Sittenwidrigkeit und Nichtigkeit (§ 138 I BGB) von Abreden, die auf Zahlungen innerhalb eines nach dem Schneeballprinzip organisierten Systems gerichtet sind. Rückzahlungsanspruch nach § 812 I 1 BGB. Anwendungsbereich der Kondiktionssperre aus § 817 Satz 2 BGB. Einschränkende Auslegung des § 817 Satz 2 nach dem Schutzzweck der Nichtigkeitssanktion
BGH Urteil vom 10. 11. 2005 (III ZR 72/05) NJW 2006, 45
Fall (Schenkkreis)
K, der spätere Kläger, wurde von Frau B angeworben, sich an einem sog. Schenkkreis zu beteiligen. Die Schenkkreise sind pyramidenförmig organisiert: Die an der Spitze stehenden Personen gehören zum „Empfängerkreis“ und erhalten von den Mitgliedern des darunter stehenden „Geberkreises“ bestimmte Geldbeträge. Danach scheiden die Mitglieder des bisherigen Empfängerkreises aus dem „Spiel“ aus. An ihre Stelle treten die Mitglieder des bisher auf der Ebene unter ihnen angesiedelten Geberkreises, die nunmehr in die Empfängerposition eintreten. Ihnen wird in Aussicht gestellt, dass sie ein Mehrfaches ihres ursprünglichen Einsatzes erhalten. Voraussetzung ist aber, dass sich genügend Mitglieder für die neuen Geberkreise finden, was Aufgabe der jeweils auf der untersten Ebene befindlichen „Mitspieler“ ist. Frau B war Mitglied des damaligen Empfängerkreises und erhielt in dieser Eigenschaft von K 1.250 €. Als sich die Hoffnung des K, als Mitglied des Empfängerkreises seinerseits erhebliche Geldbeträge zu erhalten, nicht erfüllte, verlangte er von B den gezahlten Betrag zurück. B weigert sich mit der Begründung, K habe sich in voller Kenntnis der Spielregeln beteiligt und verhalte sich widersprüchlich, wenn er das von ihm übernommene Risiko nun auf B abwälzen wolle. Ist der von K gegen B geltend gemachte Anspruch begründet?
I. Zwischen K und B wurde ein Vertrag geschlossen, wonach K an B 1.250 € zahlt und K dafür in den Schenkkreis aufgenommen wird. Diese Spielvereinbarung ist jedoch nicht auf eine Rückzahlung gerichtet und gibt daher auch keinen Anspruch auf Rückzahlung.
II. Anspruchsgrundlage kann § 812 I 1 BGB sein.
1. K hat an B 1.250 € geleistet. Der für diese Leistung erforderliche Rechtsgrund fehlt, wenn die Spielvereinbarung nichtig ist. Eine Nichtigkeit könnte sich aus § 138 I BGB ergeben. Dann müsste die Spielvereinbarung gegen die guten Sitten verstoßen.
a) Ob ein Rechtsgeschäft sittenwidrig ist, ist seinem sich aus Inhalt, Zweck und Beweggründen ergebenden Gesamtcharakter zu entnehmen. Im vorliegenden Fall ist deshalb nicht nur auf die Vereinbarung zwischen K und B, sondern maßgeblich auch auf den Zusammenhang abzustellen, der zwischen dieser Vereinbarung und den Zwecken des Schenkkreises besteht. Die Beteiligung an dem Schenkkreis begründet für jeden Teilnehmer die Erwartung, nach einer gewissen Wartezeit von anderen Personen ein Mehrfaches des Betrages zu erhalten, den er selbst aufgewendet hat. Das kann aber nur funktionieren, wenn andere Personen geschädigt würden.
b) Insoweit bezieht sich BGH S. 45 Rdnr. 6 zustimmend auf die Ausführungen des BerGer. Danach habe es sich um ein Schneeballsystem gehandelt. Die „Schenkkreise“ seien darauf angelegt gewesen, den ersten „Mitspielern“ einen sicheren Gewinn zu verschaffen, während die große Masse der späteren Teilnehmer keine Chance auf einen Gewinn gehabt habe und ihren „Einsatz“ habe verlieren müssen; denn in absehbarer Zeit habe die für das Aufrücken der – größer werdenden – Zahl von „Gebern“ in den „Empfängerkreis“ notwendige, immer größer werdende Zahl von „Schenkern“ nicht mehr gewonnen werden können. BGH S. 46 Rdnr. 12: Das „Spiel“ zielte allein darauf ab, zu Gunsten einiger weniger „Mitspieler“ leichtgläubige und unerfahrene Personen auszunutzen und sie zur Zahlung des „Einsatzes“ zu bewegen (vgl. BGH NJW 1997, 2314 [2315]). Einem solchen sittenwidrigen Verhalten steuert § 138 I BGB entgegen, indem er für entsprechende Vereinbarungen Nichtigkeit anordnet.
Somit fehlte es an einem Rechtsgrund für die Leistung der 1.250 €. Die Voraussetzungen des § 812 I 1 liegen vor.
