Bearbeiter: Dr. Gernot Schmalz-Brüggemann

Nichtigkeit eines Vergleichs nach § 779 BGB. Störung der Geschäftsgrundlage wegen Irrtums über wesentliche Umstände i. S. des § 313 II, I BGB. Rechtsfolge des § 313 BGB: Anpassung des Vertrages

BGH
Urteil vom 16. 9. 2008 (VI ZR 296/07) www.bundesgerichtshof.de

Fall (Abfindungsvergleich und Erwerbsunfähigkeitsrente)

Der spätere Kläger K erlitt am im Oktober 2002 einen schweren Verkehrsunfall, dessen Unfallverursacher bei der B-Versicherungsgesellschaft versichert war. K ist seitdem erwerbsunfähig und hat Anspruch auf eine Rente von der Berufsgenossenschaft G. K und sein Rechtsanwalt verhandelten mit B wegen eines Abfindungsvergleichs. Dabei wurde davon ausgegangen, dass K für die Zeit bis 2027 für die erlittene Erwerbsunfähigkeit zu entschädigen ist. Auf Anfrage teilte G den Beteiligten im August 2003 mit, dass die monatliche Erwerbsunfähigkeitsrente 1.081 Euro betrage; dieser Betrag wurde von K und B in die Berechnungen eingestellt. K und B einigten sich am 24. 10. 2003 darauf, dass B an K eine Abfindung in Höhe von 175.000 Euro zahlt. In dem „umfassenden Abfindungsvergleich“ erklärte sich K hinsichtlich aller Schadensersatzansprüche aus dem Schaden, seien sie bekannt oder nicht bekannt, vorhersehbar oder nicht vorhersehbar, nach Erhalt der 175.000 Euro für abgefunden. Er verzichtete auf jede weitere Forderung, gleich aus welchen Gründen, auch aus noch nicht erkennbaren Unfallfolgen. K nahm die Erklärung der B zur Kenntnis, dass B von G wegen der an K gezahlten Rente in Regress genommen werde und dass sie ihre Regressverpflichtung anerkenne.

Im Jahre 2005 ergab eine Nachprüfung bei G, dass bei der Mitteilung von August 2003 von den Angaben des Arbeitsgebers des K über dessen Jahres-Bruttogehalt ausgegangen worden war, dass dem Arbeitgeber dabei aber ein Schreibfehler unterlaufen sei und das Gehalt des K deutlich niedriger liege. Ab 1. 8. 2005 zahlte G deshalb dem K nur noch 756 Euro monatliche Rente und nahm bei B Rückgriff auch nur noch in dieser Höhe. K verlangt von B, dass sie für den Zeitraum vom 1. 8. 2005 bis zum 30. 9. 2027 den (kapitalisierten) Differenzbetrag von monatlich 325 Euro (1.081 - 756) zahlt. B weigert sich mit der Begründung, wer bei einem umfassenden Abfindungsvergleich eine Kapitalabfindung wähle, nehme das Risiko in Kauf, dass maßgebliche Berechnungsfaktoren auf unsicheren Prognosen beruhten und sich später als nicht zutreffend herausstellten. Auch sei der Fehler des Arbeitgebers des K der Sphäre des K zuzurechnen. Ist der Anspruch des K begründet ?

I. Ein Anspruch direkt aus dem Abfindungsvertrag vom 24. 10. 2003 besteht nicht:

1. Im Text des Vertrages ist keine Regelung enthalten, nach der K monatlich 325 Euro verlangen kann.

2. Eine ergänzende Vertragsauslegung wird vom BGH unter Rdnr. 25 mit der Begründung abgelehnt, es fehle an der hierfür erforderlichen Regelungslücke im Vertrag. Es liegt keine unbewusste Regelungslücke vor. Gegenstand des Vergleichs ist die endgültige Abfindung des Klägers unter dessen Verzicht auf Nachforderungen. Insoweit ist alles geregelt, was die Parteien regeln wollten. Das Fehlen einer Vereinbarung in einem regelungsbedürftigen Punkt, welches für eine ergänzende Vertragsauslegung erforderlich ist (BGHZ 84, 1, 7), liegt nicht vor.

II. K könnte möglicherweise auf seinen ursprünglichen Schadensersatzanspruch aus §§ 823 I BGB, 7 StVG zurückgreifen, wenn der Vergleich vom 24. 10 2003 unwirksam wäre. Unwirksamkeitsgrund könnte § 779 I BGB sein. Diese Vorschrift ist vorrangig gegenüber § 313 BGB (Palandt/Grüneberg § 313 Rdnr. 64).

