Bearbeiter: Dr. Gernot Schmalz-Brüggemann
► Anspruch auf Schmerzensgeld, § 253 II BGB. ► Schadensersatzanspruch wegen Verletzung eines Schutzgesetzes, § 823 II BGB. ► Straftatbestand der unterlassenen Hilfeleistung als Schutzgesetz. ► Unterlassene Hilfeleistung, § 323 c StGB: drohende Straftat als Unglücksfall; Erforderlichkeit und Zumutbarkeit der Hilfeleistung; dolus eventualis
BGH Urteil vom 14. 5. 2013 (VI ZR 255/11) NJW 2014, 64 (für BGHZ vorgesehen)
Fall (Schüsse auf den Gerichtsvollzieher)
V bewohnte zusammen mit seinem Sohn S ein ihm gehörendes Einfamilienhaus. S litt an einer krankhaften Persönlichkeitsstörung, die sich u. a. darin äußerte, dass er das gesamte Haus mit Sachen vollstellte (Messie-Syndrom). Räumungsaktionen und andere Maßnahmen, zu denen auch eine zeitweilige Betreuung des S gehörte, konnten nicht verhindern, dass das Haus wieder vollständig mit überwiegend wertlosen Dingen zugestellt war. V entschloss sich schließlich dazu, gegen S einen Räumungstitel zu erwirken, den er auch erhielt. Anschließend beauftragte er den Gerichtsvollzieher G mit der Räumung. Nach einigen Tagen der Verhandlung mit S und der Vorbereitung der Räumung sollte an einem Freitag die Räumung erfolgen. Noch am Morgen hatte S geradezu flehentlich auf V eingewirkt, um seinem Vater die Räumung auszureden. Dabei hatte er mit einer geladenen und entsicherten Pistole gedroht. V wusste, dass S zum Einsatz der Waffe in der Lage war, hatte sich jedoch dazu entschlossen, „die Sache jetzt durchzuziehen“.
Als G an der Haustür klingelte, versuchte S seinen Vater mit der Pistole in der Hand daran zu hindern, die Haustür zu öffnen. V ließ sich davon aber nicht abhalten und öffnete die Tür. Der hinter V stehende S stieß seinen Vater beiseite und gab auf G mehrere Schüsse ab. Sie trafen G im Oberkörper und fügten ihm schwere Verletzungen zu. G macht V für die Verletzung mitverantwortlich und hat gegen ihn eine Klage auf Zahlung von Schmerzensgeld erhoben. V verteidigt sich damit, er habe zwar die Gefahr gesehen, dass S auf ihn, V, schießen oder die Waffe gegen sich selbst richten könnte, Schüsse auf einen Dritten habe er seinem Sohn jedoch nicht zugetraut, allenfalls in einer Paniksituation. Ist die Klage begründet?
Schmerzensgeld ist Schadensersatz für einen immateriellen Schaden. Nach § 253 II BGB kann, wenn wegen einer Verletzung des Körpers, der Gesundheit, der Freiheit oder der sexuellen Selbstbestimmung Schadensersatz zu leisten ist, auch wegen des Schadens, der nicht Vermögensschaden ist, eine billige Entschädigung in Geld gefordert werden. Voraussetzung ist also, dass G gegen V einen Schadensersatzanspruch wegen Verletzung eines der in § 253 II aufgeführten Rechtsgüter hat. In Betracht kommt ein Anspruch wegen Verletzung des Körpers.
I. Ein Schadensersatzanspruch des G gegen V könnte sich aus § 823 I BGB ergeben. V müsste die Verletzung des Körpers des G (mit)verursacht haben. Durch positives Tun hat V die Verletzung des G nicht bewirkt. Er hat es aber unterlassen, die Schüsse des S auf G zu verhindern. Dieses Unterlassen steht aber nur dann einem positiven Tun gleich, wenn V gegenüber G eine Rechtspflicht zur Verhinderung der Schüsse hatte. Eine solche Rechtspflicht bestand aber nicht. BGH [4]: Das BerGer. verneint mit dem Landgericht eine Haftung des Beklagten wegen einer Körperverletzung durch Unterlassen mangels einer Garantenstellung aus pflichtwidrigem Vorverhalten. Insbesondere könne dies nicht aus dem Vollstreckungsauftrag als solchem hergeleitet werden, weil eine Garantenstellung nicht aus einem rechtmäßigen Vorverhalten entstehen könne. Allein der Umstand, dass der Beklagte tatsächlich in der Lage war, das spätere Geschehen zu verhindern, reiche zur Begründung einer Garantenstellung nicht aus. Dieser Beurteilung wird hier gefolgt. Also besteht kein Anspruch aus § 823 I BGB. Aus dieser Überlegung folgt zugleich, dass sich ein Anspruch auch nicht aus §§ 823 II BGB, 223 oder 229 StGB i. V. mit § 13 StGB (vorsätzliche oder fahrlässige Körperverletzung durch Unterlassen) herleiten lässt.
