Bearbeiter: Dr. Gernot Schmalz-Brüggemann
► Deliktsfähigkeit von Minderjährigen über sieben Jahren, § 828 I, III BGB. ► Haftungsprivileg des Minderjährigen nach § 828 II BGB; Begriff des „Unfalls mit einem Kfz.“, wenn ein parkendes Fahrzeug beschädigt wird. ► Abgrenzung der Gesetzesauslegung von der teleologischen Reduktion. ► Einschränkende Gesetzesauslegung nach Sinn und Zweck des Gesetzes
BGH Urteil vom 30. 11. 2004 (VI ZR 335/03) NJW 2005, 354
Fall (Kickboard gegen parkendes Auto)
A hatte seinen Pkw ordnungsgemäß am Rande der M-Straße in der Stadt S geparkt. Auf der – wenig befahrenen – Straße veranstalteten der neun Jahre alte B, sein Bruder und ein Freund ein Wettrennen mit ihren Kickboards. B, der im Umgang mit dem Kickboard geübt war, fuhr auf den Pkw des A zu und wollte kurz vorher abdrehen. Dabei stürzte er, das Kickboard prallte gegen den Pkw und richtete einen Schaden an, dessen Beseitigung 1.900 € kostete. A verlangt von B, vertreten durch seine Eltern, Zahlung dieses Betrages. Zu Recht ?
Anspruchsgrundlage kann § 823 I BGB sein. Dann müssten die Voraussetzungen dieser Vorschrift vorliegen.
I. Durch das Verhalten des B wurde in adäquat kausaler Weise das Eigentum des A an seinem Pkw beschädigt. Dieses Verhalten des B war auch rechtswidrig.
II. B müsste schuldfähig gewesen sein und schuldhaft gehandelt haben, wobei nur Fahrlässigkeit (§ 276 I, II BGB) in Betracht kommt.
1. Nach § 828 I, III BGB ist ein Jugendlicher zwischen 7 und 18 Jahren grundsätzlich deliktsfähig. Er ist jedoch für einen Schaden „nicht verantwortlich, wenn er bei der Begehung der schädigenden Handlung nicht die zur Erkenntnis der Verantwortlichkeit erforderliche Einsicht hat.“ Neunjährige Kinder haben normalerweise die Einsicht, dass der Umgang mit einem Kickboard in der unmittelbaren Nähe eines parkenden Autos zu einer Beschädigung des Autos führen kann und dass sie das vermeiden müssen. Dass dies im Falle des B anders liegt, ist nicht ersichtlich. BGH S. 355 unter 2: Nach der Rspr. des erkennenden Senats besitzt derjenige die zur Erkenntnis seiner Verantwortlichkeit erforderliche Einsicht i. S. von § 828 III BGB, der nach seiner individuellen Verstandesentwicklung fähig ist, das Gefährliche seines Tuns zu erkennen und sich der Verantwortung für die Folgen seines Tuns bewusst zu sein. Auf die individuelle Fähigkeit, sich dieser Einsicht gemäß zu verhalten, kommt es insoweit nicht an (vgl. BGH NJW 1984, 1958 m. w. Nachw.; NJW-RR 1997, 1110). Die Darlegungs- und Beweislast für das Fehlen der Einsichtsfähigkeit trägt der in Anspruch genommene Minderjährige; ab dem Alter von sieben Jahren wird deren Vorliegen vom Gesetz widerlegbar vermutet (vgl. BGH NJW-RR 1997, 110; Baumgärtel/Strieder, 2. Aufl., § 828 BGB Rdnr. 2 m. w. Nachw.). Der Bekl. hat zu einem Mangel, das Gefährliche seines Tuns zu erkennen und sich der Verantwortung seines Tuns bewusst sein zu können, nichts vorgetragen.
§ 828 III steht somit der Deliktsfähigkeit des B nicht entgegen.
2. Nach dem – im Jahre 2002 eingefügten – § 828 II 1 BGB ist ein Minderjähriger im Alter zwischen sieben und zehn Jahren „für den Schaden, den er bei einem Unfall mit einem Kraftfahrzeug, einer Schienenbahn oder einer Schwebebahn einem anderen zufügt, nicht verantwortlich.“ Der Ausschluss der Verantwortlichkeit gilt nicht nur bei einer Inanspruchnahme des Minderjährigen als Schädiger (als „Täter“, so wie im vorliegenden Fall), sondern auch bei der Frage, ob sich der durch einen Verkehrsunfall geschädigte Minderjährige (als „Opfer“) ein Mitverschulden gemäß § 254 BGB entgegenhalten lassen muss (BGH S. 355 re. Sp. Mitte); der zweite Fall ist der praktisch bedeutsamere. Der Minderjährige haftet also selbst nicht und kann als Verletzter vollen Ersatz ohne Minderung nach § 254 verlangen.
