Im folgenden Fall geht es um die Anwendung der polizeilichen Generalklausel, aber nicht nur um die Subsumtion unter ihre Voraussetzungen, sondern auch – wie nicht selten – um die Frage ihrer Anwendbarkeit unter Kompetenzgesichtspunkten und mit Blick auf speziellere Regelungen. Außerdem tritt die Frage auf, wie ein von der polizeilichen Maßnahme berührtes Grundrecht mit der Generalklausel als einfach-gesetzlicher Rechtsgrundlage verbunden werden kann.

Wohnungsverweisung mit Rückkehrverbot; Spezialregelung. Anwendbarkeit der polizeilichen Generalklausel. Grundrecht der Freizügigkeit, Art. 11 I, II GG. Verfassungskonforme einschränkende Auslegung der Generalklausel

VGH Mannheim Urteil vom 22. 7. 2004 (1 S 2801/03) NJW 2005, 88

Fall (Suizidgefahr des Lebenspartners)

K und P waren Lebenspartner und hatten eine gemeinsame Wohnung in der im Lande L gelegenen Stadt S. Kurz vor Weihnachten erklärte K dem P, er werde sich von ihm trennen und am 31. 12. ausziehen. Daraufhin kündigte P an, er werde sich das Leben nehmen. Davon informierte K die zuständige Polizeidienststelle. Dort war bekannt, dass P bereits Suizidversuche unternommen hatte. Zwei Beamte fuhren am 20. 12. in die gemeinsame Wohnung und trafen P dort an. Nach Besprechung der Lage suchten die Polizeibeamten zusammen mit P dessen Hausärztin auf. Diese erklärte, es bestehe wohl keine unmittelbare Gefahr, jedoch sei es nötig zu verhindern, dass P und K wieder zusammentreffen. Daraufhin sprach die Polizei noch am 20. 12. gegenüber K die Anordnung aus, die mit dem Lebenspartner P gemeinsam geführte Wohnung zu verlassen und vorerst nicht mehr zu betreten. Anschließend ermöglichte die Polizei dem K, seine persönlichen Sachen zusammen zu packen, begleitete ihn zu dessen Pkw und vergewisserte sich, dass K sich tatsächlich entfernte. Als K sich nach einigen Monaten mit der Trennung von P abgefunden hatte, kam er zu dem Ergebnis, die polizeiliche Anordnung sei ein schwerwiegend rechtswidriger Eingriff in sein Persönlichkeitsrecht gewesen. Er stellte fest, dass es im PolG des Landes L (im Originalfall: Bad-Württ.) keine Regelung der Wohnungsverweisung gibt. Die in § 3 PolG des Landes L enthaltene Generalklausel hält er in seinem Fall für unanwendbar. Er beabsichtigt, gegen die Anordnung vom 20. 12. verwaltungsgerichtliche Klage zu erheben. Mit Aussicht auf Erfolg ?

A. Die Klage ist als ursprüngliche Fortsetzungsfeststellungsklage nach §§ 40 I, 113 I 4 analog VwGO zulässig (zur Zulässigkeit einer solchen Klage vgl. den Fall „Polizeikontrolle in kurdischer Teestube“ in Heft 9). Die Anordnung vom 20. 12. war ein VA, der sich am 31. 12. erledigt hatte, weil K an diesem Tage ohnehin ausziehen wollte. Zumindest war die Erledigung eingetreten, als K sich mit der Trennung von P abgefunden und nicht mehr die Absicht hatte, in die gemeinsame Wohnung zurückzukehren. Ein Feststellungsinteresse ergibt sich daraus, dass es sich bei der Verweisung aus der eigenen Wohnung um einen schwerwiegenden Eingriff in Grundrechte handelt und deshalb ein Rehabilitationsinteresse des K besteht. Ein Widerspruchsverfahren war entbehrlich. Auch eine Klagefrist läuft nicht.

B. Begründet ist die Klage analog § 113 I 1 VwGO, wenn der VA vom 20. 12. bei Erlass rechtswidrig war und K in seinen Rechten verletzte.

I. Es ist die anwendbare Ermächtigungsgrundlage zu bestimmen.

1. Eine Spezialregelung der Wohnungsverweisung mit Rückkehrverbot gibt es lt. Sachverhalt im Lande L nicht. Sie ist allerdings in den Polizeigesetzen mehrerer Länder als Standardmaßnahme enthalten. Diese würde aber im vorliegenden Fall nicht eingreifen, weil sie sich nur gegen die Person richtet, von der die Gefahr ausgeht (z. B. § 34a PolG NRW: „Die Polizei kann eine Person zur Abwehr einer von ihr ausgehenden gegenwärtigen Gefahr…aus einer Wohnung…verweisen…“). Im vorliegenden Fall ging die Gefahr nicht von K, sondern allenfalls von P aus, weil dieser mit Selbstmord drohte. Eine Spezialregelung scheidet somit aus.