II. Ein Anspruch auf Schadensersatz könnte sich aus §§ 823 II BGB, 323 c StGB ergeben. Nach § 323 c StGB wird wegen unterlassener Hilfeleistung bestraft, wer bei Unglücksfällen oder gemeiner Gefahr oder Not nicht Hilfe leistet, obwohl dies erforderlich und ihm den Umständen nach zuzumuten ist, insbesondere ohne erhebliche eigene Gefahr und ohne Verletzung anderer wichtiger Pflichten möglich ist. Da nicht bestimmt ist, dass auch fahrlässiges Handeln mit Strafe bedroht ist, ist Vorsatz erforderlich (§ 15 StGB).
1. § 323 c StGB müsste ein Schutzgesetz zugunsten eines Personenkreises sein, zu dem G gehört.
a) BGH [7 - 9]: Schutzgesetz im Sinne von § 823 Abs. 2 BGB ist eine Rechtsnorm, die nach Zweck und Inhalt zumindest auch dazu dienen soll, den Einzelnen oder einzelne Personenkreise gegen die Verletzung eines bestimmten Rechtsguts zu schützen. Dafür kommt es nicht auf die Wirkung, sondern auf Inhalt und Zweck des Gesetzes sowie darauf an, ob der Gesetzgeber bei Erlass des Gesetzes gerade einen Rechtsschutz, wie er wegen der behaupteten Verletzung in Anspruch genommen wird, zugunsten von Einzelpersonen oder bestimmten Personenkreisen gewollt oder doch mit gewollt hat. Es genügt, dass die Norm auch das in Frage stehende Interesse des Einzelnen schützen soll, mag sie auch in erster Linie das Interesse der Allgemeinheit im Auge haben. Andererseits soll der Anwendungsbereich von Schutzgesetzen nicht ausufern. Deshalb reicht es nicht aus, dass der Individualschutz durch Befolgung der Norm als ihr Reflex objektiv erreicht werden kann; er muss vielmehr im Aufgabenbereich der Norm liegen (vgl.… BGHZ 100, 13, 14 f.; 103, 197, 199 und VersR 2004, 255, jeweils m. w. Nachw.). Dass auch Strafgesetze Schutzgesetzes sein können, ist anerkannt (z. B. für §§ 185 ff., 240, 253, 263 StGB). Ob § 323 c StGB auch den Schutz Einzelner bezweckt oder ob deren Schutz lediglich ein Reflex aus einer im Interesse der Allgemeinheit bestehenden Strafdrohung ist, lässt sich dem Wortlaut der Norm nicht entnehmen. Deshalb wird der Schutzgesetzcharakter des § 323 c unterschiedlich beurteilt.
aa) Teilweise wird der Schutzgesetzcharakter mit der Begründung verneint, § 323 c StGB diene lediglich dem Interesse der Allgemeinheit an solidarischer Schadensabwehr in akuten Notlagen (OLG Frankfurt NJW-RR 1989, 794/5). Auch sei nicht gerechtfertigt, dass derjenige, der bloß eine Hilfe unterlässt, genau so haftet wie der Täter ( Bamberger/Roth/Spindler, BGB, 3. Aufl. § 823 Rn. 178; Dütz NJW 1970, 1822, 1824 f.; Staudinger/Schäfer, BGB, 12. Bearb., § 823 Rdnr. 591).
