Bearbeiter: Dr. Gernot Schmalz-Brüggemann

Eine wichtige Fallgruppe zu § 138 BGB bilden die einer Bank gegenüber abgegebenen ► „Familienbürgschaften“, bei denen der Schuldner krass überfordert wird. Ausgangspunkt war die Entscheidung BVerfGE 89, 214, durch die den Zivilgerichten aufgegeben wurde, Bürgschaftsverträge, die den Bürgen ungewöhnlich stark belasten und die das Ergebnis einer strukturell ungleichen Verhandlungsstärke bei Unterlegenheit des Bürgen sind, einer Inhaltskontrolle zu unterziehen. Daraus hat sich eine gefestigte Rspr. ergeben, die zunächst überblicksmäßig dargestellt wird (Nachw. auch im Urteil BGH NJW 2005, 971 und bei Braun JURA 2004, 474):

Eine Bürgschaft oder eine ähnliche Mithaftung gegenüber einer Bank zu Gunsten eines nahen Angehörigen kann auf Grund der nachfolgenden Grundsätze nach § 138 I BGB nichtig sein.

(1) Anwendbar sind diese Grundsätze insbesondere bei Bürgschaften eines Ehepartners zu Gunsten des anderen (Hauptschuldners). Sie sind nicht anwendbar,

(a) wenn der Verpflichtete kein bloßer Bürge oder sonst Mithaftender ist, sondern echter Vertragspartner geworden ist (dazu der folgende Fall);

(b) bei Bürgschaften von GmbH-Gesellschaftern oder von Kommanditisten einer KG für Gesellschaftsschulden;

(c) bei Realsicherungen wie einer Grundschuld.

(2) Wurde eine Bürgschaft oder andere Mithaftungserklärung zu Gunsten eines Angehörigen abgegeben, ist Voraussetzung für die Nichtigkeit eine krasse Überforderung. Sie liegt vor, wenn der Bürge voraussichtlich nicht einmal die Zinsen aus dem pfändbaren Teil seines Einkommens oder Vermögens bei Eintritt des Sicherungsfalls bezahlen kann (dazu der zweite der folgenden Fälle)

(3) Weitere Voraussetzung ist die Übernahme der Bürgschaft aus emotionaler Verbundenheit des Bürgen mit dem Hauptschuldner (dazu ebenfalls im zweiten Fall). Das Vorliegen dieser Voraussetzung wird widerlegbar vermutet. Eine Widerlegung kann dadurch erfolgen, dass der Bürge auf Grund konkreter und rechtlich hinreichend gesicherter Vereinbarungen mit dem Hauptschuldner an dem finanzierten Objekt in einem nennenswerten Umfang beteiligt werden soll.

(4) Die Bank muss die Verhältnisse gekannt oder sich ihnen bewusst verschlossen haben, wovon i. d. R. auszugehen ist.

(5) Das Interesse der Bank, sich durch die Bürgschaft vor Vermögensverschiebungen zwischen Eheleuten zu schützen, schließt die Sittenwidrigkeit nur aus, wenn der Vertrag eine ausdrückliche Haftungsbeschränkung des Bürgen enthält, die verhindert, dass der Bürge auch ohne Vermögensverschiebung in Anspruch genommen wird.

 

In BGH NJW 2005, 973 (Urteil vom 25. 1. 2005, XI ZR 325/03) hat der BGH zu der Anwendbarkeitsvoraussetzung oben (1) (a) Stellung genommen. Erforderlich ist eine ► Abgrenzung zwischen einseitig verpflichtender Übernahme der Mithaftung insbesondere durch Bürgschaft und echter Mitdarlehensnehmerschaft.

BGH S. 974 unter 1: Maßgebend für die Abgrenzung zwischen der Begründung einer echten Mitdarlehensnehmerschaft und einer Mithaftungsübernahme ist die von den Vertragsparteien tatsächlich gewollte Rechtsfolge… Die Privatautonomie schließt in den Grenzen der §§ 134 und 138 BGB die Freiheit der Wahl der Rechtsfolgen und damit des vereinbarten Vertragstyps ein, umfasst allerdings nicht die Freiheit zu dessen beliebiger rechtlicher Qualifikation (BGH NJW-RR 2004, 924). Die kreditgebende Bank hat es deshalb nicht in der Hand, durch eine im Darlehensvertrag einseitig gewählte Formulierung wie „Mitdarlehensnehmer“, „Mitantragsteller“, „Mitschuldner“ oder dergleichen einen materiell-rechtlich bloß Mithaftenden zu einem gleichberechtigten Mitdarlehensnehmer zu machen und dadurch den weit reichenden Nichtigkeitsfolgen des § 138 I BGB zu entgehen (folgen Nachw.)…

