Bearbeiter: Dr. Gernot Schmalz-Brüggemann
► Schadensersatz wegen Verschuldens bei Vertragsverhandlungen (culpa in contrahendo), §§ 311 II Nr. 1, 280 I BGB. ► Anwendbarkeit auf Kaufvertrag; Abgrenzung zur Sachmängelhaftung, §§ 434 ff. BGB. ► Aufklärungspflicht des Verkäufers, § 241 II BGB. ► Schadensberechnung (§ 249 BGB) und Schadensschätzung (§ 287 ZPO)
BGH Urteil vom 11. 11. 2011 (V ZR 245/10) NJW 2012, 846
Fall (Vorgarten auf dem Nachbargrundstück)
Frau K kaufte von Frau B ein 750 qm großes Hausgrundstück für 300.000 Euro. Die Vertragsverhandlungen auf Verkäuferseite wurden von dem geschiedenen Ehemann E der B geführt, der hierzu bevollmächtigt war und der die Hälfte des Verkaufserlöses bekommen sollte. Das verkaufte Grundstück ist mit einem massiven Holzzaun eingefriedet. In die Einfriedung einbezogen ist auch ein 150 qm großer Grundstückteil des Nachbarn N. Für den Betrachter gehört diese Teilfläche aufgrund der Einfriedung, ihrer gärtnerischen Gestaltung und des darauf befindlichen vier Meter breiten Eingangstores als Vorgarten zu dem verkauften Anwesen. Vor Abschluss des Vertrages hatte E mit Kenntnis der B der K Unterlagen zur Vorlage bei der den Kauf finanzierenden Bank und einen Ordner mit weiteren Unterlagen übergeben. In der in dem Ordner enthaltenen Objekt- und Lagebeschreibung wurde auf die Umfriedung des Grundstücks mit Zaun deutlich hingewiesen. In dem Lageplan war die Grundstücksgrenze richtig, d. h. ohne das Teilstück des N, eingezeichnet und die Größe des Grundstücks mit 750 qm zutreffend angegeben; Frau K ist das allerdings nicht aufgefallen. Nach Abwicklung des Kaufes wurde K bekannt, dass die 150 qm Teilfläche im Eigentum des N stehen. Auf Anfrage erklärte N, dass er ihr die 150 qm nicht auf Dauer überlassen werde. K fragt, welche Ansprüche ihr gegen B zustehen. Das Grundstück will sie behalten.
A. K könnte gegen B einen Erfüllungsanspruch auf Übereignung der dem N gehörenden Teilfläche in der Größe von 150 qm aus § 433 I 1 BGB haben.
I. Laut Kaufvertrag wurde das 750 qm große und der B gehörende Hausgrundstück verkauft. Dieses hat B der K übereignet und übergeben und hat insoweit ihre Pflicht aus § 433 I 1 erfüllt.
II. Die Teilfläche des N wurde im notariellen Kaufvertrag nicht als mitverkauft bezeichnet. K ist allerdings davon ausgegangen, dass sie mitverkauft wurde. Diese Vorstellung könnte Bedeutung über die Lehre von einer bloßen Falschbezeichnung („falsa demonstratio non nocet“) erhalten. Eine Anwendung des falsa-demonstratio-Grundsatzes ist auch bei formbedürftigen Verträgen möglich, so dass nicht der beurkundete Text, sondern der beiderseits gewollte Inhalt des Vertrages wird (Palandt/Ellenberger, BGB, 71. Aufl. 2012, § 133 Rdrn.8, 19) Jedoch ist dafür ein übereinstimmender Wille beider Parteien erforderlich (Palandt a. a. O.). Auf Verkäuferseite lässt sich weder bei E (vgl. § 166 I BGB) noch bei B feststellen, dass sie die Teilfläche mit verkaufen wollten oder das erklärt haben. Vielmehr ergibt sich aus der Tatsache, dass Unterlagen überreicht wurden, in denen das Kaufgrundstück richtig eingezeichnet und mit der richtigen Größe angegeben wurde, dass nur das der B gehörende Grundstück verkauft werden sollte.
