Bearbeiter: Dr. Gernot Schmalz-Brüggemann
Der nachfolgende Fall gehört zum Rechtsgebiet des innerbetrieblichen Schadensausgleichs. Hier geht es um die Haftung für Personenschäden, für die eine Unfallversicherung nach SGB VII (Gesetzliche Unfallversicherung) besteht. Da der Arbeitgeber die Beiträge für diese Versicherung bezahlt, wird er selbst von der Haftung für Personenschäden freigestellt.
§ 104 I 1 SGB VII. Beschränkung der Haftung der Unternehmer
Unternehmer sind den Versicherten, die für ihre Unternehmen tätig sind…, nach anderen gesetzlichen Vorschriften zum Ersatz des Personenschadens, den ein Versicherungsfall verursacht hat, nur verpflichtet, wenn sie den Versicherungsfall vorsätzlich…herbeigeführt haben.
Eine solche Haftungsbeschränkung gilt nach § 105 SGB VII auch zwischen Arbeitnehmern, womit sich der folgende Fall befasst. Sie gilt nach § 106 SGB VII auch im Verhältnis zu Dritten, wenn diese versichert und auf einer gemeinsamen Betriebsstätte tätig sind (dazu BGHZ 155, 205 = JurTel 2004 Heft 6 S. 117, ferner JuS 2004, 454 und 662). §§ 104 – 106 SGB VII bilden den sozialrechtlichen Haftungsausschluss bei Arbeitsunfällen.
► Schadensersatzanspruch aus § 823 I BGB. ► Sozialrechtlicher Haftungsausschluss für Personenschäden wegen vorrangiger Unfallversicherung, § 105 I SGB VII. ► Betriebliche Tätigkeit bei Streit unter Arbeitskollegen
BAG Urteil vom 22. 4. 2004 (8 AZR 159/03) NJW 2004, 3360
Fall (Schubser vor die Brust)
A und B waren im Betrieb einer Spedition als Lkw-Fahrer tätig. Am 20. 2. hatten sie Lkw zu entladen. Während B dieser Arbeit nachgegangen war, erschien A erst später und gab an, er habe einen der Lkw betankt. B fragte, warum er „jetzt erst vom Tanken“ komme und beim Abladen nicht mitgeholfen habe, und gab ihm als Zeichen der Missbilligung einen Stoß vor die Brust. Obwohl dieser nicht sehr stark war, machte A einen Schritt zurück und stolperte über die Handgriffe eines hinter ihm stehenden Schubkarrens. Er fiel hin und prallte mit dem Rücken auf eine Stahlschiene. Dabei verletzte er sich den Rücken so schwer, dass er seitdem an beiden Beinen gelähmt und arbeitsunfähig ist. Er musste auch seine Nebentätigkeit als Hausmeister aufgeben. Die Berufsgenossenschaft zahlt ihm Verletztengeld. A verlangt von B den Ersatz weitergehenden Schadens und ein Schmerzensgeld. Zu Recht ?
I. Anspruchsgrundlage ist § 823 I BGB. Durch den Stoß vor die Brust mit den dadurch verursachten Folgen hat B den Körper und die Gesundheit des A widerrechtlich verletzt. Das Verhalten des B war auch schuldhaft (fahrlässig), weil B bei dem für A offenbar überraschenden Stoß damit rechnen musste, dass A ins Taumeln kam und sich beim Hinfallen verletzen konnte. Auf dieser Grundlage würde B dem A auf vollen Schadensersatz (§ 249 BGB) einschließlich Schmerzensgeld (§ 253 II BGB) haften.
II. Dem Anspruch könnte aber § 105 I SGB VII entgegenstehen.
1. BAG S. 3361 unter 1: Nach § 105 I SGB VII sind Personen, die durch eine betriebliche Tätigkeit einen Versicherungsfall von Versicherten desselben Betriebs verursachen, diesen sowie deren Angehörigen und Hinterbliebenen nach anderen gesetzlichen Vorschriften zum Ersatz des Personenschadens nur verpflichtet, wenn sie den Versicherungsfall vorsätzlich…herbeigeführt haben. Das Haftungsprivileg des Unternehmers nach § 104 SGB VII gilt damit auch im Verhältnis der Mitarbeiter untereinander.
