Bearbeiter: Dr. Gernot Schmalz-Brüggemann
Die nachfolgende Entscheidung, die auch in der Öffentlichkeit Aufsehen erregt hat, hat ihren Ausgangspunkt im Familienrecht, ihr Schwerpunkt liegt aber in der Anwendung von Grundrechten im Privatrecht und in der Behandlung einer Grundrechtskollision.
► Heimliche DNA-Analyse für die Vaterschaftsanfechtung nach §§ 1599 I, 1592, 1600 I Nr. 1, 1600 b BGB. ► Recht auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 I GG) auch im Privatrecht. ► Entscheidung durch Abwägung kollidierender Rechtspositionen
BGH Urteil vom 12. 1. 2005 (XII ZR 227/03) NJW 2005, 497
Fall (Vaterschaftstest mit Kaugummi)
A lebte in den Jahren 1993 bis 1995 mit Frau F in einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft zusammen. Am 3. 10. 1994 brachte F die Tochter B zur Welt. Mit Urkunde vom 20. 10. 1994 erkannte A die Vaterschaft an und zahlte für B Unterhalt. Später kamen A Zweifel an seiner Vaterschaft und er erhob im Jahre 2001 fristgemäß Anfechtungsklage gegen B, wobei er diese damit begründete, er sei nur vermindert zeugungsfähig gewesen. Die Klage wurde mit Urteil des zuständigen OLG vom 9. 8. 2002 rechtskräftig abgewiesen. Ende 2002 gab A unter Verwendung einer eigenen Speichelprobe und eines von B genutzten Kaugummis eine DNA-Vaterschaftsanalyse in Auftrag. Die allein sorgeberechtigte F und eine für B bestellte gesetzliche Vertreterin waren hierzu nicht befragt worden und verweigerten auch nachträglich ihr Einverständnis zur Erteilung des Auftrags und zur Verwendung des Ergebnisses. Nach dem Gutachten des privaten Labors war mit hundertprozentiger Sicherheit auszuschließen, dass der Spender der einen Probe der Vater der Spenderin der zweiten Probe ist. A erhob vor dem als Familiengericht zuständigen Amtsgericht erneut Anfechtungsklage mit dem Antrag festzustellen, dass er nicht der Vater des am 3. 10. 1994 geborenen beklagten Kindes B ist. Wie ist zu entscheiden ?
A. Es handelt sich um eine in §§ 1599 I, 1592 Nr. 2, 1600 I Nr. 1, 1600 b BGB vorgesehene und zulässige Klage auf Anfechtung der ursprünglich anerkannten Vaterschaft. Der Zulässigkeit der erneuten Klage steht das rechtskräftige Urteil vom 9. 8. 2002 nicht entgegen. Insoweit folgt der BGH auf S. 497 unter I dem OLG, das ausgeführt hatte, die Rechtskraft jenes Urteils erstrecke sich allein darauf, dass die dem Kl. 2001 attestierte verminderte Zeugungsfähigkeit nicht geeignet sei, den für die Erhebung einer Anfechtungsklage erforderlichen Anfangsverdacht zu begründen, während es sich nunmehr bei dem außergerichtlich eingeholten DNA-Gutachten, demzufolge der Kl. von der Vaterschaft ausgeschlossen sei, um einen anderen, neuen Lebenssachverhalt handele. Da sich die Rechtskraft nach dem Streitgegenstand richtet (vgl. § 322 I ZPO), bestätigen diese Ausführungen, dass der Streitgegenstandsbegriff zweigliedrig ist und sich der Streitgegenstand aus Klageantrag und Lebenssachverhalt zusammensetzt. Demzufolge entfällt, wenn der Antrag geändert oder der Lebenssachverhalt ausgewechselt wird, die Einrede der Rechtskraft.
B. Die Begründetheit der Anfechtungsklage hat zur Voraussetzung, dass Kläger A zunächst eine schlüssige Klage erhoben hat.
