Bearbeiter: Dr. Gernot Schmalz-Brüggemann

Anfechtung eines Arbeitsvertrages wegen arglistiger Täuschung, § 123 BGB. Keine geschlechtsbezogene Benachteiligung, § 611 a I BGB. Europarechtskonforme Auslegung des § 611 a I BGB. Recht zur Lüge bei der Frage nach der Schwangerschaft

BAG Urteil vom 6. 2. 2003 (2 AZR 621/01) www.bundesarbeitsgericht.de = NZA 2003, 848

Fall (Schwangere Wäschereigehilfin)

Firma F betreibt eine Wäscherei und stellte Frau W mit Vertrag vom 3. 5. als Wäschereimitarbeiterin ein. Nach dem schriftlich geschlossenen Arbeitsvertrag sollte W alle verkehrsüblichen Arbeiten einer Wäschereigehilfin leisten. In § 8 des Vertrages heißt es: „Die Arbeitnehmerin versichert, dass keine Schwangerschaft vorliegt.“ Einen Monat später legte W der Firma F eine vom 11. 4. stammende Bescheinigung ihrer Frauenärztin vor, nach der bei ihr eine Schwangerschaft besteht. Zugleich berief sich W darauf, dass sie die Arbeit an dem vorgesehenen Arbeitsplatz aus mutterschutzrechtlichen Gründen nicht leisten könne, und bat um die vorübergehende Zuweisung eines anderen Arbeitsplatzes. F erklärte, sie habe keine für Schwangere geeignete Arbeit und fechte den Arbeitsvertrag wegen arglistiger Täuschung und Irrtums an. Hat die Anfechtungserklärung der F zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses geführt ?

I. Die Anfechtungserklärung könnte nach §§ 123 I, 124, 142 I, 143 BGB zum nachträglichen Wegfall des Arbeitsvertrages und damit zur rückwirkenden Beendigung des Arbeitsverhältnisses geführt haben. Das wäre allerdings ausgeschlossen, wenn die Anfechtung beim Arbeitsvertrag durch der Möglichkeit der (fristlosen) Kündigung aus wichtigem Grund (§ 626 BGB) verdrängt würde. Das ist aber nicht der Fall: Die Anfechtung hat weitergehende Rechtsfolgen als die Kündigung, insbesondere gelten bei ihr nicht die Kündigungsbeschränkungen aus § 9 MuSchuG und § 102 BetrVerfG. Im Interesse des Grundsatzes der Privatautonomie, wonach Verträge, durch die ein Beteiligter durch arglistige Täuschung bewogen wurde, nicht verbindlich bleiben dürfen, darf § 123 nicht vollständig ausgeschlossen werden (BAGE 75, 77, 80). § 123 BGB bleibt somit anwendbar.

II. W müsste eine arglistige Täuschung i. S. des § 123 I begangen haben.

1. Wird zunächst nur vom Wortlaut des § 123 I ausgegangen, hat W durch die falsche Behauptung, sie sei nicht schwanger, den Vertreter der Firma F getäuscht. Diese Täuschung war auch arglistig, weil F dadurch zum Abschluss des Arbeitsvertrages veranlasst werden sollte und veranlasst worden ist. Die dem § 8 des Arbeitsvertrages vorgelagerte Frage nach der Schwangerschaft hatte offensichtlich den Sinn, bei bestehender Schwangerschaft eine Einstellung als Wäschereigehilfin nicht vorzunehmen, was W auch wusste, weil sie andernfalls keinen Anlass für die unzutreffende Versicherung gehabt hätte.