Voraussetzung für die Anwendung dieser Vorschrift im vorliegenden Fall ist, dass der Aufprall des Kickboards auf den Pkw des A ein „Unfall mit einem Kraftfahrzeug“ war. Das wäre zu bejahen, wenn hierfür ausreichen würde, dass an dem Schadensereignis ein Kfz. in irgendeiner Form beteiligt war. Möglicherweise fällt aber ein Schadensereignis, bei dem – wie im vorliegenden Fall – ein parkendes, zum ruhenden Verkehr gehörendes Fahrzeug bloß passiv beteiligt ist, nicht unter den Begriff des „Unfalls mit einem Kfz.“
a) Nach BGH S. 354 unter a) könnte der hier zu beurteilende Sachverhalt nach dem Wortlaut des neugefassten § 828 II 1 BGB ohne weiteres unter das Haftungsprivileg für Minderjährige fallen. Aus seinem Wortlaut geht nicht hervor, dass das Haftungsprivileg davon abhängen soll, ob sich das an dem Unfall beteiligte Fahrzeug im fließenden oder, wie der hier geschädigte parkende Pkw, im ruhenden Verkehr befindet.
Methodisch bestehen nun zwei Möglichkeiten:
Somit ist hier eine Auslegung des § 828 II vorzunehmen (allgemein zur Gesetzesauslegung Schmalz, a. a. O. Rdnr. 219 ff., 230 ff.). Erster Schritt war die Ermittlung des Wortsinns. Sie sprach für eine weite Fassung und gegen die in der Auslegungshypothese vor a („Möglicherweise…“) erwogene Einengung. Eine endgültige Entscheidung der aufgeworfenen Frage ist danach aber noch nicht möglich.
b) Aus der Gesetzessystematik ergibt sich nach BGH S. 354 unter a) nicht, dass der Gesetzgeber einen bestimmten Betriebszustand des Kraftfahrzeugs zu Grunde legen wollte, zumal er bewusst nicht das Straßenverkehrsgesetz, sondern das allgemeine Deliktsrecht als Standort für die Regelung gewählt hat (…). Also ist die systematische Auslegung hier unergiebig.
c) Die Entstehungsgeschichte gibt keinen Hinweis auf die Entscheidung der Auslegungsfrage. Die Gesetzesmaterialien zieht der BGH nur zur Ermittlung von Sinn und Zweck der Vorschrift heran (S. 354/5 unter b).
d) Somit ist die Auslegungsfrage nach Sinn und Zweck der Vorschrift zu entscheiden (teleologische Gesetzesinterpretation). Dieser ergibt sich aus den Gesetzesmaterialien.
aa) BGH S. 354/5 unter b): Mit der Einführung der Ausnahmevorschrift in § 828 II BGB wollte der Gesetzgeber dem Umstand Rechnung tragen, dass Kinder regelmäßig frühestens ab Vollendung des zehnten Lebensjahres im Stande sind, die besonderen Gefahren des modernen Straßenverkehrs zu erkennen, insbesondere Entfernungen und Geschwindigkeiten richtig einzuschätzen, und sich den Gefahren entsprechend zu verhalten. Allerdings wollte der Gesetzgeber die Deliktsfähigkeit nicht generell und auch nicht für alle Verkehrsunfälle auf zehn Jahre festsetzen. Er wollte die Heraufsetzung der Deliktsfähigkeit vielmehr auf im motorisierten Straßen- oder Bahnverkehr plötzlich eintretende Schadensereignisse begrenzen, bei denen die altersbedingten Defizite eines Kindes…regelmäßig zum Tragen kommen (vgl. BT-Dr14/7752, S. 26). Für eine solche Begrenzung sprach, dass sich Kinder im motorisierten Verkehr durch die Schnelligkeit, die Komplexität und die Unübersichtlichkeit der Abläufe in einer besonderen Überforderungssituation befinden. Gerade in diesem Umfeld wirken sich die Entwicklungsdefizite von Kindern besonders gravierend aus. Demgegenüber weisen der nichtmotorisierte Straßenverkehr und das allgemeine Umfeld von Kindern gewöhnlich keine vergleichbare Gefahrenlage auf (…). Diese Erwägungen zeigen, dass Kinder nach dem Willen des Gesetzgebers auch in dem hier maßgeblichen Alter von sieben bis neun Jahren für einen Schaden haften sollen, wenn sich bei dem Schadensereignis nicht ein typischer Fall der Überforderung des Kindes durch die spezifischen Gefahren des motorisierten Verkehrs verwirklicht hat…
bb) Aus den vorstehenden Ausführungen ergibt sich, dass der Gesetzgeber nur dann, wenn sich bei einem Schadensfall eine typische Überforderungssituation des Kindes durch die spezifischen Gefahren des motorisierten Verkehrs verwirklicht hat, eine Ausnahme von der Deliktsfähigkeit bei Kindern vor Vollendung des zehnten Lebensjahres schaffen wollte. Praktisch sind das Unfälle im fließenden Verkehr, während sich nur in besonders gelagerten Fällen – zu denen der Streitfall nicht gehört – auch im ruhenden Verkehr eine spezifische Gefahr des motorisierten Verkehrs verwirklichen kann. (Somit hat sich die oben II 2 vor a mit dem Satz „Möglicherweise…“ aufgestellte Auslegungshypothese bestätigt.)
e) Im vorliegenden Fall beruhte das Schadensereignis nicht auf einer typischen Überforderungssituation des B durch die spezifischen Gefahren des motorisierten Verkehrs, insbesondere geschah der Unfall nicht im fließenden Verkehr. Vielmehr ging von dem parkenden Pkw des A keine besondere Gefahr aus, sondern das Auto des A stand ähnlich da, wie wenn man einen wertvollen Schrank zum Abtransport am den Straßenrand aufgestellt hätte. Folglich hat sich der Schaden nicht „bei einem Unfall mit einem Kraftfahrzeug“ ereignet. § 828 II steht der Deliktsfähigkeit des B nicht entgegen.