bb) Nach anderer Ansicht, der sich der BGH anschließt, bezweckt § 323 c StGB zumindest auch den Schutz der Individualrechtsgüter des durch einen Unglücksfall Betroffenen (so zutreffend OLG Düsseldorf, NJW 2004, 3640, 3641; OLG Hamm, VersR 2005, 1689; Fischer, StGB, 59. Aufl., § 323 c Rn. 1…). Zur Begründung setzt sich der BGH mit den Gesetzmaterialien auseinander und stellt fest, dass sich aus diesen nicht die Schlussfolgerung ziehen lässt, dass das Gesetz allein dem Interesse der Allgemeinheit an dem Schutz eines funktionierenden und auf Solidarität beruhenden Gemeinwesens dienen soll. Zwar wird in der amtlichen Begründung zum Gesetzesentwurf der Gedanke der sozialen Verantwortung gegenüber der Gemeinschaft herausgestellt, als Strafgrund wird jedoch auch die „Versäumung einer wirklichen Chance zu erfolgreicher Schadensabwendung“ angeführt (BT-Drucks. 3713 (1952), S. 44, Spalte 1). Damit ist jedenfalls auch das Ziel der Strafvorschrift erkennbar, individuelle Rechtsgüter des in Not Geratenen zu schützen und eine unterlassene Hilfeleistung in den Fällen strafrechtlich zu sanktionieren, in denen sie erforderlich und den Umständen nach zuzumuten war. Unter diesen Umständen steht die Verpflichtung zur Solidarität zwar im Allgemeininteresse, sie zielt jedoch im Einzelfall auch darauf ab, Schäden von Individualrechtsgütern, die in Gefahr geraten sind, abzuwenden.
Der verneinenden Ansicht hält der BGH entgegen, sie trage nicht ausreichend dem Umstand Rechnung, dass der zivilrechtlich wegen Verletzung eines Schutzgesetzes auf Schadensersatz in Anspruch Genommene im Rahmen des § 323 c StGB, der insbesondere durch das Tatbestandsmerkmal der Zumutbarkeit begrenzt wird, selbst Täter ist. Darüber hinaus wird der Gegenmeinung zutreffend entgegengehalten, dass die zivilrechtliche Haftung durch das Erfordernis des Eintritts des Schadens und der Zurechnung einzelner Schäden als Folge der verletzten Hilfspflicht hinreichend begrenzt ist und der wegen unterlassener Hilfeleistung auf Schadensersatz in Anspruch Genommene die Möglichkeit eines Rückgriffs im Rahmen der §§ 840, 426 BGB gegen den Haupttäter hat (so zutreffend OLG Düsseldorf NJW 2004, 3640, 3641).
§ 323 c StGB ist somit ein Schutzgesetz i. S. des § 823 II BGB.
b) Zum geschützten Personenkreis gehört, wie oben a bb) ausgeführt, der vom Unglücksfall möglicherweise Betroffene. Das ist im vorliegenden Fall G. § 323 c StGB ist somit ein Schutzgesetz zugunsten des G.
2. V müsste sich nach § 323 c StGB strafbar gemacht haben.
a) Von den Anlässen, die nach dem Tatbestand des § 323 c Grund für eine Hilfeverpflichtung sein können, kommt im vorliegenden Fall ein Unglücksfall in Betracht.
aa) Eine Straftat, bei der ein Mensch verletzt wurde, ist ein Unglücksfall. V wird aber nicht vorgeworfen, nach der Verletzung des G keine Hilfe geleistet zu haben. Deshalb reicht das Bejahen eines Körperverletzungsdelikts nicht aus.
bb) Vielmehr müsste bereits ein drohender Angriff des S auf G ein Unglücksfall gewesen sein. Da § 323 c ein Verhalten „bei“ einem Unglücksfall ausreichen lässt, kann auch eine Hilfeleistung vor einer Tat erforderlich sein und wäre, wenn dadurch die Tat verhindert würde, besonders wünschenswert. BGH [11]: Eine Straftat kann für das Opfer ein Unglücksfall im Sinne des § 323 c StGB sein, wobei es genügt, dass die Begehung einer Straftat unmittelbar bevorsteht, die das Risiko einer erheblichen Verletzung beinhaltet (…). Diese Voraussetzungen liegen im Streitfall vor… Nachdem sich der Beklagte dem Wunsch seines Sohns, die Räumung zu beenden, nicht gebeugt hatte, hatte dieser seinen Vater…mit gezogener, geladener und entsicherter Schusswaffe versucht daran zu hindern, zur Haustür zu gehen. In dieser Situation war aus objektiver Sicht damit zu rechnen, dass der Sohn des Beklagten die Schusswaffe auch einsetzen würde, um die Räumung zu verhindern. Davon, dass der Sohn die Waffe nur gegen sich selbst oder seinen Vater richten würde, konnte auch aus damaliger objektiver Sicht nicht ausgegangen werden. Bereits aus damaliger Sicht bestand somit die Gefahr, dass S die Pistole auf G richten könnte, was sich als Unglücksfall erweist.
