Bearbeiter: Dr. Gernot Schmalz-Brüggemann

Schadensersatz wegen Verletzung der Verkehrssicherungspflicht, § 823 BGB. Übertragung der Verkehrssicherungspflicht auf einen anderen. Vertrag mit Schutzwirkung für Dritte, § 328 BGB analog. Streitverkündung, §§ 72, 74 III, 68 ZPO

BGH Urteil vom 22. 1. 2008 (VI ZR 126/07) NJW 2008, 1440

Fall (In Berlin auf Glatteis gestürzt)

In Berlin bestimmt das Straßenreinigungsgesetz (StrRG), dass für die öffentlichen Straßen die Räum- und Streupflicht bei Schnee- und Eisglätte der Stadt Berlin obliegt, dass die Stadt aber diese Pflicht auf die Grundstückeigentümer übertragen kann. Eine solche Übertragung ist in rechtswirksamer Form erfolgt. Grundstückseigentümer und Vermieter V hat die B-Service-GmbH durch Vertrag mit der Wahrnehmung der Räum- und Streupflicht betraut. Nach § 6 StrRG ist eine solche Übertragung zulässig; sie bedarf einer Anzeige an die Stadt Berlin. Weder V noch B haben die Übernahme der Räum- und Streupflicht durch B der Stadt Berlin angezeigt.

An einem Wintermorgen verließ Frau K, die bei V zur Miete wohnt, das Haus und stürzte noch im Eingangsbereich auf dem Gehweg, weil dieser von Glatteis überzogen und noch nicht gestreut worden war. Wegen der Folgen der von K dabei erlittenen Verletzungen verlangte sie zunächst von ihrem Vermieter V klageweise Schadensersatz. Die Klage wurde rechtskräftig abgewiesen, was das Gericht damit begründete, dass B zwar Erfüllungsgehilfe (§ 278 BGB) des V gewesen sei, unter den konkreten Umständen dieses Falles aber nicht schuldhaft gehandelt habe, weil die Eisbildung unerwartet und kurzfristig eingetreten sei. K hatte in dem Prozess gegen V der B den Streit verkündet; B war dem Verfahren aber nicht beigetreten. Nunmehr klagt K gegen B. Es wurde erneut Beweis über die Frage erhoben, wann die Eisbildung erfolgt war. Jedoch ließ sich diese Frage nicht klären, vielmehr blieb offen, ob die Eisbildung schon länger erfolgt war, so dass B zum Zeitpunkt des Unfalls dafür hätte sorgen müssen, dass gestreut war, oder ob das im Unfallzeitpunkt noch nicht erwartet werden konnte. Wie ist über den Anspruch der K gegen B zu entscheiden ?

A. Ein vertraglicher Anspruch aus einem zwischen K und B geschlossenen Vertrag besteht nicht. Zwischen K und B bestanden keine vertraglichen Beziehungen.

B. K könnte einen Anspruch gegen B aus Delikt (§ 823 I BGB) haben.

I. Durch den Unfall ist der Körper der K verletzt worden. Darin liegt eine Rechtsgutverletzung i. S. des § 823 I.

II. Durch positives Tun hat B diese Körperverletzung nicht herbeigeführt. Ursächlich für den Unfall war ein Unterlassen der B. Denn hätte B rechtzeitig streuen lassen, wäre es nicht zu dem Sturz der K gekommen. Eine Verantwortlichkeit wegen eines Unterlassens hat aber weiterhin eine Rechtspflicht zum Handeln zur Voraussetzung. Diese könnte sich aus einer Verkehrssicherungspflicht ergeben.

1. Im vorliegenden Fall entspricht die Verkehrssicherungspflicht der im Straßenreinigungsgesetz geregelten Räum- und Streupflicht bei Schnee- und Eisglätte. Diese oblag zunächst der Stadt Berlin, wurde aber wirksam auf die Grundstückseigentümer, also auch auf V übertragen.