1. Ein Vergleich ist zwischen K und B am 24. 10. 2003 abgeschlossen worden.

2. Nach § 779 I ist der Vergleich unwirksam, wenn der nach dem Inhalt des Vertrags als feststehend zugrunde gelegte Sachverhalt der Wirklichkeit nicht entspricht und der Streit bei Kenntnis der Sachlage nicht entstanden wäre. Zum als feststehend zugrunde gelegten Sachverhalt könnte der Anspruch des K auf eine Erwerbsunfähigkeitsrente und deren Höhe gehören. Die vorausgesetzte Höhe der Rente entsprach auch nicht der Wirklichkeit. Jedoch hätte die Kenntnis von der wirklichen Höhe der Rente den Streit nicht entfallen lassen. Streit bestand zwischen K und B über den Ausgleich der durch den Verkehrsunfall von 2002 bei K entstandenen Schäden, der umfassend geregelt werden sollte. Dieser Bedarf nach einer Regelung wäre durch Kenntnis von einer abweichenden Höhe der Rente nicht entfallen, wahrscheinlich hätte nur der geschlossene Vergleich einen anderen Inhalt erhalten. § 779 greift somit nicht ein.

III. K könnte gegen B einen Anspruch auf Vertragsanpassung wegen Störung der Geschäftgrundlage nach § 313 II, I BGB haben.

1. Zwischen K und B ist ein Vertrag, der Abfindungsvergleich vom 24. 10. 2003 geschlossen worden.

a) Dieser ist rechtswirksam, insbesondere nicht nach § 779 BGB unwirksam (oben II 2). Er ist auch nicht durch Anfechtung nach § 119 I oder II BGB erloschen. Eine Anfechtungserklärung liegt nicht vor. Es greift auch kein Anfechtungsgrund ein, insbesondere fehlt es an einem für § 119 I erforderlichen Auseinanderfallen von rechtsgeschäftlichem Willen und rechtsgeschäftlicher Erklärung. K und B haben den Abfindungsvergleich mit dem Inhalt schließen wollen, mit dem er geschlossen wurde. Die Höhe der von K zu erwartenden Rente war allenfalls ein Motiv für den Abschluss in der vereinbarten Höhe von 175.00 Euro.

b) Es liegt auch keine andere Leistungsstörung wie Unmöglichkeit, Verzug oder ein anderer Fall des § 280 BGB vor, wodurch § 313 verdrängt würde.

2. Für die Beantwortung der Frage, ob die Höhe der monatlich von K zu erwartenden Rente Geschäftsgrundlage geworden ist, scheidet § 313 Abs. 1 aus, weil sich die Umstände nicht verändert haben. Dass die Berufsgenossenschaft G die Höhe der Rente erst später erkannt und die Zahlungen erst ab 1. 8. 2005 herabgesetzt hat, beruhte darauf, dass K von Anfang an nur einen Rentenanspruch in einer niedrigeren Höhe hatte, als die Parteien angenommen haben. Es ist deshalb § 313 Abs. 2 anzuwenden. Danach müssen wesentliche Vorstellungen zur Grundlage des Vertrags geworden sein und sich als falsch herausgestellt haben.

a) Für einen Vergleich, nach dem der Lebensunterhalt eines durch einen Verkehrsunfall erwerbsunfähig Gewordenen gesichert werden soll, ist es ganz wesentlich, in welcher Höhe er laufende Zahlungen von einem Träger der Sozialversicherung erhält. Speziell für B war diese Frage auch deshalb wichtig, weil davon abhing, inwiefern B Schadensersatz an K oder an G als Rückgriffsleistung zu zahlen hatte. Danach gehörte die Höhe der Erwerbsunfähigkeitsrente zu den wesentlichen Umständen i. S. des § 313 II.

b) Diese Umstände waren wegen des Irrtums der Parteien über die Höhe des Rentenanspruchs falsch.

c) Umstände, für die eine Partei das Risiko trägt oder übernommen hat, sind keine Grundlage des gemeinsamen Geschäfts. Allerdings ergibt sich aus dem Einwand der B, wer einen umfassenden Abfindungsvergleich schließe, nehme das Risiko in Kauf, dass maßgebliche Berechnungsfaktoren auf unsicheren Prognosen beruhten und sich später als nicht zutreffend herausstellten, keine Risikoübernahme im Hinblick auf solche Umstände, die objektiv bereits bei Vertragsschluss vorlagen. Im Falle des BGH hatte das BerGer. das anders gesehen, dazu aber BGH Rdnr. 18: Das BerGer. hat nicht ausreichend berücksichtigt, dass es im Streitfall nicht um einen Wegfall oder eine Änderung der Geschäftsgrundlage (§ 313 Abs. 1 BGB) im Hinblick auf die reduzierte Zahlung der Berufsgenossenschaft geht, sondern um ein Fehlen der Geschäftsgrundlage von Anfang an, weil wesentliche Vorstellungen, die zur Grundlage des Vertrages geworden sind, sich als falsch herausgestellt haben (§ 313 Abs. 2 BGB). Denn beide Parteien sind nach den getroffenen Feststellungen bei Abschluss des Abfindungsvergleichs davon ausgegangen, der Kläger erhalte von der Berufsgenossenschaft eine - von dem der Kapitalisierung zugrunde zu legenden Verdienstausfall abzuziehende - Rente in Höhe von 1.081 €, während dieser Betrag in Wahrheit auf einem Schreibfehler in der Gehaltsmitteilung des Arbeitgebers des Klägers beruhte und die Rente bei Zugrundelegung des richtigen Bruttoeinkommens nur 755 € beträgt. Bei einem derartigen Irrtum aller Vertragsbeteiligten über bestimmte Rechnungspositionen bei grundsätzlichem Einverständnis über den Berechnungsweg liegt ein Fehlen der Geschäftsgrundlage vor (vgl. MünchKomm-BGB/Roth, 5. Aufl., § 313 Rn. 227; Palandt/Grüneberg, 67. Aufl., § 313 Rn. 38 f., jeweils m. w. N.).

