Bearbeiter: Dr. Gernot Schmalz-Brüggemann

Schadensersatz wegen eines Behandlungsfehlers, § 280 I BGB. Haftung für Erfüllungs- und Verrichtungsgehilfen, §§ 278, 831 BGB.Haftungsausfüllende Kausalität, § 249 BGB. Vorteilsausgleichung und Reserveursache

OLG Schleswig Urteil vom 18. 6. 2004 (4 U 117/03) NJW 2005, 439

Fall (Tödliche Spritze)

Klägerin K ist eine gesetzliche Krankenversicherung, Beklagte B die Trägerin eines städtischen Krankenhauses. Der bei K versicherte Patient P war im Alter von 58 Jahren an Leukämie erkrankt und hatte sich zur Behandlung in das Krankenhaus der B begeben. Die bei P diagnostizierte Form der Krankheit, eine „NK-Leukämie“ (NK = „Natürliche Killerzellen“), sollte durch eine Chemotherapie auf Basis ALL (= Akute Lymphatische Leukämie) behandelt werden, für die eine 45-tägige stationäre Aufnahme erforderlich war. Im Rahmen der Therapie sollten das Medikament Methotrexat in das Rückenmark (= intrathekal) und das Medikament Vincristin intravenös gespritzt werden. Einige Tage nach Aufnahme des P wurde dessen Behandlung der Ärztin Dr. A übertragen, die noch Angestellte der Universität war und im Krankenhaus der B seit sechs Wochen ein Praktikum absolvierte. Von der ALL-Therapie hatte sie „nur rudimentäre Vorstellungen“. Auf Grund einer Verwechselung spritzte A dem P das Vincristin, ein Zytostatikum, statt in die Vene in den Rückenmarkskanal, was zu einer schweren Schädigung führte. Obwohl der Fehler alsbald erkannt und P in der Universitätsklinik intensiv-medizinisch behandelt wurde, starb P 35 Tage später an Kreislaufversagen als Folge der Vincristin-Spritze. K hat die Kosten der intensiv-medizinischen Behandlung des P in der Uniklinik während der 35 Tage in Höhe von 40.000 € getragen. Sie macht gegenüber B Ansprüche des P geltend, die nach § 116 SGB X auf sie übergegangen sind. B verweist darauf, dass während der intensiv-medizinischen Behandlung keine ALL-Therapie stattgefunden hat und dass deren Kosten gleich hoch gewesen wären wie die der intensiv-medizinischen Behandlung, so dass K diese Kosten gespart habe. Wie ist über den Anspruch der K gegen B zu entscheiden ?

I. Da K einen auf sie durch Gesetz übergeleiteten Anspruch des P geltend macht, ist entscheidend, ob P bis zu seinem Tode einen Schadensersatzanspruch gegen B erworben hat. B haftet nach bürgerlichem Recht (§ 76 IV SGB V), so dass Ansprüche nach § 280 I BGB und nach § 823 I BGB in Betracht kommen.

1. Im Rahmen des vertraglichen Anspruchs nach § 280 I haftet B für den Fehler der A nach § 278. OLG S. 440 unter 1: Dr. A ist als Erfüllungsgehilfin gem. § 278 BGB für die Bekl. tätig geworden. Erfüllungsgehilfe ist, wer nach den tatsächlichen Gegebenheiten des Falles mit dem Willen des Schuldners an der Erfüllung einer diesem obliegenden Verbindlichkeit als seine Hilfsperson tätig wird (Palandt/Heinrichs, BGB, 63. Aufl., § 278 Rdnr. 7). Dabei ist unerheblich, dass A tatsächlich arbeitsrechtlich bei der Universität angestellt war, denn die Art der zwischen dem Schuldner und der Hilfsperson bestehenden rechtlichen Beziehung ist gleichgültig, sie kann auch in einer rein tatsächlichen Zusammenarbeit bestehen (Palandt/Heinrichs § 278 Rdnr. 7). A hat fahrlässig die der B gegenüber P obliegenden Pflichten verletzt, als sie dem P das falsche Medikament in das Rückenmark spritzte und ihm dadurch einen schweren Gesundheitsschaden zufügte. Somit liegt der haftungsbegründende Tatbestand des § 280 I vor.