K hat somit keinen kaufvertraglichen Erfüllungsanspruch auf Übereignung der Teilfläche erlangt. Es kann deshalb offen bleiben, welche Bedeutung es hat, dass die Teilfläche N gehört und dieser sie offenbar nicht weggeben will.
B. K könnte gegen B einen Schadensersatzanspruch wegen Verletzung einer vorvertraglichen Pflicht (Verschulden bei Vertragsverhandlungen, culpa in contrahendo = c. i. c.) aus §§ 280 I, 311 II Nr. 1, 241 II BGB haben.
I. Dafür ist erforderlich, dass die genannte gesetzliche Regelung über die c. i. c. nicht wegen des Vorrangs der Sachmängelhaftung durch diese verdrängt wird mit der Folge, dass die c. i. c. unanwendbar ist.
1. Innerhalb ihres Anwendungsbereichs haben §§ 434 ff. BGB Vorrang vor den Regelungen über das Verschulden bei Vertragsverhandlungen (Medicus/Petersen, Bürgerliches Recht, 23. Aufl. 2011, Rdnrn. 300 ff.; Kropholler, Studienkommentar BGB, 13. Aufl. 2011, § 437 Rdnr. 13). Insbesondere lösen falsche oder fehlende Angaben über die Beschaffenheit der Kaufsache keine Schadensersatzansprüche aus c. i. c. aus. Zweck dieser Vorrangregelung ist vor allem, dem Verkäufer die Möglichkeit zu erhalten, seine Leistung nach einer Aufforderung zur Nacherfüllung (§§ 437 Nr. 1, 439) oder einer Fristsetzung (§§ 437 Nr. 2, 323 I) noch erbringen zu können (sog. Recht der zweiten Andienung). Das wäre nicht gesichert, wenn der Käufer sogleich Schadensersatz aus c. i. c. verlangen könnte. Eine Ausnahme davon besteht allerdings bei arglistigem Handeln des Verkäufers (BGH NJW 2009, 2120; im vorliegenden Fall unter [9, 10]).
2. Der Anwendungsbereich der §§ 434 ff. ist eröffnet und die c. i. c. ist unanwendbar, wenn der Käufer Ansprüche wegen der Beschaffenheit der Kaufsache (vgl. § 434 I) geltend macht. BGH [9]:
a) Im vorliegenden Fall geht es nicht um Verhaltenspflichten der Bekl. im Zusammenhang mit der Beschaffenheit der Kaufsache. Zur Beschaffenheit des verkauften Grundstücks gehört es nicht, dass es sich auch auf Teile des Nachbargrundstücks erstreckt. Dies könnte auch nicht Gegenstand einer Beschaffenheitsvereinbarung sein; vielmehr würde eine solche Vereinbarung den Kaufgegenstand selbst und nicht lediglich dessen Beschaffenheit festlegen (vgl. zu einem solchen Sachverhalt BGH NJW 2008, 1658).
b) Da der Sachbereich der §§ 434 ff. BGB somit nicht betroffen ist, kann uneingeschränkt auf die Grundsätze des Verschuldens bei Vertragsschluss zurückgegriffen werden (vgl. hierzu BGH NJW-RR 1996, 690). Es braucht also nicht geprüft zu werden, ob E oder B arglistig gehandelt haben (vgl. dazu BGH [10]).
Die Regeln über die c. i. c. sind anwendbar.
II. Es sind die Voraussetzungen der §§ 280 I, 311 II Nr. 1, 241 II BGB zu prüfen.
1. Zwischen K und B ist durch die Aufnahme von Vertragsverhandlungen, bei der B durch E vertreten wurde, ein vorvertragliches Schuldverhältnis entstanden (§ 311 II Nr. 1). Sich daraus ergebende Pflichten entfallen nicht durch den späteren Vertragsschluss; vielmehr kommen dann weitere Pflichten hinzu.
