Amtsgericht – Familiengericht – Hameln Urteil vom 8. 9. 2005 (31 F 357/04) NJW 2006, 1441
Fall (Verschollene Ehefrau)
Die Eheleute M und F sind nach ihrer Eheschließung in eine gemeinsame Wohnung gezogen. Drei Monate später, am 10. 8., verließ M wie gewöhnlich nach dem Frühstück die Wohnung und fuhr zu seinem Arbeitsplatz. F wurde noch gesehen, wie sie zum Zwecke des Studiums mit dem Fahrrad zur Uni fuhr. Seitdem fehlt jede Spur von ihr. Langdauernde Versuche des M und der Polizei, den Verbleib der F aufzuklären, blieben erfolglos. Polizei und Staatsanwaltschaft, die von einem Tötungsdelikt ausgehen, haben das Ermittlungsverfahren inzwischen eingestellt. M, der seine Ehefrau ebenfalls für tot hält, ist fünf Jahre später eine neue Partnerschaft eingegangen und möchte die Partnerin heiraten. Er hat gegen F in formell fehlerfreier Weise einen Antrag auf Ehescheidung Weise erhoben. Scheidungsantrag und Ladung wurden der F öffentlich zugestellt; F hat sich nicht gemeldet. Wie wird das zuständige Familiengericht über den Antrag entscheiden ?
I. Eine zulässige Klage gegen eine natürliche Person setzt voraus, dass die Person lebt (vgl. § 50 I ZPO, die Vorschrift über die Parteifähigkeit, die auf die Rechtsfähigkeit abstellt; diese setzt aber wiederum die Existenz der Person voraus).
1. AG Hameln: Hier bestehen erhebliche Zweifel, ob die Ag. noch parteifähig ist, weil die dafür erforderliche Rechtsfähigkeit i. S. von § 50 I ZPO mit dem Tod … der Partei endet und das Gericht die erheblichen Zweifel der StA und des Ast. am Fortleben der Ag. teilt.
2. Fraglich ist, welche Folge diese Zweifel haben.
a) Das AG erwähnt eine Ansicht, wonach bei ernstlichen Zweifeln an der Rechtsfähigkeit einer Partei eine Klage gegen diese Partei unzulässig ist (so KG FamRZ 1975, 693 m. w. Nachw.). Grundsätzlich ist dieser Auffassung zu folgen, weil andernfalls die Gefahr besteht, dass der Prozess gegen eine nichtexistierende Person geführt wird und deshalb keine Rechtsfolge haben kann, insbesondere auch auf Beklagtenseite niemand für die Prozesskosten aufkommt.
b) Anders liegt es aber, wenn eine Vermutung eingreift. AG: Nach § 292 ZPO ist in einem Zivilprozess in den Fällen, in denen eine Gesetzesvorschrift für das Vorhandensein einer Tatsache eine Vermutung aufstellt, diese Vermutung zu Grunde zu legen, solange nicht das Gegenteil bewiesen ist.
aa) Hier ergibt sich aus § 10 VerschollenheitsG die gesetzliche Vermutung, dass die Ag. zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung noch gelebt hat. Die Ag. ist nämlich als verschollen i. S. von § 1 I VerschG anzusehen. So ist ihr Aufenthalt seit gut fünf Jahren unbekannt. Irgendwelche Nachrichten darüber, dass sie in dieser Zeit noch gelebt hat oder gestorben ist, liegen nicht vor. Ebenso bestehen insbesondere unter Berücksichtigung der staatsanwaltlichen Ermittlungen ernstliche Zweifel am Fortleben der Ag., da bei vernünftiger Betrachtungsweise Leben und Tod gleichermaßen ungewiss bzw. wahrscheinlich sind (…).
bb) Allerdings ist nach § 1 II VerschG nicht verschollen, wessen Tod nach den Umständen nicht zweifelhaft ist. AG: Eine solche … zweifelsfreie Feststellung kann nicht getroffen werden… Da es keine Augenzeugen für einen etwaigen Tod der Ag. gibt, ist in diesem Fall Maßstab die allgemeine Lebenserfahrung (Staudinger/Habermann, BGB, Neubearb. 2004, § 1 VerschG Rdnr. 11 m. w. Nachw.). Danach kann etwa in den Fällen, in denen die betroffene Person die erfahrungsgemäß höchstmögliche Lebenszeit überschritten hat oder offenkundig Opfer einer Explosion eines Flugzeugs geworden ist, … der Tod der Person angenommen werden. Ein solcher Fall liegt hier aber nicht vor. So ist neben dem Tod der Ag. zumindest auch deren Entführung durch eine dritte Person denkbar.
c) Gilt die Ag. aber als verschollen, greift die Lebendvermutung des § 10 VerschG ein (OLG Celle FamRZ 2005, 1492). Gemäß § 292 ZPO i. V. mit §§ 10, 9 IIIa, 3 VerschG ist daher davon auszugehen, dass die Ag. zum Zeitpunkt der Klageerhebung und der mündlichen Verhandlung … noch gelebt hat und damit parteifähig i. S. von § 50 ZPO gewesen ist (vgl. Wieczorek, ZPO, Bd. III, 1957, § 628 a. F. , Rdnr. B III).
d) Dass F höchstwahrscheinlich tot ist, ist für das gewonnene Ergebnis unerheblich.AG: Die Anwendung des § 292 ZPO ist nicht dadurch ausgeschlossen, dass ein Fortleben der Ag. sehr unwahrscheinlich ist. Eine bloße Erschütterung oder Unwahrscheinlichkeit der gesetzlichen Vermutung reicht für deren Widerlegung nicht aus. Vielmehr ist der volle Beweis des Gegenteils erforderlich (Zöller/Greger, ZPO, 23. Aufl., § 292 Rdnr. 2 m. w. Nachw.).
3. Der Klage fehlt auch nicht das Rechtsschutzbedürfnis aus dem Grund, weil M der einfachere Weg zur Verfügung stünde, F für tot zu erklären. AG: Gemäß § 3 I VerschG ist eines solche Todeserklärung erst zulässig, wenn seit dem Verschwinden der Ag. zehn Jahre vergangen sind. In Hinblick auf die beabsichtigte erneute Heirat und gegebenenfalls die Gründung einer neuen Familie, welches beides durch Art. 6 GG geschützt ist, besteht zudem ein berechtigtes Interesse an der Durchführung des Ehescheidungsverfahrens zum jetzigen Zeitpunkt.
Somit war der Antrag zulässig.
II. Begründet ist der Antrag, wenn die Voraussetzungen für eine Ehescheidung vorliegen. Nach § 1565 I 1 BGB wird die Ehe geschieden, wenn sie gescheitert ist. Nach § 1566 II wird unwiderlegbar vermutet, dass die Ehe gescheitert ist. wenn die Ehegatten seit drei Jahren getrennt leben.
AG: Das Gericht hat die Ehe der Parteien gem. §§ 1564, 1565 I BGB geschieden. Da die Parteien seit mehr als drei Jahren nicht mehr zusammengelebt haben, ist das Scheitern der Ehe gem. § 1566 II BGB unwiderlegbar zu vermuten.
III. AG: Im Regelfall hat gem. § 1587 I BGB ein Ausgleich der in der Ehezeit erworbenen Versorgungsanwartschaften zu erfolgen. Im vorliegenden Fall wäre ein Ausgleich der Versorgungsanwartschaften nach § 1587c Nr. 1 BGB jedoch unbillig, da die Eheleute während der gesamten Ehezeit nicht einmal drei Monate zusammengelebt und keine lang andauernde Versorgungsgemeinschaft gebildet haben.
Zusammenfassung