Bearbeiter: Dr. Gernot Schmalz-Brüggemann
► Mietrecht; Mangel der Mietwohnung, § 536 BGB. ► Beschaffenheitsvereinbarung. ► Mietmangel durch vom Nachbargrundstück ausgehende Immissionen. ► Ausstrahlungswirkung des § 906 BGB auf Mietmangel. ► Duldungspflicht des Eigentümers bei Immissionen, § 906 BGB
BGH Urteil vom 29.4.2020 (VIII ZR 31/18) NJW 2020, 2884
Fall (Miete und Baulärm)
M ist Mieter einer Zweizimmerwohnung in einem Wohnviertel nahe der Innenstadt von Berlin. Vermieterin ist V. Vor dem Abschluss des schriftlichen Mietvertrags hat M gegenüber V geäußert, dass er Wert auf eine ruhige Wohnlage lege. Daraufhin wurde in den Mietvertrag als § 5 Nr.1 folgende Klausel aufgenommen: „Der Mieter hat sich über die Geräuschverhältnisse der Umgebung Gewissheit verschafft und erkennt an, dass die Wohnung für seine Zwecke geeignet ist.“ Einige Zeit später begann die B-Bauträger-GmbH, auf einem 40 Meter von der Wohnung des M entfernten Grundstück ein größeres Wohnhaus zu errichten. Dadurch wurde die Wohnung des M während einer Bauzeit von mehr als einem Jahr durch Lärm, Staub und Verschmutzungen beeinträchtigt. Alsbald nach Beginn der Bauarbeiten verlangte M von V eine Herabsetzung der Miete in Höhe von 10 %. Nachdem V das abgelehnt hatte, minderte M die monatliche Miete um 10 %. Er beruft sich darauf, dass sich aus seiner Erklärung vor Abschluss des Mietvertrages und aus der entsprechenden Klausel im Mietvertrag eine schlüssige Vereinbarung ergebe, wonach die Wohnung frei von Störungen durch Lärm sei. Im Übrigen werde das Nichtvorhandensein derartiger Störungen als selbstverständliche Erwartung ohne Weiteres Inhalt des Mietvertrages und verpflichte V, von B die Unterlassung der Störungen zu verlangen, gegebenenfalls durch eine Unterlassungsklage oder eine einstweilige Verfügung.
V hat gegen M Klage auf Nachzahlung der einbehaltenen Mietbeträge erhoben. Sie bestreitet die Berechtigung des M, einseitig die Miete zu kürzen. Auch habe M bei der Anmietung der Wohnung die Baulücke gekannt und angesichts des in Berlin bestehenden Wohnungsmangels mit der Errichtung eines Gebäudes rechnen müssen. Sie selbst habe keine Möglichkeit, von der Baustelle ausgehende Störungen abzuwehren; wenn überhaupt, habe nur M Unterlassungsansprüche gegen B. Schließlich seien die Störungen trotz der Dauer von mehr als einem Jahr nur vorübergehend.
Noch während der Bauzeit haben M und andere Mieter ein Gutachten des öffentlich bestellten Sachverständigen S eingeholt. In diesem wird dargelegt, dass B die gesetzlichen Anforderungen an ein lärm- und staubarmes Bauen durch Einsatz der vorgeschriebenen Technik einhalte und dadurch - teilweise allerdings nur knapp - unter den Grenzwerten bleibe, dass aber die Benutzbarkeit der Mietwohnungen, auch der des M, nicht unerheblich eingeschränkt sei; eine Minderung des Wohnwerts um 10 % sei durchaus realistisch. Ist die Zahlungsklage der V gegen M begründet?
Lösung
A. Anspruchsgrundlage ist der zwischen V und M geschlossene schriftliche Mietvertrag (§ 535 II BGB). Die darin vereinbarte Miete umfasst auch die von M bisher nicht gezahlten 10 %. Somit ist der Anspruch der V auf den von M nicht gezahlten und von V eingeklagten Betrag entstanden.