Rdnr. 20: Bei einem gemeinsamen Irrtum über die Berechnungsgrundlagen geht es nicht darum, dass der Geschädigte das Risiko in Kauf nimmt, dass die für die Berechnung des Ausgleichsbetrages maßgebenden Faktoren auf Schätzungen und unsicheren Prognosen beruhen und sie sich demgemäß unvorhersehbar positiv oder negativ verändern können. Vielmehr spielt eine spezifische Risikobetrachtung hier für die Parteien überhaupt keine Rolle, denn beide gehen davon aus, sich auf einer vermeintlich sicheren Grundlage zu bewegen.

Auch dass der Fehler des Arbeitgebers des K zu einer Risikoverlagerung auf K führt, lässt sich nicht begründen, zumal K offensichtlich von der Herkunft der für die Rentenbemessung maßgeblichen Daten keine Kenntnis hatte.

d) Weitere Voraussetzung für § 313 II, I ist, dass die Parteien den Vertrag nicht oder mit einem anderen Inhalt geschlossen hätten, wenn sie den wahren Sachverhalt gekannt hätten. Das folgt hier bereits aus der Begründung für die Annahme einer Geschäftsgrundlage oben a). Bei Kenntnis von der wesentlich geringeren Rentenhöhe hätten die Parteien die Abfindung anders festgesetzt.

e) Die Fehlvorstellung muss so schwerwiegend sein, dass zumindest einer Partei das Festhalten am unveränderten Vertrag nicht zugemutet werden kann (§ 313 II, I). Das trifft auf K zu, weil dieser als Folge der irrtümlichen Annahme statt 1.081 monatlich nur 756 Euro für seinen Lebensunterhalt erhält, also mehr als ein Viertel seines vorausgesetzten, schon verhältnismäßig bescheidenen Einkommens verloren hat. Wird bei der Frage der Zumutbarkeit auch das Interesse der B mit einbezogen, so steht dieses einer Bejahung der Unzumutbarkeit zu Gunsten des K nicht entgegen. Denn wenn das Fehlen der Geschäftsgrundlage zu einer höheren Belastung der B gegenüber K führt, wird dies zumindest in etwa dadurch ausgeglichen, dass B von G nicht mehr in Höhe von 1.081 Euro, sondern nur noch zu 756 Euro in Regress genommen wird. Was B voraussichtlich an K mehr zahlt, spart sie im Verhältnis zu G. Insgesamt ist deshalb K auch unter Berücksichtigung der Interessen der B nicht zuzumuten, an dem Vergleich festzuhalten.

Die Voraussetzungen für eine Störung der Geschäftsgrundlage wegen anfänglichen Fehlens wesentlicher Umstände liegen vor.

3. Rechtsfolge ist der Anspruch des K gegen B auf Anpassung des Vertrages. Das kann hier dem Grunde nach nur dahin gehen, dass die Abfindung in Höhe von 175.000 Euro erhöht wird und B eine Nachzahlung leistet.

a) Der BGH brauchte dazu keine Entscheidung zu treffen, weil das BerGer. schon die Voraussetzungen des § 313 verneint hatte und der BGH den Fall zur Vornahme weiterer Feststellungen den Fall an das BerGer. zurückverwiesen hat. Er hat aber unter Rdnr. 24 ausgeführt: Dass der Kläger nicht dargetan hat, dass ihm, wie das BerGer. ausführt, ein um 325 € höherer Betrag gezahlt worden wäre, und sich keine Anhaltspunkte dafür finden, auf welchen Abfindungsbetrag sich die Parteien bei Kenntnis des zutreffenden Rentenbetrages geeinigt hätten, steht der Möglichkeit einer Anpassung nicht entgegen. Wenn die Parteien den Irrtum seinerzeit nicht bemerkt haben, müssen solche Anhaltspunkte naturgemäß fehlen und kann dazu auch nicht konkret vorgetragen werden. Die Anpassung ist dann unter wertender Berücksichtigung aller sonstigen Umstände vorzunehmen.

b) Mangels anderer Anhaltspunkte kann hier nur angenommen werden, dass K den (kapitalisierten) Betrag verlangen kann, der sich ergibt, wenn im maßgeblichen Zeitraum vom 1. 8. 2005 bis 30. 9. 2027 monatlich 325 Euro mehr zu zahlen sind. Da dies dem von K geltend gemachten Anspruch entspricht, ist das Anspruchsbegehren des K in vollem Umfang begründet.


Zusammenfassung