b) Eine Hilfeleistung müsste erforderlich gewesen sein. BGH [12, 13]: Erforderlich ist die Hilfeleistung nach dem objektiven ex ante-Urteil eines verständigen Beobachters aufgrund der ihm erkennbaren Umstände dann, wenn ohne sie die Gefahr besteht, dass die von § 323 c StGB erfasste Notlage sich zu einer nicht mehr unerheblichen Schädigung von Personen auswirkt (vgl. Sternberg-Lieben/Hecker in Schönke/Schröder, StGB, 28. Aufl., § 323 c Rn. 12 m. w. Nachw.).
aa) Der Sachverhalt in diesem Fall rechtfertigt die Feststellung, ein verständiger Beobachter hätte aufgrund der Gesamtumstände die Gefahr einer unmittelbar bevorstehenden Straftat erkannt. Ziel des Sohns des Beklagten war es gewesen, die Räumung zu verhindern. Spätestens als der Sohn, der im Umgang mit Waffen erfahren war, seinen Vater mit der geladenen und entsicherten Schusswaffe bedrohte, um ihn zur Beendigung der Räumung zu veranlassen, musste ein verständiger Beobachter davon ausgehen, dass der Sohn die Schusswaffe notfalls auch einsetzen würde. Davon, dass der Sohn die Waffe nur gegen sich selbst oder den Beklagten richten würde, konnte…unter den Umständen des Streitfalles nicht ausgegangen werden. Denn hierzu hätte der Sohn…bereits dann Anlass gehabt, als sich der Beklagte auch angesichts der scharfen Waffe nicht von der Räumung hatte abbringen lassen, sondern sich zur Tür begab, um diese dem Kläger zu öffnen. Spätestens dann war hinreichend deutlich, dass die Drohung gegenüber dem Beklagten erfolglos war. Ein verständiger Beobachter musste in dieser Situation die Möglichkeit voraussehen, dass der Sohn - und sei es nur im Rahmen einer Kurzschluss- oder Panikreaktion - die geladene Waffe nicht nur, wie es ihm bereits vorher möglich gewesen wäre, gegen sich selbst oder seinen Vater einsetzen würde, sondern auch gegen denjenigen, der die Räumung im Auftrag seines Vaters durchführen sollte.
bb) Drohte somit ein Gebrauch der Pistole gegen G, bestand für diesen die Gefahr einer schweren Körperverletzung sowie Lebensgefahr. V war der Einzige, der diese Gefahr noch abwenden konnte. Die Hilfeleistung des V war somit erforderlich. Welche Handlung von ihm konkret zu erwarten war, wird im Zusammenhang mit der folgenden Voraussetzung behandelt.
c) Eine Hilfeleistung müsste V möglich und zumutbar gewesen sein.
aa) Als Handlungsoptionen für V kamen in Betracht, G zu warnen oder die Räumung vorläufig abzubrechen, sich also dem Wunsch des S zu beugen. Eine Warnung des G hätte wahrscheinlich ebenfalls dazu geführt, dass die Räumung nicht stattgefunden hätte, so dass diese Möglichkeit keine eigenständige Bedeutung hat. BGH [14, 15]: Das BerGer. hat ohne Rechtsfehler die objektive Möglichkeit für den Beklagten bejaht, durch seinen Einsatz die Tat zu verhindern. Es hat die Möglichkeit, die Tat zu verhindern, darin gesehen, dass der Beklagte die Räumung zumindest am Tattag hätte beenden können. Soweit die Revision meint, dem Sohn des Beklagten sei es nicht einzig und allein darum gegangen, dass am Tattag nicht weiter geräumt wurde, sondern dass generell die Räumung eingestellt würde, und deshalb eine entsprechende Lüge des Beklagten erforderlich gewesen wäre, ändert dies nichts an der objektiven Möglichkeit, das Unglück zu verhindern, sondern ist eine Frage der Zumutbarkeit. Folglich war es V möglich, durch Abbrechen der Räumung die Schüsse auf G zu verhindern.