3. B müsste fahrlässig gehandelt haben. BGH S. 356 unter b): Kinder in der Altersgruppe des Bekl. wissen, dass sie sich so zu verhalten haben, dass ihr Kickboard nicht gegen einen parkenden Pkw prallt und diesen beschädigt. Es ist ihnen auch möglich und zumutbar, dieses Spielgerät so zu benutzen, dass eine solche Schädigung vermieden wird. Die danach gebotene Sorgfalt hat der Bekl. missachtet, indem er im Wettrennen mit seinem Bruder und einem Freund so schnell fuhr, dass er stürzte und sein Kickboard führungslos mit dem Pkw des Kl. zusammenstieß.
Somit hat B auch schuldhaft gehandelt. Die Voraussetzungen für einen Schadensersatzanspruch aus § 823 I liegen vor. Die 1.900 € Reparaturkosten sind ein unter § 249 II 1 BGB fallender Schaden. Folglich ist der Anspruch des A gegen B begründet.
Fortführung des Falles: Das Urteil BGH NJW 2005, 356 vom selben Tage (VI ZR 365/03) betraf einen ähnlichen Fall, in dem die neunjährige Bekl. mit ihrem Fahrrad auf einem Parkplatz zwischen den parkenden Autos durchgefahren war, umkippte und das Auto des A beschädigt hatte. Jedoch betrug der Unfallschaden nur 727 €. Der Geschädigte hatte einen Gutachter eingeschaltet und verlangte von der neunjährigen Bekl. zusätzlich Ersatz der Gutachterkosten in Höhe von 192 €.
Zunächst bestätigt der BGH unter Wiedergabe der Ausführungen in der vorstehenden Grundsatzentscheidung, dass die Bekl. haftet und insbesondere § 828 II dem Anspruch nicht entgegensteht. Fraglich war, ob auch die ► Sachverständigenkosten zum zu ersetzenden Schaden gehören. BGH S. 356 unter 5:
a) Die Kosten eines Sachverständigengutachtens gehören zu den mit dem Schaden unmittelbar verbundenen und gem. § 249 I BGB auszugleichenden Vermögensnachteilen, soweit die Begutachtung zur Geltendmachung des Schadensersatzanspruchs erforderlich und zweckmäßig ist (vgl. BGH NJW-RR 1989, 953 [956]). Ebenso können diese Kosten zu dem nach § 249 II 1 BGB erforderlichen Herstellungsaufwand gehören, wenn eine vorherige Begutachtung zur tatsächlichen Durchführung der Wiederherstellung erforderlich und zweckmäßig ist (vgl. BGH NJW 1974, 34).
b) Für die Frage der Erforderlichkeit und Zweckmäßigkeit einer solchen Begutachtung ist auf die Sicht des Geschädigten zum Zeitpunkt der Beauftragung abzustellen (vgl. zur Beauftragung eines Rechtsanwalts BGH NJW 1995, 446 [447]). Demnach kommt es darauf an, ob ein verständig und wirtschaftlich denkender Geschädigter nach seinen Erkenntnissen und Möglichkeiten die Einschaltung eines Sachverständigen für geboten erachten durfte (vgl.…BGHZ 61, 346 [349 f.]…). Diese Voraussetzungen sind zwar der Schadensminderungspflicht aus § 254 II BGB verwandt. Gleichwohl ergeben sie sich bereits aus § 249 BGB, so dass die Darlegungs- und Beweislast hierfür beim Geschädigten liegt (vgl. BGHZ 61, 346 [351]…).
Wenngleich bei der Frage der Erforderlichkeit nicht strikt auf die Schadenshöhe abgestellt werden kann, weil diese bei Beauftragung des Gutachters noch nicht bekannt ist, so ist sie für die Gerichte doch ein Anhaltspunkt für die gemäß § 287 ZPO zu bestimmende Schadenshöhe. Dabei hat die Rspr. die Grenze für Bagatellunfälle, bei denen eine Begutachtung nicht mehr gerechtfertigt ist, auf (ursprünglich) 1.400 DM = 715, 81 € festgelegt (BGH S. 357 unter c m. Nachw.). Da dieser Betrag im vorliegenden Fall überschritten war (727 €) und Besonderheiten bei diesem Falles nicht ersichtlich sind, war die Begutachtung als erforderlich zu erachten. Folglich umfasst der Schadensersatzanspruch des A auch die Sachverständigenkosten in Höhe von 192 €.
Zusammenfassung