zusammentreffen dieser beiden Grundrechte der Normalfall ist, insofern auf Versammlungen regelmäßig Meinungen geäußert werden. Die Berufung des V auf die Glaubensfreiheit hat zwar Gewicht für die moralische Beurteilung durch Dritte und die Öffentlichkeit. Den Frauen gegenüber wäre eine Verstärkung der Stellung des V aber nicht sachgerecht, weil bei Eingriffen in das Persönlichkeitsrecht unter Berufung auf religiöse Motive die Betroffenen - anders als bei normalen Versammlungen und Meinungsäußerungen - in aller Regel keine Chance haben, sich rational mit den Angriffen auseinanderzusetzen und sich dagegen zu wehren. Die religiöse Motivation für das Einwirken auf die Persönlichkeitsrechte der Frauen spricht deshalb eher für einen erhöhten Schutz der Persönlichkeitsrechte.
VG [29] Folglich hat die B-Behörde mit zutreffenden Erwägungen eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit bejaht. Denn die Versammlung führt in ihrer beabsichtigten konkreten Gestaltung zu einer Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts derjenigen Frauen, die sich in einer Schwangerschaftskonfliktsituation befinden und deshalb die Schwangerschaftsberatungsstelle von pro familia aufsuchen wollen.
e) Unter [40-44] hat das VG eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit außerdem deshalb angenommen, weil durch das Verhalten des V und seiner Anhänger „das Beratungskonzept des Schwangerschaftskonfliktgesetzes nachhaltig beeinträchtigt“ würde. Da sich aber die Frauen trotz der Aktivitäten des V beraten lassen können und diese Möglichkeit auch in Anspruch nehmen, geht es zu weit, quasi eine „Sabotage“ eines gesetzlichen Konzepts anzunehmen.
2. Nach § 15 I VersG „kann“ die zuständige Behörde Auflagen erlassen. Die Rechtsfolge dieser Vorschrift ist also nicht zwingend vorgegeben, sondern darf von der Behörde nach Zweckmäßigkeit ausgewählt werden, wobei das Verhältnismäßigkeitsprinzip Grenzen setzt und Ermessensfehler zu vermeiden sind.
a) Nach dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit muss eine Maßnahme geeignet, notwendig und angemessen sein.
aa) Die Auflage, die Aktion während der Beratungszeiten von pro familia nur außerhalb der Sichtbeziehungen zum Eingang von pro familia durchzuführen, ist geeignet, die Frauen vor der Konfrontation mit den ihr Persönlichkeitsrecht beeinträchtigenden Aktivitäten des V und seiner Anhänger zu schützen. Es wird eine Schutzzone geschaffen, innerhalb derer sich die Frauen bewegen können, ohne bedrängt zu werden.
bb) Ein die Notwendigkeit ausschließendes milderes Mittel, mit dessen Hilfe ein gleichwertiger Schutz erreicht werden kann, ist nicht ersichtlich. Denkbar wäre zwar, statt eines behördlichen Einschreitens die Frauen auf eine eigene Abwehr innerhalb des privatrechtlichen Verhältnisses zu V zu verweisen. Dabei müssten sie aber ihre Identität offenbaren. Demgegenüber muss aber angesichts der Situation, in der sie sich befinden, für sie die Möglichkeit bestehen, anonym zu bleiben. Deshalb ist es keine geeignete Alternative, sie auf den Zivilrechtsweg zu verweisen.
cc) Unangemessen ist die Auflage, wenn der dem V dadurch zugefügte Nachteil größer ist als der Nutzen für die die Beratungsstelle aufsuchenden Frauen. Der Nutzen für die Frauen besteht in der Verschonung vor den Eingriffen in ihr Persönlichkeitsrecht. Der Nachteil für V besteht darin, dass die Rechte auf Versammlungsfreiheit, Meinungs- und Glaubensfreiheit nur beschränkt ausgeübt werden können. Eine Abwägung zwischen diesen Positionen wurde bereits oben B III 1 d) vorgenommen. Zwar betraf diese das Verhältnis zwischen den Frauen und V, während es an dieser Stelle um das Verhältnis der B-Behörde zu V geht. Da aber die Verfügung vom 28. 2. zugunsten der Rechte der Frauen erlassen wird und die Rechte des V beschränkt, können die obigen Überlegungen auf die Frage der Angemessenheit übertragen werden. Danach überwiegen die Rechte der Frauen, so dass der darin liegende Nutzen die Nachteile für V überwiegt. Daraus ergibt sich, dass die Maßnahme nicht unangemessen und insgesamt verhältnismäßig ist.
b) Die Verfügung wäre rechtswidrig, wenn ihr Ermessensfehler zugrunde liegen würden (§ 114 VwGO). Jedoch ist eine Abwägung zwischen den Rechten der Frauen und denen des V sachgemäß; auch ist nicht ersichtlich, dass die ergänzenden Ermessenserwägungen fehlerhaft wären.
Ergebnis: Die als Auflage bezeichnete Nr. 1 in der Verfügung vom 28.2. ist rechtmäßig. Die Anfechtungsklage des V ist unbegründet und wird keinen Erfolg haben.
Zusammenfassung