bb) Ein solcher Abbruch müsste ihm auch zumutbar gewesen sein. Gegen die Zumutbarkeit spricht, dass V aufgrund des Räumungstitels ein Recht darauf hatte, dass die Räumung durchgeführt wurde und er das in seinem Eigentum stehende Einfamilienhaus wieder nach seinen und der Rechtsordnung entsprechenden Vorstellungen werde nutzen können. Demgegenüber spricht für die Zumutbarkeit, dass V mit der ihm möglichen Handlung die Gefahr für Leib und Leben des G abwenden konnte. Bereits Leib und Leben des G als ein besonders gewichtiges Rechtsgut sprechen für dessen Vorrang. Hinzu kommt, dass das Abbrechen der Räumung nur eine vorübergehende Beeinträchtigung gewesen wäre, die Verletzung des G demgegenüber zu einem endgültigen Schaden führen würde.
Die dahingehenden Überlegungen des BerGer. im vorliegenden Fall werden von BGH [16] durch folgende Ausführungen gebilligt: Das BerGer. ist zutreffend davon ausgegangen, dass die Frage, welche Hilfeleistungen dem Hilfspflichtigen zumutbar sind, anhand einer Wertentscheidung durch Abwägung der widerstreitenden Interessen zu beantworten ist, bei der die Bedeutung des bedrohten Rechtsguts, Art und Ausmaß der drohenden Schäden, konkrete Rettungschancen einerseits, Art und Umfang der Interessen sowie mit der Rettungshandlung verknüpfte Risiken andererseits gegeneinander abzuwägen sind (vgl. Sternberg-Lieben/Hecker in Schönke/Schröder, a. a. O. Rn. 19 m. w. Nachw.). Das BerGer. hat als mögliche Handlungsoption dem Beklagten angesonnen, sich dem Wunsch seines Sohns (zunächst) zu beugen und die Räumung abzubrechen…. Bei dieser Handlungsoption hat das BerGer. zutreffend das Interesse des Beklagten an einer ungehinderten Fortführung der Räumung gegenüber der von einer entsicherten Waffe in der Hand eines völlig Verzweifelten ausgehenden erheblichen Gefahr für Leib und Leben aller sich im Umfeld der Waffe befindlichen Personen für nachrangig angesehen. Vor dieser Gefahr hatte ein - wenn auch berechtigter - Anspruch auf Räumung vor allem vor dem Hintergrund zurückzustehen, dass die Räumung zu einem späteren Zeitpunkt ohne den Sohn des Beklagten ungehindert hätte fortgeführt werden können. Die im Abbruch der Räumung liegende Hilfeleistung war dem Beklagten ohne erhebliche Eigengefahr zumutbar.
d) V müsste vorsätzlich gehandelt haben. Ein direkter Vorsatz scheidet aus. V könnte mit bedingtem Vorsatz (dolus eventualis) gehandelt haben. BGH [17, 18]:
aa) In Übereinstimmung mit der strafrechtlichen Literatur und Rechtsprechung (vgl. Sternberg-Lieben/Hecker in Schönke/Schröder, § 15 Rn. 87 m. w. Nachw.) ist davon auszugehen, dass…bedingter Vorsatz dann vorliegt, wenn der Täter den Eintritt des tatbestandlichen Erfolgs als möglich und nicht ganz fernliegend erkennt und - im Rechtssinne - billigt oder sich um des erstrebten Ziels willen wenigstens mit ihm abfindet, mag ihm auch der Erfolgseintritt an sich unerwünscht sein (…). Die Annahme einer „Billigung des Erfolgs“ liegt beweisrechtlich dann nahe, wenn der Täter sein Vorhaben trotz äußerster Gefährlichkeit durchführt, ohne auf einen glücklichen Ausgang vertrauen zu können, oder wenn er es dem Zufall überlässt, ob sich die von ihm erkannte Gefahr verwirklicht oder nicht.