B. Der Anspruch der V auf Zahlung der vollen Miete könnte nach § 536 I 1, 2 BGB um 10 % gemindert worden sein; dann wäre der Anspruch der V auf Zahlung der von M einbehaltenen Miete erloschen. Voraussetzung ist, dass die vermietete Wohnung einen Mangel hat, der ihre Tauglichkeit zum vertragsgemäßen Gebrauch mindert, wobei ein unerheblicher Mangel nicht ausreicht (§ 536 I 3 BGB).
Liegt ein Mangel vor, tritt der Wegfall des Anspruchs auf die Miete nach § 536 I 1 oder dessen Minderung nach § 536 I 2 kraft Gesetzes ein (BGH [24]). Während im Kaufrecht der Käufer im Falle eines Mangels sich erklären muss, welche der ihm nach § 437 BGB zustehenden Rechte er geltend macht, bedarf es im Mietrecht keiner rechtsgestaltenden Erklärung des Mieters. Im Falle eines Mangels darf der Mieter also - entgegen der Auffassung der V - die Miete einseitig kürzen.
I. BGH [24] Ein Mangel ist anzunehmen, wenn der tatsächliche Zustand der Mietsache vom vertraglich vorausgesetzten Zustand für den Mieter nachteilig abweicht (vgl. BGHZ 205, 177 Rn. 18; NJW-RR 2016, 1032 Rn. 14; NJW 2013, 2417 Rn. 15, jeweils m. w. N.). Da auf die Tauglichkeit zum vertragsgemäßen Gebrauch abzustellen ist, ist zunächst zu prüfen, ob es vertragliche Abreden über den von den Parteien vorausgesetzten Zustand der Mietsache gibt. BGH [25] Der vertraglich geschuldete Zustand bestimmt sich in erster Linie nach der Beschaffenheitsvereinbarung der Mietvertragsparteien… Gegenstand einer Beschaffenheitsvereinbarung können dabei auch Umstände sein, die von außen auf die Mietsache unmittelbar einwirken (sog. Umweltfehler), wie etwa Immissionen, denen die Mietsache ausgesetzt ist. Im vorliegenden Fall könnte sich die Beschaffenheitsvereinbarung auf das Nichtvorhandensein von Lärm- und Staubeinwirkungen beziehen, die von einer benachbarten Baustelle ausgehen, insbesondere auf die Freiheit von Baulärm.
1. Eine ausdrückliche dahingehende Vereinbarung haben M und V nicht getroffen. Sie ist nicht in § 5 Nr. 1 des Mietvertrages enthalten, da dieser sich auf derartige Störungen nicht bezieht. Die Vorschrift betrifft nur die bei Abschluss des Mietvertrages feststellbaren Verhältnisse, über die M sich Kenntnis verschafft hat. Eine erst später eingerichtete Baustelle gehört dazu nicht. Andererseits hat M dadurch auch nicht auf das Geltendmachen von Mängeln verzichtet, zumal ein solcher Verzicht nicht zulässig gewesen wäre (§ 536 IV BGB).
2. Eine Beschaffenheitsvereinbarung kann auch schlüssig (konkludent) getroffen werden (BGH [25]).
a) Die Erklärung des M vor Abschluss des Mietvertrages, dass er Wert auf eine ruhige Wohnlage legt, ist als Vertragserklärung zu unbestimmt und besagt auch nur etwas, was jedenfalls im Normalfall selbstverständlich ist. Die Klausel in § 5 Nr. 1 des Mietvertrages bezieht sich nur auf die bei Vertragsschluss bestehenden Verhältnisse und ermöglicht keine Festlegung im Hinblick auf zukünftige Zustände und Veränderungen. Sie reicht deshalb auch für eine schlüssige Vereinbarung nicht aus. BGH [26] Aus dieser Bestimmung kann - auch im Wege der Auslegung - nicht der sichere Schluss gezogen werden, dass V damit…die vertragliche Haftung für einen unveränderten Fortbestand der Geräuschverhältnisse der Umgebung, auf die sie regelmäßig keinen Einfluss hat, hätte übernehmen wollen.
b) Eine schlüssige Beschaffenheitsvereinbarung könnte deshalb angenommen werden, weil die Verschonung einer Wohnung vor nicht unerheblichen Immissionen durch eine Baustelle als selbstverständlich erwartet wird und deshalb nicht ausdrücklich vereinbart zu werden braucht.