2. Der Anspruch könnte nach § 817 Satz 2 BGB ausgeschlossen sein.
Nach § 817 Satz 1 ist ein Empfänger zur Herausgabe verpflichtet, wenn er durch die Annahme einer Leistung nach deren Zweck gegen ein gesetzliches Verbot oder gegen die guten Sitten verstoßen hat. Nach Satz 2 ist die Rückforderung ausgeschlossen, wenn dem Leistenden gleichfalls ein solcher Verstoß zur Last fällt (…). Diese Vorschrift hat die Bedeutung einer „Kondiktionssperre“ (vgl. den LS des BGH).
a) Nach Wortlaut („gleichfalls“) und systematischer Stellung in § 817 bezieht sich § 817 S. 2 nur auf den Anspruch aus S. 1 und setzt deshalb voraus, dass sowohl der Empfänger (S. 1) als auch der Leistende (S. 2) gesetz- oder sittenwidrig gehandelt hat. Die ganz h. M. dehnt den Anwendungsbereich des § 817, 2 aber auch auf Bereicherungsansprüche aus § 812 I 1 aus. Da es hierbei nicht mehr auf ein sittenwidriges Handeln des Empfängers ankommt, reicht es für die Kondiktionssperre nach § 817, 2 (analog) aus, dass der Leistende gesetz- oder sittenwidrig gehandelt hat (Palandt/Sprau, BGB, 65. Aufl., § 817 Rdnr. 12; vgl. auch Michalski JURA 1994, 113 ff.). Auf letztere Ausdehnung kommt es im vorliegenden Fall allerdings nicht an, weil davon auszugehen ist, dass B als Empfängerin und Profiteurin der von K erbrachten Leistung deren sittenwidrigen Zweck kannte und billigte.
b) Die Anwendung des § 817, 2 (analog) im vorliegenden Fall hängt somit davon ab, ob K Kenntnis von der Sittenwidrigkeit der innerhalb des Schenkkreises getätigten Zahlungen hatte oder wenigstens – was ausreichen würde – sich dieser Kenntnis leichtfertig verschlossen hat (BGH S. 46 Rdnr. 10). Es kann davon ausgegangen werden, dass K die Tatsachen kannte, aus denen sich das Schneeballsystem des „Spiels“ ergab und deshalb auch wusste, dass die erwarteten hohen Gewinne nur zu Lasten von später Geschädigten realisiert werden konnten. Dann musste sich ihm auch die Einsicht aufdrängen, dass ein solches Vorgehen von allen recht und billig Denkenden als anstößig bewertet würde. Dem hat das BerGer. im zu entscheidenden Fall allerdings entgegengehalten (vgl. BGH S. 46 Rdnr. 10), mit der Zahlung habe K nicht unmittelbar sittenwidrige Ziele verfolgt; er sei in dieser Phase des „Spiels“ passiv gewesen. Dem könnte man hinzusetzen: In dieser Phase habe K sich nur selbst schädigen können. Der BGH lässt diese Frage offen. Denn selbst dann, wenn man den Tatbestand des § 817, 2 bejaht, greift diese Vorschrift hier ausnahmsweise nicht ein.
c) Der Grundsatz von Treu und Glauben verlangt eine einschränkende Auslegung und Anwendung des § 817, 2, wenn der Schutzzweck der Grundsätze, gegen die der Leistende verstoßen hat, die Vermögensverschiebung unbedingt verhindern will und deshalb, wenn sie stattgefunden hat, ihre Rückabwicklung gebietet. BGH S. 46 Rdnr. 11, 12: Dem BerGer. ist darin zuzustimmen, dass der Grund und der Schutzzweck der Nichtigkeitssanktion (§ 138 I BGB) hier – ausnahmsweise – gegen eine Kondiktionssperre gem. § 817 S. 2 BGB sprechen (vgl. … BGHZ 111, 308 [312 f.]; 118, 142 [150];… Lieb, in: MünchKomm, 4. Aufl. [2004] § 817 Rdnr. 13…). Die mit dem Urteil der Sittenwidrigkeit bezweckte Verhinderung eines derartigen „Spiels“ würde im Ergebnis konterkariert und die Initiatoren solcher „Spiele“ zum Weitermachen geradezu eingeladen, wenn sie die mit sittenwidrigen Methoden erlangten Gelder – ungeachtet der Nichtigkeit der das „Spiel“ tragenden Abreden – behalten dürften.
Somit greift hier § 817, 2 nicht ein und steht dem Anspruch aus § 812 nicht entgegen.
3. Auch § 762 I 2 BGB hindert die Rückforderung nicht. Nach diese Vorschrift kann das auf Grund eines Spiels Geleistete nicht zurückgefordert werden. BGH S. 46 Rdnr. 13: Diese Vorschrift greift nur dann Platz, wenn die Rückforderung auf den Spielcharakter gestützt wird. Ist die „Spielvereinbarung“ – wie hier – gem. § 138 I BGB nichtig, gelten die allgemeinen Regeln (§§ 812 ff.; folgen Nachw.). Deshalb braucht auch nicht entschieden zu werden, ob es sich hier wirklich um ein Spiel i. S. des § 762 I gehandelt hat.
Der Anspruch des K gegen B auf Rückzahlung der 1.250 € ist aus § 812 I 1 BGB begründet.
Zusammenfassung