2. Sinn und Zweck des gesetzlich angeordneten Haftungsausschlusses der §§ 104 ff. SGB VII ist es zum einen, den Arbeitgeber von einer Einstandspflicht nach privatrechtlichen Maßstäben zu befreien, und zum anderen, den Betriebsfrieden zu sichern (Blomeyer, in: Münchener Hdb. zum ArbeitsR, Bd. 1, § 61 Rdnr. 2). Eine Einstandspflicht des Arbeitgebers könnte sich daraus ergeben, dass der für den Unfall verantwortliche Arbeitnehmer (hier B), wenn dieser dem Verletzten (A) zivilrechtlich zum Schadensersatz verpflichtet ist, gegenüber dem Arbeitgeber nach Maßgabe des innerbetrieblichen Schadensausgleichs Freistellung wegen dieser Ansprüche verlangen kann. Im Ergebnis müsste der Arbeitgeber nicht nur die Kosten der gesetzlichen Unfallversicherung tragen, sondern auch für den Schadensersatzanspruch einstehen…. Diese Kollision von Zivil- und Sozialrecht wird in verfassungskonformer Weise durch den Wegfall der zivilrechtlichen Ansprüche gelöst (…BVerfGE 34, 118; NJW 1995, 1607). Dem betroffenen Arbeitnehmer ist der Verlust des zivilrechtlichen Anspruchs zuzumuten, weil er dadurch statt eines zivilrechtlichen Anspruchs gegen den nur ganz begrenzt zahlungsfähigen anderen Arbeitnehmer einen Anspruch gegen einen stets leistungsfähigen Schuldner, die Berufsgenossenschaft als Körperschaft des öffentlichen Rechts (§ 29 I SGB IV), erhält.
III. Es sind die Voraussetzungen für einen Anspruchswegfall nach § 105 I SGB VII zu prüfen.
1. Es muss sich um Versicherte desselben Betriebes handeln. Dass A versichert war, ergibt sich daraus, dass er Leistungen erhält. Auch bei B ist davon auszugehen, dass er versichert war, weil Arbeitnehmer kraft Gesetzes gegen Arbeitsunfall versichert sind (§ 2 I Nr. 1 SGB VII). A und B waren auch in demselben Betrieb tätig.
2. Es muss ein Versicherungsfall vorliegen. BAG S. 3362 unter a): Voraussetzung für den Bezug von Verletztengeld ist das Vorliegen eines Versicherungsfalles gem. § 7 I SGB VII. Danach sind Versicherungsfälle Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten. Da der Kl. Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung bezieht, steht gleichzeitig fest, dass die zuständige Berufsgenossenschaft das Schadensereignis für den Kl. als Versicherungsfall (Arbeitsunfall) im Sinne des SGB VII angesehen hat. Die Gerichte für Arbeitssachen sind nach § 108 I SGB VII an die Feststellung der Berufsgenossenschaft hinsichtlich des Vorliegens eines Versicherungsfalls gebunden.
3. Der Versicherungsfall müsste von B durch eine betriebliche Tätigkeit verursacht worden sein.
a) Nach BAG S. 3362 unter aa) ist der Begriff der betrieblichen Tätigkeit grundsätzlich mit der versicherten Tätigkeit nach § 8 I 1 SCB VII gleichzusetzen… Hierfür entscheidend ist die Verursachung des Schadensereignisses durch eine Tätigkeit des Schädigers, die ihm von dem Betrieb oder für den Betrieb übertragen war oder die von ihm im Betriebsinteresse ausgeführt wurde (folgen Nachw.)… Der Begriff der betrieblichen Tätigkeit ist nicht eng auszulegen (BAG AP RVO § 637 Nr. 8). Er umfasst auch die Tätigkeiten, die in nahem Zusammenhang mit dem Betrieb und seinem betrieblichen Wirkungskreis stehen. Die Tätigkeit des Schädigers muss im vorgenannten Sinn betriebsbezogen sein.
b) Im vorliegenden Fall war nach BAG S. 3363 unter cc) der Stoß des B im Wesentlichen auf die Förderung der Betriebsinteressen ausgerichtet und damit betriebsbezogen im vorangestellten Sinn. Die Zweckbestimmung bestimmt sich aus der Person des Schädigers, nicht aus der des Geschädigten (…). Es genügt, wenn der Schädiger…aus seiner Sicht im Betriebsinteresse handelte. Zwar sind Tätlichkeiten unter Arbeitskollegen nicht zu billigen und grundsätzlich betrieblich nicht veranlasst. Im Streitfall waren die Grenzen der betrieblichen Tätigkeit jedoch noch nicht überschritten… Der Revision ist zuzugeben, dass es sich nicht um eine ausschließlich betriebsbezogene Tätigkeit des Bekl. gehandelt hat, sondern letztlich um eine gemischte Tätigkeit (privat-persönlich und betriebsbezogen). Denn die Handlung des Bekl. enthielt zum einen die Aufforderung an den Kl. zu einem vertragsgemäßen Verhalten und war zum anderen Ausdruck seines persönlichen Unmuts über das Verhalten des Kl.