2. V könnte die Verkehrssicherungspflicht auf B weiter übertragen haben, so dass B verkehrssicherungspflichtig geworden ist.

a) BGH Rdnr. 9: Nach st. Rspr. des erkennenden Senats können Verkehrssicherungspflichten mit der Folge eigener Entlastung delegiert werden. Die Verkehrssicherungspflichten des ursprünglich Verantwortlichen verkürzen sich dann auf Kontroll- und Überwachungspflichten. Wer sie übernimmt, wird seinerseits deliktisch verantwortlich. Voraussetzung hierfür ist, dass die Übertragung klar und eindeutig vereinbart wird (vgl. BGH VersR 1996, 1151, 1152; VersR 1989, 526 f. und VersR 1988, 516, 517;…Geigel/Wellner, Der Haftpflichtprozess, 25. Aufl., Kap. 14 Rdnr. 204). Im vorliegenden Fall ist von einer klaren und eindeutigen vertraglichen Übertragung der Verkehrssicherungspflicht von V auf B auszugehen.

b) Im vorliegenden Fall hatte das BerGer. (OLG) die Übertragung als nicht wirksam angesehen, weil die Anzeige nach § 6 StrRG fehlte.

aa) Dass ein Verstoß gegen § 6 StrRG zur Unwirksamkeit der Übertragung führt, könnte schon mit der Begründung verneint werden, dass nach Sinn und Zweck des § 6 nur die Entlastung des Grundstückseigentümers von der Anzeige abhängen soll, dass das Fehlen einer Anzeige dagegen der Wirksamkeit der Übernahme durch den Dritten nicht entgegen steht (so Faust JuS 2008, 556 in einer Besprechung dieses Falles).

bb) Der BGH lässt an dieser Stelle offen, ob das Fehlen der Anzeige zur Unwirksamkeit des übertragenden Vertrages führt, weil die Übertragung der Verkehrssicherungspflicht nicht von der Wirksamkeit des Vertrages abhängt. Rdnr. 10: Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts ist nicht erforderlich, dass die nach öffentlich-rechtlichen Vorschriften erforderliche Anzeige der Übertragung gegenüber der zuständigen Behörde erfolgt ist. Die deliktische Einstandspflicht des mit der Wahrnehmung der Verkehrssicherung Beauftragten besteht auch dann, wenn der Vertrag mit dem primär Verkehrssicherungspflichtigen nicht rechtswirksam zustande gekommen ist (vgl.…BGB-RGRK/Steffen, 12. Aufl., § 823 Rn. 129; MünchKommBGB/Wagner, 4. Aufl., § 823 Rn. 288 f.; Soergel/Krause, BGB, 13. Aufl., § 823 Anh. II Rn. 53 f.; Staudinger/J. Hager (1999) § 823 BGB…).

Entscheidend ist, dass der in die Verkehrssicherungspflicht Eintretende faktisch die Verkehrssicherung für den Gefahrenbereich übernimmt und im Hinblick hierauf Schutzvorkehrungen durch den primär Verkehrssicherungspflichtigen unterbleiben, weil sich dieser auf das Tätigwerden des Beauftragten verlässt. Dieser ist aufgrund der von ihm mitveranlassten neuen Zuständigkeitsverteilung für den übernommenen Gefahrenbereich nach allgemeinen Deliktsgrundsätzen verantwortlich. Insofern ist seine Verkehrssicherungspflicht nicht abgeleiteter Natur. Vielmehr erfährt sie mit der Übernahme durch den Beauftragten in seine Zuständigkeit eine rechtliche Verselbständigung. Er ist es fortan, dem unmittelbar die Gefahrenabwehr obliegt und der dafür zu sorgen hat, dass niemand zu Schaden kommt. Inhalt und Schutzbereich dieser verselbständigten Verkehrssicherungspflicht bestimmen sich allein danach, was objektiv erforderlich ist, um mit der Gefahrenstelle in Berührung kommende Personen vor Schaden zu bewahren.


Somit war B verkehrssicherungspflichtig geworden. Er war für einen durch Unterlassen des Streuens eingetretenen Unfall verantwortlich.