2. Bei der deliktischen Haftung ist von § 831 I BGB auszugehen, der eine selbstständige Anspruchsgrundlage für vermutetes eigenes Verschulden ist (Hk-BGB/Staudinger, 3. Aufl. 2003, § 831 Rdnr. 1).

a) A war Verrichtungsgehilfin der B, weil sie von B zu Verrichtungen im Rahmen des Krankenhausbetriebs bestellt war. Sie war auch weisungsgebunden, denn die ärztliche Leitung des Krankenhauses durfte die Tätigkeit der A steuern, ihr insbesondere Aufgaben zuzuweisen oder entziehen.

b) A hat dem P widerrechtlich einen Schaden in seiner Gesundheit zugefügt.

c) B kann sich nicht nach § 831 I 2 exkulpieren, da A als Anfängerin ohne hinreichende Erfahrung mit der ALL-Therapie hätte überwacht werden müssen, jedoch ihre Tätigkeit ohne Aufsicht hatte vornehmen können bzw. müssen. Darin liegt ein Überwachungsverschulden.

Das OLG (S. 440 unter 1) neigt sogar zu einem eigenen, eine Haftung aus § 823 I auslösenden Organisationsverschulden der B, ohne diese Frage allerdings zu entscheiden.

3. Bei beiden Anspruchsgrundlagen besteht die haftungsbegründende Kausalität darin, dass der Fehler der A zu dem Gesundheitsschaden geführt hat, der die intensiv-medizinische Behandlung erforderlich gemacht hat. (Dagegen ist nicht auf die Todesfolge abzustellen, weil diese nicht mehr für die Kosten ursächlich war.) Dass der Gesundheitsschaden eine Folge des Behandlungsfehlers ist, steht fest, so dass es hier auf die im Fall vorher behandelte Beweislastverteilung nicht ankommt. Ein Schadensersatzanspruch des P gegen A aus §§ 280 I, 831 ist dem Grunde nach zu bejahen.

II. Die Kosten der intensiv-medizinischen Behandlung können nach den bejahten Anspruchsgrundlagen verlangt werden, wenn diese Kosten Folge des von P erlittenen Gesundheitsschadens sind. Für die Prüfung dieser sog. haftungsausfüllenden Kausalität ist von § 249 BGB auszugehen. Nach § 249 II 1 konnte P, dessen Gesundheit verletzt wurde, den zur Wiederherstellung erforderlichen Geldbetrag verlangen. Dieser Betrag belief sich grundsätzlich auf die für die intensiv-medizinische Behandlung aufzuwendenden 40.000 €. Dass sie von K aufgebracht wurden, ist für die Entstehung des Anspruchs unerheblich. Jeder Mensch ist zunächst selbst für seine Heilung verantwortlich, so dass die dafür erforderlichen Kosten erst einmal bei ihm entstehen. Das folgt auch aus der Überleitungsvorschrift des § 116 SGB X, da diese Vorschrift sowohl eine Kostenübernahme durch den Sozialversicherungsträger als auch einen gleichwohl bestehenden Schadensersatzanspruch des Versicherten voraussetzt.

Auf die 40.000 € Kosten könnten aber die ersparten Kosten für die ALL-Therapie anzurechnen sein, was wegen der gleichen Höhe zu einem Wegfall des Schadensersatzanspruchs führen würde. Dieser Wegfall könnte sich aus den Grundsätzen zum Vorteilsausgleich oder aus denen zur Anerkennung einer Reserveursache ergeben. Nach OLG S. 441 unter b) ist zwar die Frage der Reserveursache letztlich ein Anwendungsfall der Vorteilsausgleichung…; gleichwohl soll hier, wie üblich, zwischen beiden Fällen unterschieden werden.

1. Die Vorteilsausgleichung beruht auf dem Gedanken, dass der Geschädigte durch die Schadensersatzleistung nicht besser gestellt werden darf, als er ohne das schädigende Ereignis stehen würde; also ist ein durch das Schadensereignis anfallender Vorteil grundsätzlich zu berücksichtigen (vgl. zur Vorteilsausgleichung den Fall BGH NJW 2004, 3557 „Beschädigte Leitplanke“ = JurTel 2005 Heft 4 S. 70; Besprechung von Huber NJW 2005, 950).

a) Einleitend weist das OLG auf S. 440 unter a) darauf hin, dass es insoweit auf die Sicht des Geschädigten selbst (hier des Versicherten P) ankommt. Vorteile, die bei Dritten eintreten, bleiben außer Betracht (Oetker, in: MünchKomm, 4. Aufl., § 249 Rdnr. 225). Im Rahmen der Überleitung nach § 116 SGB X wird ein fremder, in der Person des Geschädigten entstandener Anspruch geltend gemacht; eine Vorteilsausgleichung in der Person des gesetzlichen Zessionars (hier: des Sozialversicherungsträgers) ist dem geltenden Schadenseratzrecht fremd und würde ohne rechtfertigenden Grund zu einer Entlastung des Schädigers auf Kosten der Allgemeinheit führen (vgl. BGH VersR 1978, 251). Danach ist also nicht entscheidend, was K erspart hat, sondern ein auszugleichender Vorteil setzt eine Ersparnis des P voraus.