2. Es könnte jedoch eine einschränkende Auslegung des § 123 I geboten sein und zu dessen Nichtanwendung führen.

a) Ansatzpunkt hierfür ist, dass der Begriff der Arglist davon ausgeht, dass das Verhalten als Unrecht gewertet wird, und dass deshalb die weitgehende Folge eines Wegfalls der Vertragsbindung eintritt. Daran fehlt es aber, wenn ein Verhalten nicht rechtswidrig, sondern gerechtfertigt ist. BAG unter B I 2 (Rdnr. 17): Zur Anfechtung nach § 123 Abs. 1 BGB berechtigt lediglich die wahrheitswidrige Beantwortung einer in zulässiger Weise gestellten Frage; eine solche setzt ein berechtigtes, billigenswertes und schutzwürdiges Interesse an der Beantwortung voraus. Fehlt es hieran, ist die wahrheitswidrige Beantwortung nicht rechtswidrig (BAG 28. Mai 1998 – 2 AZR 549/97 – AP BGB § 123 Nr. 46). Dass dadurch praktisch ein Recht zur Lüge eingeräumt wird, ist die unvermeidliche Folge davon, dass dem Arbeitnehmer nicht zugemutet wird, die Antwort auf eine unzulässige Frage zu verweigern. Denn dann würde er die Stelle nicht bekommen, und der Schutzzweck des Gedankens, dass bestimmte Fragen im Interesse und zum Schutz des Arbeitnehmers nicht gestellt werden dürfen, würde verfehlt. Braucht er die Antwort nicht zu verweigern und auch nicht die Wahrheit zu sagen, bleibt nur ein Recht zur Lüge übrig.

b) Somit kommt es darauf an, ob die Frage nach der Schwangerschaft zulässig ist. Sie könnte unzulässig sein, weil sie gegen das Diskriminierungsverbot des § 611 a I 1 BGB verstößt. Danach darf der Arbeitgeber den Arbeitnehmer bei einer Maßnahme, insbesondere bei der Begründung des Arbeitsverhältnisses, nicht wegen seines Geschlechts benachteiligen. Im Ergebnis werden Frauen bei der Frage nach der Schwangerschaft schlechter gestellt als Männer. Andererseits könnte eine Benachteiligung mit der Begründung verneint werden, der Sinn dieser Frage bestehe darin, die Verwendungsfähigkeit der Arbeitnehmerin für den vorgesehenen Arbeitsplatz abzuklären, wozu der Arbeitgeber auch im Interesse der Arbeitnehmerin berechtigt sein müsse (vgl. auch § 611 a I Satz 2 BGB). Für die Entscheidung dieser Frage bedarf es einer Auslegung des § 611 a I 1 BGB.

c) Dabei nimmt das BAG eine europarechtskonforme Auslegung vor und berücksichtigt dabei die einschlägige Richtlinie und die Rechtsprechung des EuGH.

BAG unter B I 2 c aa (Rdnr. 21): Die Vorschrift des § 611 a BGB beruht auf der Umsetzung der Richtlinie 76/207/EWG (ABl. 1976 Nr. L 39/40) durch den deutschen Gesetzgeber. Ein nationales Gericht muss die Auslegung innerstaatlichen Rechts soweit wie möglich am Wortlaut und Zweck einschlägiger Richtlinien ausrichten, um das mit ihnen verfolgte Ziel zu erreichen (BAGE 82, 349). Dieser Grundsatz folgt aus dem Vorrang des Gemeinschaftsrechts vor dem nationalen Recht. Dabei kommt der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs besondere Bedeutung zu. Anschließend referiert das BAG die Rspr. des EuGH und führt unter B I 2 c bb (Rdnr. 25, 26) aus: Nach der Entscheidung des EuGH vom 3. Februar 2000 (EuGHE I 2000, 549, Mahlburg/Mecklenburg-Vorpommern) verbietet Art. 2 Abs. 1 und 3 der Richtlinie 76/207/EWG es, eine Schwangere deshalb nicht auf eine unbefristete Stelle einzustellen, weil sie für die Dauer der Schwangerschaft wegen eines auf ihren Zustand folgenden gesetzlichen Beschäftigungsverbots auf dieser Stelle von Anfang an nicht beschäftigt werden darf… In Übereinstimmung mit dieser gefestigten Rechtsprechung des EuGH geht der Senat davon aus, dass die Frage nach einer Schwangerschaft bei (geplanten) unbefristeten Arbeitsverhältnissen regelmäßig gegen die Richtlinie 76/207/EWG verstößt (folgen Nachweise).