III. § 823 I setzt weiterhin Verschulden voraus. Dieses muss positiv feststehen. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme ist aber offen geblieben, ob die Eisbildung so lange vor dem Unfall erfolgt war, dass das Nichtstreuen der B zum Vorwurf gemacht werden kann. Es besteht auch die Möglichkeit, dass die Eisbildung unerwartet und kurzfristig eingetreten ist, so dass ein Streuen im Unfallzeitpunkt noch nicht erwartet werden konnte. Der deliktische Anspruch der K aus § 823 I scheitert somit daran, dass das erforderliche Verschulden nicht feststeht.

C. Ein Schadenseratzanspruch der K könnte sich aus der Verletzung eines Vertrages mit Schutzwirkung für Dritte ergeben. Eine Rechtsgrundlage für diesen, im Gesetz nicht ausdrücklich geregelten Vertragstyp bezeichnet der BGH nicht. Er zitiert im Eingang des Urteils lediglich § 328 BGB. Deshalb bieten sich als Anspruchsgrundlage für einen Schadensersatzanspruch §§ 328 analog, 280 I BGB an.

I. Zunächst müsste zwischen V und B ein wirksamer Vertrag geschlossen worden sein, der als Vertrag mit Schutzwirkung für K in Betracht kommt. Ein solcher Vertrag ist der Vertrag über die Übernahme der Verkehrssicherungspflicht. Während der BGH im Zusammenhang mit § 823 I offen gelassen hat, ob die fehlende Anzeige nach § 6 StrRG der Wirksamkeit des Vertrages entgegensteht (oben B II 2 b bb), geht er im Zusammenhang mit dem Vertrag mit Schutzwirkung für Dritte ohne weiteres von der Wirksamkeit aus (vgl. Rdnr. 11). Sie lässt sich mit der Überlegung oben B II 2 b aa) begründen. Ein wirksamer Vertrag zwischen V und B besteht somit. Er verpflichtete B dazu, bei Schnee- und Eisglätte die Verkehrsfläche vor dem Mietshaus des V zu streuen.

II. K müsste in den Schutzbereich dieses Vertrages einbezogen worden sein. Voraussetzungen für die Einbeziehung eines Dritten in den Schutzbereich eines Vertrages sind (Faust JuS 2008, 557):

(1) Leistungsnähe des Dritten. Dieser muss bestimmungsgemäß mit der Leistung aus dem Vertrag in Berührung kommen und der Gefahr von Pflichtverletzungen ebenso ausgesetzt sein wie der Vertragspartner. Das ist bei einer Mieterin der Fall. Sie ist regelmäßig auf die Erfüllung der Verkehrssicherungspflicht in gleichem Maße angewiesen wie der Vermieter selbst und kann im Falle ihrer Verletzung ebenso wie dieser zu Schaden kommen.

(2) Schutzwürdiges Interesse des Gläubiger-Vertragspartners an der Einbeziehung des Dritten. Da V den Mietern gegenüber die Verkehrssicherung primär als eine mietvertragliche Schutz- und Fürsorgepflicht obliegt, hat er ein Interesse daran, dass die Streu- und Räumpflicht auch im Verhältnis zu seinen Mietern und zu deren Schutz erfüllt wird.

(3) Erkennbarkeit des einbezogenen Personenkreises für den Schuldner. Für B konnte nicht zweifelhaft sein, dass die Erfüllung der Streu- und Räumpflicht im Interesse der Mieter des Hauses, die bekannt und zahlenmäßig begrenzt waren, bestand.