I. BGH S. 498 unter 2: Nach der Rspr. des Senats (vgl. NJW 1998, 2976 und 2003, 585) reicht das bloße Vorbringen des Kl., er sei nicht der Vater des Kindes und ein gerichtliches Sachverständigengutachten werde seine Vaterschaft ausschließen, für eine Vaterschaftsanfechtungsklage nicht aus. Vielmehr muss der Kl. Umstände vortragen, die bei objektiver Betrachtung geeignet sind, Zweifel an der Abstammung des Kindes von dem als Vater geltenden Kl. zu wecken und die Möglichkeit der Abstammung des Kindes von einem anderen Mann als nicht ganz fern liegend erscheinen zu lassen. Erforderlich ist ein Anfangsverdacht, das Kind stamme nicht von dem Kläger.
II. BGH S. 498 unter 2a): Entgegen der Auffassung der Revision begründet nicht schon die Weigerung der Mutter und der gesetzlichen Vertreterin der Bekl., die Einholung des DNA-Gutachtens nachträglich zu genehmigen und in seine Verwertung einzuwilligen, als solche einen die Anfechtungsklage schlüssig machenden Anfangsverdacht. Sie stellt auch keine Beweisvereitelung dar. Insbesondere vermag der Senat sich nicht der von Mutschler (FamRZ 2003, 74 [76 a. E.]) vertretenen Ansicht anzuschließen, allein die Weigerung der Mutter oder des Kindes, auf Bitten des (gesetzlichen) Vaters an einer DNA-Begutachtung mitzuwirken, könne je nach den Umständen des Falls einen ausreichenden Anfangsverdacht der Nichtvaterschaft begründen. Denn ein solches Verhalten ist Ausfluss des negativen informationellen Selbstbestimmungsrechts. Dieses würde ausgehöhlt, wenn die Weigerung, an einer außergerichtlichen Begutachtung mitzuwirken, die Vaterschaftsanfechtungsklage eröffnen würde, mit der Folge, dass die Informationen, die dieses Grundrecht schützen will, immer dann im Rahmen einer gerichtlichen Beweisaufnahme preisgegeben werden müssten, auch wenn dies dem Willen des Betroffenen zuwiderläuft und die freiwillige Preisgabe deshalb zuvor abgelehnt wurde.
III. Entscheidende Frage ist deshalb, ob der Anfangsverdacht auf die von A eingeholte DNA-Analyse und die daraus in dem Gutachten gezogenen Folgerungen gestützt werden kann. Inhaltlich besteht kein Zweifel, dass das Gutachten (mindestens) einen Anfangsverdacht rechtfertigt. Es müsste aber auch in dem Anfechtungsprozess verwertbar sein.
1. Der Verwertbarkeit könnte entgegenstehen, dass DNA-Analyse und Gutachten eine Verletzung des Rechts der B auf informationelle Selbstbestimmung enthalten.
a) BGH S. 498 unter 3a): Jede Untersuchung und Verwendung des DNA-Identifizierungsmusters greift in das durch Art. 2 I i. V. mit Art. 1 I GG verbürgte Persönlichkeitsrecht, hier in der Ausprägung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung, ein. Dieses darf nur im überwiegenden Interesse der Allgemeinheit und unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes eingeschränkt werden; die Einschränkung darf nicht weiter gehen, als es zum Schutz des öffentlichen Interesses unerlässlich ist (vgl. BVerfG NJW 2001, 2320 [2321]). Welcher Stellenwert diesem Grundrecht beizumessen ist, ergibt sich beispielsweise aus der gesetzlichen Einschränkung des § 81 g StPO i. V. mit § 2 des DNA-Identitätsfeststellungsgesetzes (DNA-IFG vom 7. 9. 1998, BGBl I, 2646), die eine Feststellung und Speicherung des DNA-Identifizierungsmusters eines verurteilten Straftäters nur zulässt, wenn Grund zu der Annahme besteht, dass gegen ihn künftig erneut Strafverfahren wegen Straftaten von erheblicher Bedeutung zu führen sind.
