Bearbeiter: Dr. Gernot Schmalz-Brüggemann, Stand: Januar 2006

Einleitender Aufsatz: Nachbarrecht und Beseitigungsanspruch

Beim Nachbarrecht handelt sich um ein wichtiges Teilgebiet des Sachenrechts. Hierbei werfen die auftretenden Fallgestaltungen zahlreiche Fragen auf, die allein mit dem Gesetz nicht beantwortet werden können, sondern bei dem auch Kenntnisse der Rechtsprechung erforderlich sind. Nachbarrechtliche Fälle finden sich in der Sammlung des Juratelegramm entsprechend ihrer Bedeutung in der Praxis und für die Examensprüfungen entsprechend sehr viele. Systematisch werden sie bei § 1004 BGB eingeordnet. Auch ansonsten findet man zahlreiche Veröffentlichungen. Neuner hat in JuS 2005 S. 385 ff. und 487 ff. „Das nachbarrechtliche Haftungssystem“ behandelt und Wenzel in NJW 2005, 241 ff. den „Störer und seine verschuldensunabhängige Haftung im Nachbarrecht“. Dabei hat auch der Beseitigungsanspruch nach § 1004 BGB eine zentrale Funktion. Nachfolgend wird ein Überblick über die gesetzliche Regelung und die diese ergänzende Rspr. gegeben.

 

A. Unterlassungs- und Duldungspflichten

I. Dem Verhältnis der Nachbarn liegt die Entscheidung des Gesetzes zu Grunde, dass jeder Grundstückseigentümer (E1) mit seiner Sache nach Belieben verfahren und andere (E2) von der Einwirkung ausschließen kann (§ 903 BGB). Dementsprechend hat E2 Beeinträchtigungen des Eigentums des E1 zu unterlassen. Die unter B. zu behandelnden Anspruchsgrundlagen dienen der Durchsetzung dieses Grundsatzes. Fallgruppen nachbarlicher Beeinträchtigung sind Immissionen (§ 906 BGB), gefahrdrohende Anlagen (§ 907), drohender Gebäudeeinsturz (§ 908), Vertiefung des Nachbargrundstücks (§ 909), Überbau von einem Grundstück auf das andere (§ 912), umstürzende Bäume, ins Nachbargrundstück eindringende Wurzeln (BGH NJW 2004, 603).

II. Praktisch wesentliche Frage ist, ob E1 zur Duldung verpflichtet und das Handeln des E2 deshalb rechtmäßig ist.

1. Eine Duldungspflicht kann sich aus einer Spezialregelung ergeben, z. B. beim entschuldigten Überbau aus § 912 I, bei einer nach BImSchG unanfechtbar genehmigten Anlage aus § 14 S. 1 BImSchG.

2. Duldungspflichten bei Immissionen („unwägbaren Stoffen“) regelt § 906 und erstreckt diese auf

a) unwesentliche Beeinträchtigungen (§ 906 I);

b) auf wesentliche, aber ortsübliche und durch zumutbare Maßnahmen nicht zu verhindernde Einwirkungen (§ 906 II 1).

3. Eine Duldungspflicht hat die Rspr. angenommen bei Betrieben und Anlagen, die im überwiegenden Allgemeininteresse liegen, vor allem soweit sie der Versorgung und Entsorgung dienen, ferner auch bei einem Drogenhilfezentrum (BGHZ 144, 200, 205).

4. Ausnahmsweise kann sich eine Duldungspflicht aus einem „nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnis“ ergeben (BGHZ 148, 261, Hammerschmiede; BGH NJW 2003, 1392, Abwasserrohr), was insbesondere Bedeutung bei nicht unter § 906 fallenden sog. Grobimmissionen hat (z. B. Bälle von einer Sportanlage).

Im Fallaufbau sind diese Vorschriften regelmäßig innerhalb (inzidenter) der nachfolgenden Anspruchsgrundlagen zu prüfen (z. B. innerhalb des § 823 I bei „widerrechtlich“, innerhalb des § 1004 II bei der Frage, ob „zur Duldung verpflichtet“).

B. Die Anspruchsgrundlagen

I. Als deliktische Ansprüche im weiteren Sinne kommen in Betracht

1. Ansprüche aus Gefährdungshaftung (z. B. bei Unfällen wegen einer auf dem Nachbargrundstück befindlichen Strom- und Rohrleitungsanlagen aus § 2 HaftpflG);

2. § 823 I BGB;

3. § 823 II wegen Verletzung eines dem Schutz des Nachbarn dienenden Schutzgesetzes (z. B. nach §§ 906 ff. BGB; aus dem öffentlichen Baurecht);

4. bei Einsturz eines Gebäudes oder der Ablösung von Gebäudeteilen, § 836 BGB.

II. § 1004 BGB

1. § 1004 I Satz 1 regelt den Anspruch auf Beseitigung einer erfolgten Eigentumsbeeinträchtigung.

2. § 1004 I Satz 2 gewährt einen Unterlassungsanspruch, wenn „weitere Beeinträchtigungen“ drohen, ist aber bereits auf noch nicht erfolgte, zu befürchtende Beeinträchtigungen anwendbar (BGH NJW 2004, 3702; Neuner JuS 2005, 489 und Fn. 37).

III. Entschädigungsanspruch ohne Verschulden

1. Nach § 906 II 2 BGB besteht ein Entschädigungsanspruch im Falle des § 906 II 1, also wenn eine wesentliche, aber ortsübliche Immission zu dulden ist (oben A II 2b) und wenn die Beeinträchtigung das zumutbare Maß übersteigt (dazu Wenzel NJW 2005, 243 ff.). Es handelt sich um einen nachbarrechtlichen Ausgleichsanspruch, der als Fall eines privatrechtlichen Aufopferungsanspruchs verstanden wird (Neuner JuS 2005, 490) und in die Nähe einer Gefährdungshaftung kommt (Neuner S. 491).

2. § 906 II 2 findet darüber hinaus analoge Anwendung (Wenzel NJW 2005, 246; Neuner JuS 2005, 491)

a) auf Fälle, in denen eine wesentliche Beeinträchtigung aus überwiegendem öffentlichen Interesse zu dulden ist (oben A II 3); oder

b) wenn ausnahmsweise Grobimmissionen zu dulden sind (oben A II 4).

c) Wichtigster Fall der analogen Anwendung ist der sog. faktische Duldungszwang, der naturgemäß oben A II nicht aufgeführt werden konnte. Voraussetzungen sind eine von E2 ausgehende Einwirkung auf das Eigentum des E1, die E1 rechtlich nicht zu dulden brauchte, sie also hätte verhindern können, was aber aus besonderen Gründen faktisch nicht möglich war, so dass E1 sie hat hinnehmen müssen (BGHZ 155, 99, 102). Grund ist, dass der rechtswidrig Verletzte nicht schlechter stehen darf, als er bei einem rechtmäßigen Eingriff stehen würde (Wenzel NJW 2005, 246). Beispiele sind Überschwemmungsschäden infolge des Bruchs einer auf dem Nachbargrundstück verlaufenden Wasserleitung (BGHZ 155, 99) und das Übergreifen eines durch einen Defekt hervorgerufenen Brandes auf dem Nachbargrundstück (BGHZ 142, 66).