aa) BGH [56] Es wird die Auffassung vertreten, die Freiheit der Wohnung von Baulärm (mangels Existenz einer benachbarten Baustelle bei Abschluss des Mietvertrags und mangels sonstiger beidseitiger Kenntnis eines entsprechenden Vorhabens oder ausdrücklicher abweichender Absprachen) werde regelmäßig stillschweigend Gegenstand der Beschaffenheitsvereinbarung der Mietvertragsparteien, da „im großstädtischen Kontext Baumaßnahmen zwar nicht unüblich sind, aber selbst dort - und auch in Berlin - die ganz überwiegende Mehrzahl der Mietwohnungen von entsprechenden Maßnahmen und den damit verbundenen erheblichen zusätzlichen Immissionen nicht betroffen ist" (LG Berlin NJW-RR 2016, 1162 f.). Zur Anwendung dieser Überlegung im vorliegenden Fall könnte die Erklärung des M, dass er Wert auf eine ruhige Wohnlage lege, und dass die Wohnlage dieser Erwartung bis zur Einrichtung der Baustelle auch entsprach, unterstützend herangezogen werden. Die damals ruhige Wohnlage wird auch die Höhe des Mietzinses beeinflusst haben. Der Einwand der V, M habe die Baulücke gekannt und mit einer Baustelle rechnen müssen, dürfte zur Widerlegung dieser Argumentation nicht ausreichen.
bb) BGH [57] Jedoch ist diese Beurteilung mit der ständigen Rechtsprechung des BGH zu den Anforderungen an eine mietvertragliche Beschaffenheitsvereinbarung nicht zu vereinbaren. Nach der Rspr. des BGH setzt auch eine konkludente Beschaffenheitsvereinbarung zwei übereinstimmende Willenserklärungen voraus. Zur konkludent geschlossenen Beschaffenheitsvereinbarung werden die von dem Mieter wahrgenommenen „Umweltbedingungen" der Wohnung nur, wenn der Vermieter aus dem Verhalten des Mieters nach dem objektiv zu bestimmenden Empfängerhorizont (§§ 133, 157 BGB) erkennen musste, dass der Mieter die Fortdauer dieses bei Vertragsschluss bestehenden Umstands über die unbestimmte Dauer des Mietverhältnisses hinweg als maßgebliches Kriterium für den vertragsgemäßen Gebrauch der Wohnung ansieht, und der Vermieter dem zustimmt. Eine einseitig gebliebene Vorstellung des Mieters genügt für die Annahme einer diesbezüglichen Willensübereinstimmung selbst dann nicht, wenn sie dem Vermieter bekannt ist. Erforderlich ist jedenfalls, dass der Vermieter darauf in irgendeiner Form zustimmend reagiert (BGHZ 205, 177 Rn. 20 m. w. N.). Dabei ist, soweit es um Lärmimmissionen geht, die von öffentlichen Straßen oder - wie hier - von einem Nachbargrundstück auf die Mietsache einwirken, im Übrigen der offensichtliche und beiden Parteien bekannte Umstand zu berücksichtigen, wonach der Vermieter regelmäßig keinen Einfluss darauf hat, dass die zu Mietbeginn bestehenden Verhältnisse während der gesamten Dauer des Mietvertrags unverändert fortbestehen. Der Mieter kann daher im Allgemeinen nicht erwarten, dass der Vermieter die vertragliche Haftung für den Fortbestand derartiger „Umweltbedingungen" übernehmen will. Gründe dafür, dass V ausnahmsweise gleichwohl einer solche Beschaffenheitsvereinbarung hat zustimmen wollen, sind nicht ersichtlich.
Somit lässt sich ein Mietmangel weder über eine ausdrückliche noch über eine schlüssige Beschaffenheitsvereinbarung begründen.