b) Dass das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung hier anwendbar ist, obwohl das streitige Rechtsverhältnis nicht das Verhältnis zwischen Staat und Bürger (vgl. Art. 1 III GG), sondern die Beziehungen zwischen zwei Privatpersonen (A und B) und deren familienrechtlichen Status betrifft, begründet der BGH mit der bei diesem Problemkreis allgemein anerkannten Lehre von der mittelbaren Drittwirkung der Grundrechte. S. 499 unter b): Denn der Richter hat kraft Verfassungsgebots zu prüfen, ob von der Anwendung zivilrechtlicher Vorschriften im Einzelfall Grundrechte berührt werden. Trifft dies zu, dann hat er diese Vorschriften im Lichte der Grundrechte auszulegen und anzuwenden (vgl. BVerfG NJW 1991, 2411 m. w. Nachw.) und darf dies nicht als praxisfern (vgl. Huber FamRZ 2004, 825 [826]) oder als Ausfluss einer „verfassungsrechtlichen Überhöhung“ (vgl. Spickhoff FamRZ 2003, 1581) abtun. Die im Lichte der Grundrechte auszulegenden und anzuwendenden Rechtsvorschriften sind hier die Voraussetzungen für den Anfangsverdacht bei der Vaterschaftsklage und die Regelung der hierfür zugelassenen Beweismittel.
c) Zur Anerkennung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung in diesem Fall verweist der BGH auf S. 499 unter b) bis d) auch auf vergleichbare Fälle und weitere Überlegungen.
So dürfen rechtswidrig erlangte Kenntnisse aus dem heimlichen Mithören eines Telefonats nur ganz ausnahmsweise in einem gerichtlichen Verfahren verwertet werden, etwa dann, wenn sich der Beweisführer in einer notwehrähnlichen Situation befindet oder erpresserischen Drohungen oder einem kriminellen Angriff auf seine berufliche Existenz auf andere Weise nicht begegnen kann. Demgegenüber reicht allein das Interesse, sich ein Beweismittel für zivilrechtliche Ansprüche zu sichern, nicht aus (vgl. BVerfG NJW 2002, 3619 [3624]; BGH NJW 2003, 1727 [1728]).
Im arbeitsgerichtlichen Verfahren ist eine ohne Wissen des Betroffenen vorgenommene DNA-Analyse…nicht geeignet, eine Verdachtskündigung zu rechtfertigen, sondern unterliegt einem Verwertungsverbot (vgl. VGH Mannheim NJW 2001, 1082; vgl. auch EuGH NJW 1994, 3005: Aufhebung einer Entscheidung, soweit sie auf einem anlässlich einer Einstellung ohne Einwilligung vorgenommenen Lymphozytentest beruht).
Dieser Auffassung entsprechen offenbar auch Überlegungen der Bundesregierung, heimliche Vaterschaftsgutachten im Rahmen eines künftigen Gendiagnostikgesetzes (Gesetz über genetische Untersuchungen beim Menschen) insgesamt zu verbieten (dazu NJW 2005 Heft 13 Umschlagseite VI). Schließlich verweist der BGH auf die Behandlung dieser Frage in anderen Ländern.
d) Das durch den DNA-Test betroffene Recht auf informationelle Selbstbestimmung ist aber nicht unbeschränkt gewährleistet, sondern unterliegt Schranken. Zu den im öffentlichen Interesse bestehenden Schranken und Einschränkungsmöglichkeiten (hierzu der BGH oben a) treten im Privatrecht Schranken im überwiegenden Interesse der anderen, an dem Rechtsverhältnis beteiligten Privatperson hinzu. Deshalb ist hier zu prüfen, ob überwiegend schutzwürdige Rechte oder Interessen Beteiligter den Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung rechtfertigen.
aa) Das beklagte Kind hat ein sich aus seinem Persönlichkeitsrecht ergebendes, grundrechtlich geschütztes Recht auf Kenntnis seiner Abstammung (BGH S. 498 unter bb). Jedoch bleibt für die Beklagte B die Entscheidung darüber, ob sie dieses Recht wahrnehmen und ein entsprechendes Interesse geltend machen will, ihr allein bzw. ihrer gesetzlichen Vertreterin überlassen, zumal ihr Interesse auch dann schutzwürdig ist, wenn es dahin geht, ihren gesetzlichen Status als Kind des Kl. gerade nicht in Frage stellen zu lassen. Das Recht des Kindes auf Kenntnis seiner genetischen Abstammung schließt nämlich auch das Recht auf Unkenntnis ein. Somit wird das Recht auf informationelle Selbstbestimmung der B nicht durch ihr eigenes Recht auf Kenntnis von ihrer Abstammung beschränkt.