2. Nach § 311 II führt das vorvertragliche Schuldverhältnis zu Pflichten aus § 241 II. B könnte eine Rücksichtnahmepflicht aus § 241 II verletzt haben.
a) B könnte verpflichtet gewesen sein, K über die bestehenden Grenzen und die wirkliche Größe des verkauften Grundstücks und damit über die Eigentumsverhältnisse der dem N gehörenden Teilfläche aufzuklären. Das wird vom BGH - dem BerGer. folgend - bejaht.
BGH [6]: Zutreffend geht das BerGer. davon aus, dass die Bekl. verpflichtet war, die Klägerin vor Abschluss des Kaufvertrages darüber aufzuklären, dass der Gartenzaun und das darin befindliche Eingangstor im Vorgartenbereich – wie die Bekl. wusste – fremden Grund und Boden einschloss und sich das zu verkaufende Grundstück im dortigen Bereich nicht bis an die Grundstückseinfriedung erstreckt. Nach der st. Rspr. des BGH besteht auch bei Vertragsverhandlungen, in denen die Parteien entgegengesetzte Interessen verfolgen, für jeden Vertragspartner die Pflicht, den anderen Teil über solche Umstände aufzuklären, die den Vertragszweck des anderen vereiteln können und daher für den Entschluss eines verständigen Käufers von wesentlicher Bedeutung sind, sofern er eine Mitteilung nach der Verkehrsauffassung erwarten kann (vgl. nur BGH WM 2011, 1956, 1957 Rn. 7; BGH NJW 2010, 858 Rn. 15, jeweils m. w. N.). Zu Recht nimmt das BerGer. an, dass die Einfriedung eines Hausgrundstücks Kaufinteressenten regelmäßig den Eindruck vermittelt, es handle sich um ein einheitliches, nach außen abgeschlossenes Grundstück. Dieser Eindruck wurde hier dadurch verstärkt, dass…in der der Klägerin von der Beklagten zur Verfügung gestellten Objekt- und Lagebeschreibung ausdrücklich auf die Umfriedung des Grundstücks mit Zaun und Eingangstor hingewiesen wurde. Unter diesen Umständen war die Bekl. verpflichtet, einem Irrtum der Kl. durch Aufklärung über den tatsächlichen Grenzverlauf vorzubeugen.
b) BGH [7): Ihre Pflicht zur Aufklärung hat die Bekl. nicht dadurch erfüllt, dass E der Kl. die erbetenen Finanzierungsunterlagen, die für die Bank benötigt wurden, sowie einen Ordner überlassen hat, in dem sich neben dem Exposé und diversen anderen Unterlagen Lagepläne des Grundstücks befunden haben. Mit der Übergabe von Unterlagen erfüllt ein Verkäufer seine Aufklärungspflicht nur dann, wenn er aufgrund der Umstände die berechtigte Erwartung haben kann, dass der Käufer die Unterlagen nicht nur zum Zweck allgemeiner Information, sondern unter einem bestimmten Gesichtspunkt gezielt durchsehen wird. Solche Umstände liegen etwa vor, wenn der Verkäufer dem Käufer im Zusammenhang mit möglichen Mängeln ein Sachverständigengutachten überreicht (BGH NJW 2011, 1280 Rn. 11). Ein verständiger und redlicher Verkäufer kann dagegen nicht erwarten, dass ein Käufer Finanzierungsunterlagen oder einen ihm übergebenen Ordner mit Unterlagen zu dem Kaufobjekt daraufhin durchsieht, ob in die Einfriedung des Grundstücks möglicherweise fremder Grund einbezogen wurde. Dies gilt hier umso mehr, als die Kl. aufgrund des ausdrücklichen Hinweises in der Objekt- und Lagebeschreibung auf die Umfriedung des Grundstücks mit Zaun und Eingangstor ersichtlich keinen Grund für die Annahme hatte, dass in diese Teile des Nachbargrundstücks einbezogen sein könnten, und sie daher erkennbar auch keinen Anlass hatte, die Frage des Grenzverlaufs einer näheren Prüfung zu unterziehen.
c) Eine andere Aufklärung der K durch die Verkäuferseite ist nicht erfolgt. B hat somit die ihr obliegende Rücksichtnahmepflicht aus §§ 311 II Nr. 1, 241 II verletzt und damit eine Pflichtverletzung nach § 280 I 1 begangen.