II. Soweit konkrete Parteiabreden zur vertragsgemäßen Beschaffenheit der Mietsache fehlen, verweist der BGH auf die Grundsätze über die ergänzende Vertragsauslegung. [27, 28] Wie der BGH für den Fall von Lärmimmissionen, die von öffentlichen Straßen oder - wie hier - von einem Nachbargrundstück auf die Mietsache einwirken (BGHZ 205, 177 Rn. 21, Bolzplatz), bereits entschieden hat, beantwortet sich die Frage, was im Einzelnen zu dem zum vertragsgemäßen Gebrauch geeigneten Zustand der in Rede stehenden Wohnung gehört, den der Vermieter gemäß § 535 Abs. 1 Satz 2 BGB während der Mietzeit zu erhalten hat, nach den gesamten Umständen des Mietverhältnisses und den daraus in - gegebenenfalls ergänzender - Auslegung abzuleitenden Standards, insbesondere nach der Mietsache und deren beabsichtigter Nutzung sowie der Verkehrsanschauung… (BGHZ 205, 177 Rn. 23 m. w. N.). Dabei kann dem Vermieter nicht einseitig das Risiko einer lärmintensiven Nutzungsänderung auf einem Nachbargrundstück zugewiesen werden. Es kommt vielmehr darauf an, welche Regelung die Mietvertragsparteien…getroffen hätten, wenn ihnen bei Vertragsschluss die von ihnen nicht bedachte Entwicklung in Gestalt der erhöhten Lärmbelastung bewusst gewesen wäre. [35] Eine solche ergänzende Vertragsauslegung hat sich aber nicht nur an dem hypothetischen Parteiwillen, sondern auch an dem objektiven Maßstab von Treu und Glauben (§ 242 BGB) zu orientieren und muss zu einer die beiderseitigen Interessen angemessen berücksichtigenden Regelung führen; es geht darum zu ermitteln, was die Parteien bei einer angemessenen, objektiv-generalisierenden Abwägung ihrer Interessen nach Treu und Glauben redlicherweise vereinbart hätten, wenn sie die - hier in Bezug auf einen möglichen nachträglichen Eintritt erhöhter Geräuschimmissionen von einem benachbarten Grundstück - bestehende vertragliche Regelungslücke bedacht hätten (vgl. BGHZ 207, 209 Rn. 70 m. w. N.; 205, 177 Rn. 22 f., 39 ff.).
1. Als mögliche Regelung der Parteien im Hinblick auf den nachträglichen Eintritt erhöhter Geräuschimmissionen kommt in Betracht, dass einerseits dieser Fall als Mangel anerkannt wird oder dass andererseits in diesem Fall ein Mangel verneint wird. Grundsätzlich ist anerkannt, dass von Dritten oder einer Anlage ausgehende Immissionen ein Mangel einer Wohnung sein können (vgl. zu bisher behandelten Fällen BGHZ 205, 177 [30 ff.]; Emmerich JuS 2015, 1041). Für die Behandlung eines solchen Falles ist aber wesentlich, dass der Vermieter die Immissionen nicht durch eigenes positives Handeln verursacht und daher auch nicht durch bloßes Unterlassen abstellen kann (vgl. bereits oben B I 2 a und b bb).
a) Abstellen könnte der Vermieter die Immissionen durch Geltendmachung eines Unterlassungsanspruchs aus § 1004 I 2 BGB gegen den Störer, im vorliegenden Fall gegen B. Bereits in BGHZ 205, 209 Rnr. 41 hat der BGH ausgeführt, dass den Vermieter im Rahmen seiner Verpflichtung zur Erhaltung eines vertragsgemäßen Zustands der Mietsache grundsätzlich auch die Pflicht treffe, von Dritten ausgehende Störungen vom Mieter fernzuhalten und zu diesem Zweck gegen den Störer im Rahmen des rechtlich und tatsächlich Möglichen vorzugehen. Bei einem Vorgehen gegen B aus § 1004 I 2 BGB könnte V sich auf die Beeinträchtigung ihres Eigentums berufen und Unterlassung verlangen, sofern sie die Beeinträchtigung nicht zu dulden braucht (§ 1004 II BGB). Für eine Duldungspflicht nach § 906 BGB ist maßgebend, ob die Beeinträchtigung wesentlich oder unwesentlich ist (§ 906 I), ferner ob sie ortsüblich ist und nicht verhindert werden kann (§ 906 II 1); § 906 II 2 gewährt unter den dortigen Voraussetzungen einen Entschädigungsanspruch.