Nach der gefestigten Rspr. des erkennenden Senats ist als echter Mitdarlehensnehmer ungeachtet der Vertragsbezeichnung in aller Regel nur derjenige anzusehen, der für den Darlehensgeber erkennbar ein eigenes sachliches und/oder persönliches Interesse an der Kreditaufnahme hat sowie als im Wesentlichen gleichberechtigter Partner über die Auszahlung bzw. Verwendung der Darlehensvaluta mitentscheiden darf (BGHZ 146, 37 [41]…).

Im Fall des BGH hatte die Ehefrau, von Beruf Verkäuferin, einen „Kreditvertrag“ in Höhe von 350.000 DM zu einem Zinssatz von 8 % zum Zwecke der Ablösung bestehender Gesellschaftsschulden der GmbH des Ehemannes unterschrieben. Im Unterschied zur Vorinstanz sah der BGH die Ehefrau nicht als echte Mitdarlehensnehmerin an, sondern als bloße Mithaftende, so dass die obigen Grundsätze zur Anwendung kamen (und zur Nichtigkeit der Verpflichtung der Ehefrau führten).

 

Die Prüfung der Voraussetzungen (2) bis (4) der obigen Übersicht lässt sich an Hand des folgenden Falles darstellen. Der Fall spielt noch zu DM-Zeiten und wird hier auf Euro umgestellt.

Bürgschaft eines Ehepartners zu Gunsten von Geschäftsschulden des anderen; Voraussetzungen für Sittenwidrigkeit, § 138 I BGB

BGH Urteil vom 25. 1. 2005 (XI ZR 28/04) NJW 2005, 971

Fall (Existenzgründungsdarlehen für Transportgewerbe)

Frau B und ihr Ehemann E waren in leitender Stellung in einer Spedition tätig, verloren dort aber ihre Stellen und wurden arbeitslos. E beschloss, sich selbstständig zu machen und ein Transportunternehmen zu gründen. Frau B, die 51 Jahre alt war, sollte das Büro leiten und dafür ein Jahresgehalt von 36.000 € erhalten, mit der Aussicht auf eine Erhöhung. E nahm bei der K-Bank mehrere, teils öffentlich geförderte Existenzgründungsdarlehen in einem Gesamtumfang von 600.000 € auf. Für einen Teilbetrag von 150.000 € übernahm B gegenüber K die Bürgschaft. Auf den von B verbürgten Betrag entfiel eine monatliche Zinsbelastung von 800 €. Das neue Unternehmen erwies sich als wirtschaftlich nicht lebensfähig, konnte das Gehalt der B nur zum Teil zahlen und geriet nach knapp zwei Jahren in die Insolvenz. K erhielt für den Betrag, für den B sich verbürgt hat, keine Zahlung und nimmt B aus der Bürgschaft in Anspruch. Zu Recht ?

Eine Anspruch aus einem Bürgschaftsvertrag (§ 765 I BGB) besteht nur, wenn dieser nicht nach § 138 I BGB nichtig ist. Voraussetzung für § 138 I ist Sittenwidrigkeit.

I. BGH S. 972 unter a): Nach der st. Rspr. des BGH hängt die Anwendung des § 138 I BGB auf von Kreditinstituten mit privaten Sicherungsgebern geschlossene Bürgschafts- oder Mithaftungsverträge entscheidend vom Grad des Missverhältnisses zwischen dem Verpflichtungsumfang und der finanziellen Leistungsfähigkeit des dem Hauptschuldner persönlich nahe stehenden Bürgen oder Mitverpflichteten ab (BGHZ 136, 347 [351];…156, 302 [307] m. w. Nachw.; diese Entscheidung folgt unten als nächster Fall). Zwar reicht selbst der Umstand, dass der Betroffene voraussichtlich nicht einmal die von den Darlehensvertragsparteien festgelegte Zinslast aus dem pfändbaren Teil seines laufenden Einkommens und/oder Vermögens bei Eintritt des Sicherungsfalls dauerhaft tragen kann, regelmäßig nicht aus, um das Unwerturteil der Sittenwidrigkeit zu begründen. In einem solchen Fall krasser finanzieller Überforderung ist aber nach der allgemeinen Lebenserfahrung ohne Hinzutreten weiterer Umstände widerleglich zu vermuten, dass er die ruinöse Bürgschaft oder Mithaftung allein aus emotionaler Verbundenheit mit dem Hauptschuldner übernommen und der Kreditgeber dies in sittlich anstößiger Weise ausgenutzt hat (st. Rspr., z. B. …BGHZ 156, 302 [307]).