bb) Im Rahmen des § 323 c StGB unterlässt derjenige die Hilfeleistung vorsätzlich, der die konkrete Handlung kennt, durch die er die erforderliche Hilfe leisten könnte. Das Bewusstsein, zur Hilfeleistung verpflichtet zu sein, gehört hingegen nicht zum Vorsatz. Mangelndes Gebotsbewusstsein ist vielmehr ein dem Verbotsirrtum des § 17 StGB gleichzustellender Gebotsirrtum (vgl. Sternberg-Lieben in Schönke/Schröder, § 15 Rn. 94). Hält der Hilfspflichtige die Tatbestandsverwirklichung für möglich und nimmt er sie aus Gleichgültigkeit in Kauf, so ist bedingter Vorsatz gegeben (vgl. Sternberg-Lieben in Schönke/Schröder Rn. 98).
(a) V wusste, dass ein Schusswaffengebrauch durch S drohte. Er wusste auch, dass er durch das (vorübergehende) Aussetzen der Räumung diesen Schusswaffengebrauch verhindern konnte. Gleichwohl hat er G die Tür geöffnet, um die Räumung durchführen zu lassen. Dabei hat er auch den Schusswaffengebrauch in Kauf genommen, zwar nicht aus Gleichgültigkeit, wohl aber zur Durchsetzung der Räumung.
(b) Darüber hinaus müsste V auch gerade den Angriff des S auf G in Kauf genommen haben. Das wäre dann nicht der Fall gewesen, wenn V diesen Fall überhaupt nicht in Betracht gezogen hätte. In diese Richtung geht zwar sein Einwand, Schüsse auf einen Dritten habe er seinem Sohn nicht zugetraut. Das steht aber nicht einer Würdigung entgegen, dass V auch diesen Verlauf nicht vollständig ausgeschlossen hat, zumal er zugesteht, dass er diesen Verlauf in einer Paniksituation für möglich gehalten hat; die Paniksituation war offenbar gegeben. Im Fall des BGH hatte das BerGer. Eventualvorsatz bejaht; zustimmend BGH [18}: … ist die Beurteilung des BerGer., dem Beklagten sei eine Gefährdung des Klägers erkennbar gewesen, aus Rechtsgründen ebenso wenig zu beanstanden wie die daraus gewonnene Überzeugung, dass das Vorbringen des Beklagten, eine mögliche Gefährdung des Klägers gar nicht in Betracht gezogen zu haben, in Anbetracht der Umstände als bloße Schutzbehauptung zu werten sei. Es sei davon auszugehen, dass der Beklagte sich entschlossen gehabt habe, nun endlich die Räumung „durchzuziehen“, und die möglicherweise mit diesem Entschluss verbundenen Folgen in Kauf zu nehmen, zu denen neben einem möglichen Suizid seines Sohns auch das Risiko gehört habe, dass dieser auf ihn oder die die Räumung durchführende Person schießen würde. Diese Gleichgültigkeit gegenüber den möglichen Folgen, mögen ihm diese auch höchst unerwünscht gewesen sein, hat das BerGer. für die Annahme eines bedingten Vorsatzes als ausreichend erachtet.
Somit hat V vorsätzlich gehandelt.
e) Da gegen die Rechtswidrigkeit seines Handelns und gegen einen Schuldvorwurf keine Bedenken bestehen, hat er sich nach § 323 c StGB strafbar gemacht. Daraus folgt, dass V ein Schutzgesetz zum Schutze des G verletzt hat und nach § 823 II BGB zum Schadensersatz verpflichtet ist.
III. Für die Rechtsfolge Schmerzensgeld verlangen §§ 253 II, 823 II BGB schließlich noch, dass die Verletzung des Schutzgesetzes zu einer Körperverletzung geführt hat. Hätte V die gebotene Hilfe geleistet und die Räumung verschoben, wäre es nicht zu den Schüssen auf G und nicht zu dessen Verletzung gekommen. Folglich war das Unterlassen der Hilfeleistung des V für die Körperverletzung des G ursächlich. V hat für die von G erlittenen Verletzungen ein Schmerzensgeld zu zahlen. Im BGH-Fall wurden G 10.000 Euro zugesprochen.
Zusammenfassung