2. Es könnte die polizeirechtliche Generalklausel eingreifen, die es im Polizeirecht eines jeden Bundeslandes gibt und die im Lande L in § 3 PolG enthalten ist. Sie berechtigt die Polizei zumindest dazu, im Falle einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit die notwendigen Maßnahmen zu treffen (überwiegend auch im Falle einer Gefahr für die öffentliche Ordnung). Die Gefahr für das Leben des P, die durch dessen angedrohten Selbstmord entstanden war, könnte eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit gewesen sein.

3. Einer Anwendbarkeit des § 3 PolG könnte jedoch entgegenstehen, dass die hier von der Polizei ausgesprochene Rechtsfolge eine Beschränkung der Freizügigkeit des K enthielt und dass die Freizügigkeit in die ausschließliche Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes fällt (Art. 73 Nr. 3 GG). Auf Sachbereiche, die nicht in die Gesetzgebungszuständigkeit der Länder fallen, darf die polizei- und die ordnungsrechtliche Generalklausel nicht erstreckt werden (das gilt z. B. auch für das Gewerberecht).

a) Wie der VGH auf S. 88 ausführt, greift eine derartige Maßnahme in den Schutzbereich des Grundrechts auf Freizügigkeit (Art. 11 I GG) ein. Denn Art. 11 I GG schützt das Recht, am selbstgewählten Ort Aufenthalt und Wohnsitz zu nehmen; damit zielen die Maßnahmen des Wohnungsverweises mit Rückkehrverbot wie auch des Aufenthaltsverbots bei objektiver Betrachtung auf eine dahin gehende Einschränkung ab (so auch die h. M. in Rspr. und Lit., vgl. die Nachw. bei Schnapp NWVBl 2003, 484 [487 Fußn. 20], sowie Wuttke, PolizeiR und Zitiergebot, 2003, 60 f. m. w. Nachw. auch zur Gegenauffassung auf S. 54 f.…). Somit betrifft die Maßnahme die Freizügigkeit i. S. des Art. 11 GG.

b) Daraus ergibt sich aber noch nicht, dass auch die Gesetzgebungskompetenz nach Art. 73 Nr. 3 eingreift. VGH: Aus der Wortlautidentität des Begriffs „Freizügigkeit“ in Art. 73 Nr. 3 GG und Art. 11 I GG folgt nicht die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz des Bundes. Vielmehr ist der Begriff der „Freizügigkeit“ in Art. 73 Nr. 3 GG enger auszulegen als jener des Art. 11 I GG (eingehende Diskussion und weitere Nachw. bei Seiler VBlBW 2004, 93, sowie bei Schnapp NWVBl 2003, 484). Für diese Auffassung spricht vor allem, dass der Kriminalvorbehalt in Art. 11 II GG („um strafbaren Handlungen vorzubeugen“) sich auf Landesrecht bezieht, da die Verhütung und Unterbindung strafbarer Handlungen nach allgemeinem Polizeirecht in die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz der Länder fällt. Der Gesetzesvorbehalt des Art. 11 II GG würde ansonsten weitgehend leer laufen. Daher ist das in die Landeskompetenz fallende Recht der Gefahrenabwehr von der Bundeskompetenz des Art. 73 Nr. 3 GG auszunehmen.

Folglich scheitert hier die Anwendung des § 3 PolG nicht an der fehlenden Gesetzgebungskompetenz des Landes.

4. Auch das Bundes-Gewaltschutzgesetz (BGBl 2001, 3513, Schönfelder Ergänzungsband Nr. 49) hindert nicht die Anwendung des landesrechtlichen Polizeirechts, sondern beide rechtliche Regelungen ergänzen sich. VGH S. 89: Es würde Sinn und Zweck des Gewaltschutzgesetzes, den Opfern häuslicher Gewalt beizustehen und deren Schutz zu verbessern, zuwiderlaufen, wenn hierdurch der Rückgriff auf den in aller Regel schnelleren polizeilichen Schutz…ausgeschlossen wäre.

Folglich ist die polizeirechtliche Generalklausel die anwendbare Ermächtigungsgrundlage für die Anordnung vom 20. 12.

II. Da an die formelle Rechtmäßigkeit einer solchen polizeilichen Eilmaßnahme nur geringe Anforderungen zu stellen sind und im vorliegenden Fall insoweit keine Bedenken bestehen, sind die (materiellen) Voraussetzungen des § 3 PolG (Generalklausel) zu prüfen. Es könnte eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit vorgelegen haben.