Zu (1) bis (3) BGH Rdnr. 11: In den Schutzbereich eines Vertrages sind Dritte einbezogen, auf die sich Schutz und Fürsorgepflichten aus vertraglichen Vereinbarungen nach dem Vertragszweck zwangsläufig erstrecken. Um die Schutzpflichten zugunsten Dritter nicht zu weit auszudehnen, ist allerdings erforderlich, dass der Dritte bestimmungsgemäß mit der Hauptleistung in Berührung kommt und der Gläubiger ein schutzwürdiges Interesse an der Einbeziehung des Dritten in den Schutzbereich des Vertrages hat (vgl. BGHZ 133, 168, 171 ff.). Mit Recht weist die Revision darauf hin, dass im Streitfall diese Voraussetzungen zu bejahen sind. Die Sicherung des unmittelbaren Zugangs zum Haus bei Schnee und Eisglätte ist Aufgabe des Vermieters. Sie dient vor allem dem Schutz der Mieter (vgl.…Palandt/Weidenkaff BGB, 67. Aufl. § 535, Rn. 60). Dass die Übertragung der Streupflicht den sicheren Zugang der Mieter zum Haus und damit u.a. für die Klägerin gewährleisten sollte, liegt auf der Hand. Dies war auch für die Beklagte ohne weiteres erkennbar.

(4) Schutzwürdigkeit des Dritten, insbesondere weil dieser keinen eigenen Anspruch gegen den Schuldner hat.

a) Auf diesen Aspekt geht der BGH nicht ein. Im Originalfall, in dem kein Prozess zwischen K und V vorausgegangen war, hätte daran eigentlich der Anspruch der K gegen B scheitern müssen (Faust JuS 2008, 537). Denn K hatte gegen V einen Anspruch aus §§ 280 I, 535 I, 278 BGB, weil B Erfüllungsgehilfe des V war und dessen Verschulden nicht sicher ausgeschlossen werden konnte (§ 280 I 2).

b) Um gleichwohl das Ergebnis zu erzielen, zu dem der BGH gekommen ist, wurde im Sachverhalt die Variante eingeführt, dass ein Vorprozess zwischen K und V mit Streitverkündung stattgefunden hat. Danach stellt sich die Rechtslage wie folgt dar: Die Streitverkündung der K gegenüber B hat zu Gunsten der K die Wirkung, dass B im Nachprozess nicht mehr einwenden kann, der Vorprozess sei im Ergebnis falsch entschieden worden (§§ 72, 74 III, 68 ZPO). Das gilt auch in dem Fall. in dem der Streitverkündete dem Verfahren nicht beigetreten ist (§ 74 III ZPO: „In allen Fällen dieses Paragraphen…“). Infolgedessen ist im Verhältnis der K zu B davon auszugehen, dass - wie im Vorprozess entschieden - K kein Anspruch gegen V zusteht. Damit ist die Voraussetzung (4) des Vertrages mit Schutzwirkung für Dritte, dass K schutzwürdig ist, weil ihr kein Anspruch gegen V zusteht, erfüllt.

III. B müsste die ihr gegenüber K obliegenden Schutzpflichten in zu vertretender Weise verletzt haben (§ 280 I).

1. Objektiv liegt eine Verletzung der Streupflicht vor. Wegen der Eisglätte des Gehweges bestand die Pflicht zum Streuen, die B nicht erfüllt hat.

2. Nicht geklärt werden konnte allerdings, ob B insoweit schuldhaft gehandelt hat. Die Feststellungen im Urteil des Vorprozesses, die für den Rechtsstreit der K gegen B nicht bindend sind, konnten in der Beweisaufnahme nicht bestätigt werden, wurden allerdings auch nicht widerlegt. Es kommt somit die zu Ungunsten des Schuldners wirkende Beweislastregel des § 280 I 2 zur Anwendung. Da B ein fehlendes Verschulden nicht hat beweisen können, ist von einem Verschulden auszugehen. Die Voraussetzungen für einen Schadensersatzanspruch aus Vertrag mit Schutzwirkung für Dritte liegen somit vor.

Ergebnis: Der Anspruch der K gegen B aus §§ 328 analog, 280 I BGB ist begründet. Der Klage ist stattzugeben.

Zusammenfassung

  (1) Leistungsnähe des Dritten.
  (2) Schutzwürdiges Interesse des Gläubiger-Vertragspartners an der Einbeziehung des Dritten.
  (3) Erkennbarkeit des einbezogenen Personenkreises für den Schuldner.
  (4) Schutzwürdigkeit des Dritten, insbesondere weil dieser keinen eigenen Anspruch gegen den Schuldner hat.