bb) Vor allem hat A ein über sein Persönlichkeitsrecht (Art. 2 I GG) geschütztes Recht darauf, dass er Gewissheit erhält, ob B von ihm abstammt, und dass er, falls er nicht Vater der B ist, vor unberechtigten Unterhaltszahlungen bewahrt wird. Dieses Recht des A ist mit dem Recht der B auf Schutz vor einem heimlichen DNA-Test (oben a) abzuwägen. Dabei ist nicht nur der hier gegebene Fall der Anerkennung als nichteheliches Kind (§ 1592 Nr. 2 BGB) zu bedenken, sondern auch der häufigere Fall einer Geburt während bestehender Ehe (§ 1592 Nr. 1) einzubeziehen.
BGH S. 499 unter e): Dem informationellen Selbstbestimmungsrecht des Kindes steht auch ein ebenfalls aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht abzuleitendes Recht des Vaters oder Scheinvaters auf Kenntnis seiner Vaterschaft (vgl. BVerfG NJW 2003, 2151…) nicht entgegen. Dieses ist nicht als höherwertig anzusehen (vgl. Rittner/Rittner NJW 2002, 1745 [1749]; einschränkend Erman/Holzhauer, BGB, 11. Aufl., § 1600 b Rdnr. 8; a. A. Reichel/Schmidt/Schmidtke FamRZ 1995, 777 [779 unter B I b]; Staudinger/Rauscher Einl. zu §§ 1589 ff. Rdnr. 116). Das zeigt sich schon daran, dass seine Durchsetzung im Vaterschaftsanfechtungsverfahren unter anderem durch die gesetzliche Fristenregelung des § 1600 b BGB wesentlich eingeschränkt ist, während das aus dem informationellen Selbstbestimmungsrecht des Kindes folgende Recht, der Erhebung oder Verwertung genetischer Daten zu widersprechen, keiner zeitlichen Schranke unterworfen ist. Auch hat der Gesetzgeber sich bei der Kindschaftsrechtsreform im Jahre 1997 dagegen entschieden, in jedem Fall die biologische Abstammung eines Kindes zu klären, und stattdessen hingenommen, dass die biologische Vaterschaft zu Gunsten des Kindeswohls unter anderem dann in den Hintergrund tritt, wenn ein Kind auf Grund seiner Geburt in die Ehe der Mutter bereits in einem Familienverbund aufwächst (vgl. Rittner/Rittner NJW 2002, 1745 [1749])… Das Interesse des Vaters oder Scheinvaters, sich Gewissheit über seine Vaterschaft zu verschaffen, kann auch dann nicht als höherrangig angesehen werden, wenn es der Abwehr zivilrechtlicher Ansprüche, denen er als gesetzlicher Vater ausgesetzt ist, dienen soll.
2. BGH S. 499 unter c): Dies führt dazu, dass heimlich veranlasste DNA-Vaterschaftsanalysen rechtswidrig (vgl. Palandt/Diederichsen, BGB, 64. Aufl., Einf. vor § 1591 Rdnr. 11und im Vaterschaftsanfechtungsverfahren gegen den Willen des Kindes oder seines gesetzlichen Vertreters nicht verwertbar sind (… Musielak/Foerste, ZPO, ZPO, 4. Aufl., § 286 Rdnr. 7), und zwar auch nicht zur schlüssigen Darlegung von Zweifeln an der Vaterschaft i. S. des § 1600 b BGB (vgl. Zöller/Greger, ZPO, 25. Aufl., § 286 Rdnr. 15 b a. E.…)…
Wegen der Unverwertbarkeit des privaten Gutachtens hat A den nötigen Anfangsverdacht, dass er nicht Vater der B ist, nicht dargelegt. Seine Klage ist als unbegründet abzuweisen.
Die BGH-Entscheidung wird zustimmend besprochen von Rittner/Rittner NJW 2005, 945, auch mit Hinweisen „auf wütende Proteste betroffener Männer“ und Reaktionen in den Medien und der Politik.
Zusammenfassung