1. Allerdings ist § 3 verfassungskonform einschränkend auszulegen, wenn andernfalls eine Verletzung des Art. 11 GG vorliegen würde.

Es handelt sich um einen gleichen Gedankengang wie in dem in Heft 9 behandelten Fall „Polizeikontrolle in kurdischer Teestube“ unter B III 2. Während es dort aber um eine speziellere Ermächtigungsgrundlage (Standardmaßnahme Betreten einer Wohnung) ging, bei der die Alternative bestand, die Verfassungsmäßigkeit der Vorschrift zu prüfen, ist das hier nicht der Fall: Die polizeirechtliche Generalklausel kann nicht deshalb für (teil-)verfassungswidrig erklärt werden, weil ihre Anwendung in Ausnahmefällen nicht mit Vorschriften des GG (Gesetzgebungskompetenz, Grundrechte) übereinstimmt, sondern sie kann nur mit Rücksicht auf solche Kollisionen einengend ausgelegt werden.

a) Dass in einem derartigen Fall ein Eingriff in den Schutzbereich der Freizügigkeit vorliegt, wurde bereits festgestellt (oben I 3a).

b) Eine einschränkende Auslegung des § 3 ist geboten, wenn die vorgenommene Maßnahme nicht nach Art. 11 II GG gerechtfertigt werden kann. VGH S. 89: Nach dem qualifizierten Gesetzesvorbehalt in Art. 11 II GG darf das Recht auf Freizügigkeit nur durch Gesetz und unter anderem nur für die Fälle eingeschränkt werden, in denen eine derartige Einschränkung erforderlich ist, „um strafbaren Handlungen vorzubeugen“. Es reicht danach nicht aus, dass die Voraussetzungen einer allgemeinen polizeilichen Gefahr…vorliegen. Vielmehr müssen bei verfassungskonformer Auslegung der polizeilichen Generalklausel die qualifizierten Voraussetzungen des Art. 11 II GG gegeben sein. Freizügigkeitsbeschränkende Maßnahmen wie ein Wohnungsverweis sind demnach grundsätzlich nur zur Vorbeugung strafbarer Handlungen, mithin regelmäßig nur in Fällen häuslicher Gewalt zur Verhinderung von Gewalt- und Nötigungsdelikten zulässig.

2. Also liegt hier nur eine Gefahr vor, wenn eine Straftat drohte. Das ist allerdings nicht der Fall.

a) VGH S. 89: Nach dem maßgeblichen Kenntnisstand der Polizei im Zeitpunkt ihres Einschreitens („ex ante – Sicht“) bestanden keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass durch den Kl. Gewalttätigkeiten oder sonstige strafbare Handlungen drohten…Insbesondere bestand kein Anlass zu der Annahme, der Kl. werde durch strafbares Tun oder Unterlassen dazu beitragen, dass sein Partner die Selbstmordandrohung realisieren würde. Vielmehr hat K durch die Mitteilung an die Polizei den Selbstmord gerade verhindern wollen. Dass er sich von P hat trennen wollen, verstößt nicht gegen strafbewehrte Rechtsvorschriften.

b) Ob Art. 11 II GG Maßnahmen auch dann zulässt, wenn eine Straftat durch einen Dritten droht, kann hier offen bleiben. Denn selbst wenn man den Kriminalvorbehalt des Art. 11 II GG so versteht, dass er nicht ausdrücklich die Verhinderung von strafbaren Handlungen gerade des durch den Wohnungsverweis Betroffenen fordert (vgl. hierzu Schnapp NWVBl 484 [491] m. w. Nachw.), ergibt sich nichts anderes. Angesichts der grundsätzlichen Straflosigkeit des Selbstmordversuchs war auch vom Partner des Kl. keine strafbare Handlung i. S. des Art. 11 II GG zu befürchten.

c) Ein Einschreiten gegen K allein deshalb zuzulassen, weil das Leben des P gefährdet war, verstieße gegen den Gesetzesvorbehalt. Zum Schutze des P vor sich selbst musste ggfs. gegen diesen vorgegangen werden, etwa durch Ingewahrsamnahme nach dem PolG oder äußerstenfalls durch eine vorübergehende Unterbringung nach dem Gesetz über die Unterbringung psychisch Kranker (VGH S. 89 re. Sp.).

3. Somit liegen die Voraussetzungen der verfassungskonform ausgelegten polizeilichen Generalklausel nicht vor. Die Anordnung vom 20. 12. hatte keine Ermächtigungsgrundlage und war rechtswidrig. Dies verletzte K in seinem Recht aus Art. 11 GG. Eine Fortsetzungsfeststellungsklage wäre begründet und würde zu der Feststellung führen, dass die Anordnung vom 20. 12. rechtswidrig war.

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Zusammenfassung