II. Diese Grundsätze sind im vorliegenden Fall anzuwenden.

1. Es müsste eine krasse finanzielle Überforderung vorliegen.

a) BGH S. 972 unter b): Da die Bekl. bei Übernahme der Bürgschaft arbeitslos war, konnte sie zunächst nicht das Geringste zur vertragsgemäßen Erfüllung der Zinsansprüche der Kl. aus dem verbürgten Existenzgründungsdarlehen und dem Kontokorrentkredit ihres Ehemannes beitragen.

b) Aus der maßgebenden Sicht eines seriösen und vernünftigen Kreditgebers war auch nicht mit einer…Verbesserung ihres finanziellen Leistungsvermögens bis zum ungewissen Zeitpunkt der Inanspruchnahme aus der Bürgschaft zu rechnen. Dabei sind alle erwerbsrelevanten Umstände und Verhältnisse wie zum Beispiel Alter, Schul- und Berufsausbildung sowie etwaige besondere familiäre oder vergleichbare Belastungen des erkennbar finanzschwachen Bürgen oder Mithaftenden zu berücksichtigen…

Zwar sollte B im Betrieb ihres Mannes im Jahr 36.000 € brutto und in absehbarer Zeit sogar noch mehr verdienen. Dieser Plan beruhte aber auf einer unrealistischen Marktanalyse und Überschätzung der künftigen Ertragskraft des…Unternehmens. In Wirklichkeit hat die Bekl. denn auch unstreitig nie das vorgesehene Gehalt bezogen… Auch mit einer Anstellung in einem anderen Unternehmen konnte nicht gerechnet werden, denn es darf in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit, wie sie bei Vertragsschluss herrschten, nicht unberücksichtigt bleiben, dass die Bekl. damals bereits 51 Jahre alt war und nach der Lebenserfahrung ältere Arbeitnehmer große Probleme haben, einen ihrer Qualifikation entsprechenden Arbeitsplatz zu finden.

Um die 800 € monatlich betragenden Zinsen aus dem pfändbaren Teil ihres Einkommens tragen zu können, hätte die…Bekl. ein monatliches Nettoeinkommen von mindestens 1. 750 € erzielen müssen. Ein solches Einkommen hat die Bekl. nach Übernahme der Bürgschaft nie erhalten, und es bestand angesichts des Alters der Bekl. von damals 51 Jahren auch keine realistische Aussicht, dass sie ein solches Gehalt außerhalb des Unternehmens ihres Ehemannes erzielen konnte. Eine krasse finanzielle Überforderung der Bekl. ist danach gegeben.

2. BGH S. 973 unter c): Die damit verbundene tatsächliche Vermutung, dass die Bekl. die ruinöse Bürgschaft aus emotionaler Verbundenheit mit ihrem Ehemann übernommen und die Kl. dies in sittlich anstößiger Weise ausgenutzt hat, ist nicht widerlegt bzw. entkräftet. Dass das zu gründende Unternehmen die Existenzgrundlage für die Familie bilden sollte, reicht ebenso wenig aus wie die Aussicht der B auf eine Stellung in dem Unternehmen. Beide Gründe wiegen das hohe Bürgschaftsrisiko nicht auf, weil der bürgende Ehepartner in solchem Fall in eine wirtschaftlich sinnlose Garantenstellung für den ungewissen wirtschaftlichen Erfolg einer Berufsentscheidung des anderen gedrängt und möglicherweise bis zum Lebensende finanziell unzumutbar belastet wird… Auch eine mögliche Beteiligung der B an dem Unternehmen war nicht hinreichend gewiss vereinbart (BGH S. 973 unter bb).

Somit war die Bürgschaft sittenwidrig und der Vertrag nach § 138 I nichtig. K hat gegen B keinen Anspruch.

Zusammenfassung