d) Maßgeblich ist, dass die Bewerberin bei einem unbefristeten Arbeitsverhältnis nach Ablauf des Mutterschutzes in der Lage ist, der vertraglich vorgesehenen Tätigkeit nachzugehen. Das vorübergehende Beschäftigungshindernis tritt bei wertender Einbeziehung des Schutzzwecks der Richtlinie zurück. Ein bestimmtes Geschlecht ist nicht „unverzichtbare Voraussetzung“ (§ 611 a Abs. 1 Satz 2 BGB) für die auszuübende Tätigkeit. Denn nach Ablauf der Schutzfristen kann die Frau die vereinbarte Arbeit leisten. Das nach dem unbefristeten Arbeitsvertrag vorausgesetzte langfristige Gleichgewicht ist durch das befristete Beschäftigungsverbot nicht entscheidend gestört. Die erkennbare Zielrichtung der Frage nach der Schwangerschaft besteht dagegen darin, die Bewerberin bei einer Bejahung der Frage schon wegen der Schwangerschaft, folglich wegen des Geschlechts, nicht einzustellen. Eben dies will § 611 a Abs. 1 Satz 1 BGB verhindern.

Die letztere Überlegung zeigt allerdings, dass sich das Ergebnis bereits aus einer normalen Auslegung des § 611 a gewinnen lässt und es einer europarechtskonformen Auslegung gar nicht bedurft hätte. Beide Auslegungen stützen sich aber und verstärken die Überzeugungskraft des Gedankenganges.

3. Folglich war die Frage nach der Schwangerschaft nicht zulässig. Ihre falsche Beantwortung war nicht rechtswidrig und rechtfertigt nicht die Annahme einer arglistigen Täuschung i. S. des § 123 I BGB. Die Anfechtungserklärung der F hat das Arbeitsverhältnis nicht beendet.

Dass sich obige Überlegungen zunächst nur auf unbefristete Arbeitsverhältnisse bezogen, hat seinen Grund darin, dass im Falle einer Befristung – wie sie heute ja vielfach erfolgt – die Arbeitnehmerin möglicherweise überhaupt nicht zur Arbeitsleistung in der Lage ist und dass das eine andere Beurteilung rechtfertigen könnte. Der EuGH (NZA 2001, 1241/3) hat obige Grundsätze aber auch auf befristete Arbeitsverhältnisse erstreckt, so dass anzunehmen ist, dass auch das BAG die genannte Beschränkung nicht aufrechterhält. Dann wäre die Frage nach der Schwangerschaft unabhängig davon unzulässig, ob es sich um ein unbefristetes oder befristetes Arbeitsverhältnis handelt.– In der Praxis könnte sich die frauenfreundliche Rechtslage allerdings „kontraproduktiv“ auswirken, wenn wegen der Unzulässigkeit der Frage nach der Schwangerschaft weibliche Stellenbewerber unter den generellen Verdacht gerieten, sie könnten schwanger sein und alsbald ausfallen. Um das zu vermeiden, könnte es faktisch nach wie vor sinnvoll sein, bei einem Einstellungsgespräch die Frage der Schwangerschaft anzusprechen und abzuklären.

III. Der Anfechtungsgrund des § 119 II BGB hat einen Irrtum über eine verkehrswesentliche Eigenschaft zur Voraussetzung. Der natürliche und vorübergehende Zustand der Schwangerschaft ist aber, insbesondere nach der Wertung des § 611 a BGB und des Mutterschutzgesetzes, keine für den Arbeitsvertrag verkehrswesentliche Eigenschaft. Auch dieser Anfechtungsgrund greift somit nicht ein.

Zusammenfassung