b) Bei P hat das OLG aus zwei Gründen eine Ersparnis und damit einen Vorteil verneint: Während der intensiv-medizinischen Behandlung auf Grund der Fehlapplikation ist keine Chemotherapie – mithin keine Behandlung des Krebsleidens – durchgeführt worden, so dass schon daraus ein Vorteil aus der Sicht des Versicherten nicht erkennbar ist. Es ist keine Kostentragungspflicht für eine Chemotherapie entstanden, weil diese nicht durchgeführt wurde, so dass auch keine Ersparnis im Hinblick auf Kosten eingetreten ist, die an sich hätten bezahlt werden müssen. Das Unterbleiben der Chemotherapie war also eher ein (weiterer) Nachteil der Fehlapplikation als ein Vorteil. Schließlich ist auch keinesfalls sicher, ob der Geschädigte die Behandlungskosten für die Krebstherapie hätte aufwenden müssen, zumal ein Patient auch immer die Entscheidungsfreiheit hat, eine bereits begonnene Therapie vorzeitig abzubrechen. Dies kommt im Rahmen einer Chemotherapie zur Krebsbekämpfung in der Praxis durchaus nicht selten vor. Möglicher Grund für einen Abbruch kann insbesondere die Unverträglichkeit der Therapie sein. Dann wären Kosten nicht entstanden, können also auch nicht erspart sein.

Somit sind evtl. ersparte Kosten der Chemotherapie kein Vorteil, den P sich anrechnen lassen muss.

2. Eine Reserveursache oder auch hypothetische Kausalität kommt in Betracht, wenn der gleiche Schaden auch ohne die Handlung des Schädigers eingetreten wäre (Hk-BGB/Schulze, 3. Aufl., Vor §§ 249 – 253 Rdnr. 20). Im vorliegenden Fall könnten die Krebsbehandlungskosten, die ohne die Fehlbehandlung der A angefallen wären, eine solche Reserveursache sein.

a) OLG S. 441 unter b) Eine allgemeine Richtlinie über die Behandlung hypothetischer Ereignisse, die den Schaden aufheben oder vermindert hätten, lässt sich aus den Vorschriften des BGB nicht gewinnen… Der BGH hat inzwischen zwar das Dogma von der prinzipiellen Unbeachtlichkeit der hypothetischen Kausalität aufgegeben (Soergel/Mertens § 249 Rdnr. 152; BGH NJW 1981, 628 [630]). Aufgabe des Schadensersatzrechts ist es, dem Geschädigten die durch das schädigende Ereignis zugefügten Nachteile abzunehmen. Deshalb ist der Geschädigte nur insoweit anspruchsberechtigt, als er durch das schädigende Ereignis tatsächlich eine Schlechterstellung erfahren hat. Hieraus folgt, dass die Reserveursache zu berücksichtigen ist (Oetker, in: MünchKomm, § 249 Rdnr. 206).

Unklarheit besteht jedoch darüber, nach welchen Kriterien hinsichtlich der Beachtlichkeit hypothetischer Kausalität zu differenzieren ist (vgl. Oetker, in: MünchKomm, § 249 Rdnr. 202). Einigkeit besteht offenbar darüber, dass die hypothetische Kausalität in den sogenannten „Anlagefällen“ beachtlich ist (Soergel/Mertens, Vorb. § 249 Rdnr. 157). Hiernach sind solche Reserveursachen beachtlich, die als Schadensanlage schon bei Eintritt der realen Ursache vorgelegen haben (Oetker, in: MünchKomm, § 249 Rdnr. 202 mit Hinw. auf BGH NJW 1959, 1131). Die Schadensanlage ist ein Umstand, der den Wert der Sache bereits im Zeitpunkt des Eingriffs mindert und deshalb bei der Ermittlung der Schadenshöhe berücksichtigt werden muss (Oetker, in: MünchKomm, § 249 Rdnr. 203). Im vorliegenden Fall könnten die Krebserkrankung des P und die für ihre Behandlung notwendige Therapie eine solche Schadensanlage sein.

b) Voraussetzung für eine Anrechnung – auch in den Anlagefällen – ist jedoch, dass die Reserveursache mit Sicherheit ebenfalls zu dem eingetretenen Schaden geführt hätte (Oetker, in: MünchKomm, § 249 Rdnr. 206, mit Hinw. auf BGHZ 138, 359 [636]). Insoweit lässt sich auf die bereits oben 1b) getroffene Feststellung verweisen, dass der Anfall der Krebsbehandlungskosten nicht sicher war, weil der Versicherte in jedem Fall immer die Möglichkeit gehabt hätte, die bereits begonnene Chemotherapie vorzeitig auf Grund freiwilliger Entscheidung abzubrechen.