3. Dass B die Pflichtverletzung i. S. des § 280 I 2 nicht zu vertreten hat, kann nicht festgestellt werden. Vielmehr war es unter den gegebenen Umständen grob fahrlässig, K über den wirklichen Grenzverlauf im Unklaren zu lassen. Sollte B die Erfüllung der bei den Vertragsverhandlungen zu erfüllenden Pflichten dem E überlassen haben, ändert das nichts, weil E dann Erfüllungsgehilfe der B für die Erfüllung der Pflicht aus § 241 II war und B für Unterlassungen des E nach § 278 einzustehen hat.
Die Voraussetzungen dafür, dass K Schadensersatz von B verlangen kann, sind erfüllt.
III. Für die Bestimmung der Rechtsfolge des § 280 I ist zu prüfen, inwieweit der K ein Schaden entstanden ist.
1. Gemäß § 249 I BGB ist darauf abzustellen, wie sich die Vermögensverhältnisse der K entwickelt hätten, wenn B sie über den wirklichen Grenzverlauf aufgeklärt hätte. Demgegenüber kann K nicht verlangen, dass ihr der Wert der Teilfläche ersetzt wird, denn diese wäre auch im Falle einer Aufklärung voraussichtlich nicht mitverkauft worden. Dazu BGH [12]: Als zu ersetzender Schaden ist nicht die Differenz zwischen dem Wert des Grundstücks mit und ohne Vorgarten anzusetzen. Denn der zum Nachbargrundstück gehörende Vorgartenbereich ist nicht Gegenstand des Kaufvertrages. Vielmehr ist der Betrag maßgeblich, um den die Klägerin wegen der unterlassenen Aufklärung das verkaufte Grundstück zu teuer erworben hat. Sie ist also so zu behandeln, als wäre es ihr bei Kenntnis der wahren Sachlage gelungen, den Kaufvertrag zu einem günstigeren Kaufpreis abzuschließen; dabei kommt es nicht darauf an, ob sich die Bekl. mit einem niedrigeren – objektiv angemessenen – Kaufpreis einverstanden erklärt hätte (BGH NJW 2001, 2875, 2877 m. w. N.).
2. Um welchen Betrag K das Grundstück bei Kenntnis der Sachlage günstiger erworben hätte - also wie die Verhandlungen dann hypothetisch verlaufen wären -, lässt sich anhand des Sachverhalts nicht entscheiden. Auch in der Praxis könnte diese Feststellung nicht mit hinreichender Sicherheit möglich sein. (Aus dem BGH-Urteil ergeben sich keine weiteren Hinweise; der BGH hat den Fall zwecks Feststellung des Schadens an das BerGer. zurückverwiesen.)
Soweit sich der Schaden nicht objektiv sicher feststellen lässt, greift die Möglichkeit zur Schadensschätzung durch das Gericht ein (§ 287 I ZPO). Diese könnte von folgender Überlegung ausgehen: K hat geglaubt, für 300.000 Euro eine zusätzliche Grundstücksfläche als Vorgarten mit zu erhalten. Hätte sie gewusst, dass sie diesen Bereich nicht mit erwirbt, hätte sie darauf hinwirken können, dass der Kaufpreis abgesenkt wird. Dabei ist zu berücksichtigen, dass es sich bei dem Vorgarten um eine unbebaute und wohl auch nicht bebaubare Fläche handelt, die für die Nutzbarkeit des Hausgrundstücks ohne wesentliche Bedeutung ist. Danach bietet sich an, den Schaden der K auf 20.000 Euro (wohl maximal) zu schätzen.
Ergebnis: K hat gegen B einen Schadensersatzanspruch in Höhe von 20.000 Euro.
Zusammenfassung