b) Danach könnte eine ergänzende Vertragsauslegung zu der Regelung führen, dass ein Mietmangel bejaht wird, wenn der Vermieter die Störungen nach § 906 BGB nicht zu dulden hat, sondern abwehren kann (BGH [36 a. E.]), während in dem Fall, dass er die Störungen nach § 906 BGB entschädigungslos dulden muss und nicht abwehren kann, ein Mangel zu verneinen ist. Zum letzteren Fall BGH [28] Hiernach begründen nachträglich erhöhte Geräuschimmissionen durch Dritte jedenfalls dann grundsätzlich keinen gemäß § 536 Abs. 1 Satz 1 BGB zur Mietminderung führenden Mangel einer Mietwohnung, wenn der Vermieter sie ohne eigene Abwehr- oder Entschädigungsmöglichkeiten als unwesentlich oder ortsüblich hinnehmen muss (§ 906 BGB); insoweit nimmt der Wohnungsmieter an der jeweiligen Situationsgebundenheit des Mietgrundstücks teil (vgl. BGHZ 205, 177 Rn. 35 ff., 43; ebenso MünchKommBGB/Brückner, 8. Aufl., § 906 Rn. 63).
c) Allerdings besteht gegen die Begründung eines Mietmangels mit Hilfe des § 906 BGB das Bedenken, dass § 906 BGB das Verhältnis zwischen einem Eigentümer und einem Störer betrifft. Er wird auch auf Abwehransprüche des Mieters als Besitzer gegen den Störer (§ 862 I BGB) angewendet (BGH [45]; BGHZ 147, 45, 50; MünchKommBGB/Brückner, 8. Aufl., § 906 Rn. 62). § 906 BGB regelt aber nicht das Verhältnis zwischen Vermieter und Mieter, enthält insbesondere keine auf einen Mietmangel bezogene Rechtsfolge, kann also auch nicht analog angewendet werden. Es wird deshalb die Auffassung vertreten, die Regelungen des § 536 BGB und des § 906 BGB seien zu trennen (vgl. BGHZ 205, 177 Rnr. 43). Demgegenüber bejaht der BGH eine Ausstrahlungswirkung des § 906 BGB auf § 536 BGB (grundlegend im Bolzplatzfall BGHZ 205, 177 Rnr. 43, im vorliegenden Fall unter [50, 70, 81, 92]). BGH [50] Die Kritik an der Rspr. des BGH übersieht, dass bei der gebotenen ergänzenden Vertragsauslegung… der BGH die Vorschrift des § 906 BGB im Verhältnis der Mietvertragsparteien untereinander nicht unmittelbar oder analog anwendet, sondern lediglich hinsichtlich ihrer nachbarrechtlichen Ausstrahlungswirkungen zur Konturierung der mietvertraglichen Rechte und Pflichten der Mietvertragsparteien heranzieht (vgl. BGHZ 205, 177 Rn. 43 m. w. N.), damit der bei der Nutzung eines Grundstücks im Verhältnis zu den benachbarten Grundstücken auftretende Konflikt in einen vernünftigen Ausgleich gebracht werden kann. Auch in anderen Fällen hat der BGH eine Ausstrahlungswirkung angenommen. So hat auch der den Kinderlärm privilegierende § 22 a BImSchG Ausstrahlungswirkung auf das Mietrecht (§ 536 BGB; BGHZ 205, 177 Rnr. 43, Bolzplatz) und auf das Wohnungseigentumsrecht (BGH NJW 2020, 1354, Eltern-Kind-Zentrum). Ihre Hauptbedeutung hat die Rechtsfigur der Ausstrahlungswirkung im Verhältnis der Grundrechte zum Privatrecht (BVerfGE 7, 198; JZ 2019, 1103; Ruffert JuS 2020, 1). Danach sind unbestimmte Rechtsbegriffe und Generalklauseln des Privatrechts nach Maßgabe der Grundrechte auszulegen. Es ist deshalb gerechtfertigt, auch bei der ergänzenden Vertragsauslegung eines Mietvertrags einschlägige gesetzliche Regelungen mit heranzuziehen, bei Störungen im Nachbarschaftsverhältnis also § 906 BGB.