BAG S. 3363 unter cc): Bei derartigen Mischhandlungen kommt es für die Annahme einer betrieblichen Tätigkeit entscheidend darauf an, zu welchem Zweck die Handlung aus Sicht des Bekl. überwiegend zu dienen bestimmt war… Der Stoß des Bekl. sollte den Kl. im Wesentlichen mit Nachdruck auf die Einhaltung der arbeitsvertraglichen Pflichten hinweisen und weder eine Körperverletzung darstellen noch eine Rauferei der Parteien einleiten. Das BAG hebt hervor, dass im Betrieb auch unter den Mitarbeitern eine gewisse Sozialkontrolle stattfindet, weil diese ein bestimmtes Arbeitsergebnis als Gemeinschaftsleistung schulden. Dass ein Mitarbeiter dem anderen dabei einen Schubs gibt, ist unter Lkw-Fahrern nicht völlig atypisch und kein Exzess. Es überwiegt die Betriebsbezogenheit, so dass das Verhalten (auch) eine betriebliche Tätigkeit war.
c) Ob B den Versicherungsfall verursacht hat, richtet sich nach der im Sozialrecht geltenden „Theorie der wesentlichen Bedingung“. BAG S. 3363/4 unter c): Der Stoß des Bekl. gegen den Oberkörper des Kl. am 20. 2. stellt die wesentliche Bedingung für den Eintritt des Unfallereignisses dar. Ohne den Stoß hätte der Kl. keinen Schritt rückwärts gemacht und wäre auch nicht über die hinter ihm stehende Schubkarre und letztlich zu Boden und mit dem Rücken auf die Stahlschiene gefallen.
4. Der Haftungsausschluss entfällt, wenn B vorsätzlich gehandelt hat. BAG S. 3364 unter d): Vorsatz ist das Wissen und Wollen des rechtswidrigen Erfolgs (Palandt/Heinrichs, BGB, § 276 Rdnr. 10). Der Handelnde muss den rechtswidrigen Erfolg vorausgesehen und in seinen Willen aufgenommen haben; der Erfolg muss von dem Handelnden billigend in Kauf genommen worden sein; nicht erforderlich ist, dass der Erfolg gewünscht oder beabsichtigt worden ist. Dabei genügt es nicht, dass sich der Vorsatz nur auf die Verletzungshandlung bezieht, sondern dieser muss sich auch auf den Verletzungserfolg, den Personenschaden, erstrecken (BAG NJW 2003, 1890…; ebenso wie oben im Fall „Selbstbeteiligung nach Parkunfall“ unter II 3, 1. Punkt). Der Bekl. hat weder das Unfallereignis noch den Personenschaden des Kl. vorsätzlich herbeigeführt.
IV. Somit entfällt die Haftung des B für den Personenschaden des A. Nach BAG S. 3361/2 unter 2 fallen unter die Personenschäden nicht nur immaterielle Schäden (Schmerzensgeld), sondern auch Vermögensschäden wegen der Verletzung oder Tötung des Versicherten… A hatte geltend gemacht, ihm entstandene Kosten, insbesondere Pkw-Kosten durch Arzt- und Krankengymnastiktermine sowie der Verdienstausfall für seine Hausmeistertätigkeit, seien keine Personenschäden. Dem folgt das BAG nicht: Bei den verlangten Aufwendungen für Benzin und Unterhalt des Pkw für Behandlungstermine handelt es sich gerade nicht um Sach-, sondern vielmehr um Personenschäden, da diese erst und nur durch die Verletzung des Kl. verursacht worden sind. Auch bei den übrigen vom Kl. noch weiter verfolgten Schadensersatzansprüchen (Sportschuhe, Sporthosen, T-Shirts, Schuhe für Stützleisten, entgangener Urlaub einschl. Urlaubsgeld, entgangene vermögenswirksame Leistungen sowie erlittener Verdienstausfall) und Schmerzensgeld handelt es sich wegen deren Verursachung durch die Verletzung des Kl. ausschließlich um Personenschäden im vorgenannten Sinne. Auch der Verdienstausfall wegen Wegfalls der Hausmeistertätigkeit ist somit ein Personenschaden.
Folglich hat A keinen Schadensersatzanspruch gegen B.
Zusammenfassung