3. Nach alledem kommt eine Schadensanrechnung der hypothetischen Heilbehandlungskosten im Rahmen der ALL-Therapie weder unter dem Gesichtspunkt der Vorteilsanrechnung noch unter dem Gesichtspunkt der hypothetischen Kausalität [Reserveursache] … in Betracht.

Ergebnis: Der Anspruch der K gegen B aus übergeleitetem Recht des P ist in vollem Umfang begründet.

Zusammenfassung

 

Auf einer ähnlichen Überlegung, wie sie der Rechtsfigur Reserveursache bzw. hypothetische Kausalität zu Grunde liegt, beruht derEinwand rechtmäßigen Alternativverhaltens.

1. Hierbei macht der Schädiger geltend, der gleiche Schaden wäre auch dann entstanden, wenn er sich rechtmäßig verhalten hätte. Dazu BGH NJW 1996, 311/2: Ein Einwand rechtmäßigen Alternativverhaltens liegt dann vor, wenn der Schädiger geltend macht, er habe sich zwar pflichtwidrig verhalten und durch dieses Verhalten einen anderen geschädigt, denselben Schaden hätte er aber auch in anderer, und zwar rechtmäßiger Weise herbeiführen können (Larenz, SchuldR I, 14. Aufl., S. 527; Staudinger/Medicus, BGB, 12. Aufl., § 249 Rdnr. 107). Der Einwand muss sich also auf eine andere Verhaltensweise beziehen, die nicht nur im Unterlassen des geschuldeten Tuns besteht; es geht nicht nur um das Hinwegdenken der pflichtwidrigen Handlung [so wie bei der Feststellung der Kausalität], sondern um das Hinzudenken weiterer Umstände (BGHZ 96, 157 [172]). In diesem Sinne auch BGH NJW 2003, 296.

Anwendungsfälle:

2. Ausdrücklich zugelassen ist der Einwand rechtmäßigen Alternativverhaltens in einigen Spezialnormen: §§ 831 I 2 BGB (kein Anspruch, „wenn der Schaden auch bei Anwendung dieser Sorgfalt entstanden sein würde“); 832 I 2; 833 S. 2; 834 S. 2; dazu Hk-BGB/Schulze, 3. Aufl., Vor § 149 – 253 Rdnr. 24. Im Übrigen ist die Behandlung der Frage umstritten. Nach inzwischen h. M. ist d er Einwand rechtmäßigen Alternativverhaltens grundsätzlich beachtlich (BGH NJW 2000, 663; BGHZ 120, 285/6; 90, 111; Palandt/Heinrichs, BGB, 64. Aufl. 2005, Vorb. vor § 249 Rdnr. 105). Nach der Rspr. des BGH (NJW 2003, 295/6) geht es hier um die Frage, inwieweit einem Schadensverursacher die Folgen seines pflichtwidrigen Verhaltens bei wertender Betrachtung billigerweise zugerechnet werden können (BGHZ 96, 172). Das ist, wenn derselbe Erfolg rechtmäßig hätte herbeigeführt werden können und der Betroffene auf diese Weise den Schaden hätte hinnehmen müssen, grundsätzlich nicht der Fall. Deshalb entfällt in den oben 1. aufgeführten Anwendungsfällen der Schadensersatzanspruch.

3. Eine Ausnahme wird aber gemacht, wenn der Schutzzweck der verletzten Norm gleichwohl eine Schadenszurechnung verlangt, was insbesondere bei der Verletzung von unbedingt geltenden Verfahrensvorschriften der Fall ist. Eckert, SchuldR AT, 4. Aufl. 2005, Rdnr. 946 bringt hierzu folgendes Beispiel: Die G-Gewerkschaft rief unter Verletzung der Friedenspflicht zum Streik auf. Dadurch entstand dem Arbeitgeber A ein Schaden, dessen Ersatz A von G verlangte. G berief sich darauf, sie hätte zu dem Streik auch nach Fristablauf aufrufen können, und dabei wäre der gleiche Schaden entstanden. Das BAG (BAGE 6, 321, 376) wies diesen Einwand mit der Begründung zurück, hier sei der Tarifvertrag verletzt worden, und das Prinzip der Vertragstreue sei ein oberster Grundsatz der Rechtsordnung, bei dessen Verletzung es bei der Schadenszurechnung bleiben müsse.