2. Danach bedeutet die Ausstrahlungswirkung des § 906 BGB auf den ergänzend ausgelegten Mietvertrag V-M:
a) § 906 I 1 BGB verpflichtet den Eigentümer zur Duldung von Immissionen, die keine wesentliche Beeinträchtigung enthalten. Nach § 906 I 2, 3 BGB liegt eine unwesentliche Beeinträchtigung in der Regel vor, wenn die in Gesetzen oder Rechtsverordnungen festgelegten Grenz- oder Richtwerte von den Einwirkungen nicht überschritten werden; Gleiches gilt für Werte in allgemeinen Verwaltungsvorschriften, die nach § 48 des BImSchG erlassen worden sind und den Stand der Technik wiedergeben (z. B. TA Lärm, TA Luft). Das Gutachten des öffentlich bestellten Sachverständigen S führt aus, dass B die Anforderungen an ein lärm- und staubarmes Bauen einhält und die Baustelle unter den Grenzwerten bleibt; folglich sind die Voraussetzungen der § 906 I 2, 3 BGB erfüllt. Dass eine Abweichung von der Regel-Rechtsfolge dieser Vorschriften geboten wäre, ist nicht ersichtlich. Allein die Dauer der Störungen reicht hierfür nicht aus, weil etwas mehr als ein Jahr für einen größeren Neubau nicht ungewöhnlich lange ist. Auch die Feststellung des S, dass die Benutzbarkeit der Mietwohnung des M nicht unerheblich eingeschränkt ist, rechtfertigt keine Abweichung von der Anwendung des § 906 I 2, 3 BGB. Die von § 906 I 2, 3 BGB in Bezug genommenen Vorschriften enthalten bereits einen Interessenausgleich zwischen einem Bauherrn und den Nachbarn, berücksichtigen insbesondere auch die nur vorübergehende Natur von Störungen durch Baustellen, so dass die gleichwohl eintretenden Beeinträchtigungen bei der Benutzung von Eigentum und Wohnungen hinzunehmen sind. Folglich hat V die Beeinträchtigungen zu dulden; ihr Hinweis, sie habe keine Möglichkeit, die mit der Baustelle verbundenen Störungen abzuwehren, ist zutreffend. Wird dieses Ergebnis nach den Überlegungen oben B II 1 a, b) auf das Mietverhältnis zwischen V und M übertragen, bedeutet das, dass ein Mangel der Wohnung i. S. des § 536 BGB nicht vorliegt. Auf den Einwand der V, M habe die Baulücke gekannt und mit der Baustelle rechnen müssen, kommt es nicht mehr an.
b) Eine weitere Duldungspflicht der V im Verhältnis zu B aus § 906 II BGB lässt sich nicht begründen. Wegen der Überlegungen vorstehend b) fehlt es bereits an einer wesentlichen Beeinträchtigung. Auch muss zwar in jedem Baugebiet mit Baustellen und dadurch verursachten Störungen gerechnet werden, gleichwohl sind die vom Vorhaben der B ausgehenden Immissionen keine ortsüblichen, d. h. durch Besonderheiten der Örtlichkeit bedingte Einwirkungen.
Ergebnis: Die Mietwohnung des M ist nicht mangelhaft. Der Anspruch der V auf Mietzahlung ist nicht gemindert. Die auf Zahlung der einbehaltenen 10 % Miete gerichtete Klage der V ist begründet.
Ergänzender Hinweis: Im Originalfall war kein Gutachten eingeholt worden, M hatte lediglich ein „Lärmprotokoll“ vorgelegt. Das BerGer. hatte auch keine Feststellungen zu den Störungen getroffen, so dass der BGH den Fall an das BerGer. zurückverwiesen hat, damit M als grundsätzlich für die behauptete Mangelhaftigkeit der Mietsache beweisbelastete Partei Beweis antreten kann für die behaupteten Einwirkungen auf die angemietete Wohnung durch Geräusch- und Schmutzimmissionen als wesentliche Beeinträchtigung. Für die neue Verhandlung hat der BGH ausführliche Hinweise zur Darlegungs- und Beweislast gegeben und eine Verteilung nach Verantwortungsbereichen vorgenommen ([72-94] und LS 3 und 5).
Zusammenfassung