Bearbeiter: Dr. Gernot Schmalz-Brüggemann

Anfechtung wegen Inhaltsirrtums, § 119 BGB. ¨Abgrenzung des zur Anfechtung berechtigenden Rechtsfolgenirrtums vom unerheblichen Rechtsfolgenirrtum. Anfechtung einer Versäumung der Frist für die Erbausschlagung, § 1956 BGB. Erwerb des Pflichtteilsanspruchs durch Ausschlagung, § 2306 I 2 BGB

BGH Beschluss vom 5. 7. 2006 (IV ZB 39/05) NJW 2006, 3353

 Fall (Anfechtung der Erbschaftsannahme)

Erblasser E war verstorben und hatte durch notarielles Testament seinen Sohn S zum Alleinerben eingesetzt, ihn allerdings mit zahlreichen Vermächtnissen zu Gunsten Dritter beschwert. Frau T wurde zur Testamentsvollstreckerin bestellt. Das am 24. 7. 2003 eröffnete Testament wurde dem S am 31. 7. 2003 bekannt gegeben.

S war über das Testament enttäuscht und brachte diese Enttäuschung in einem Schreiben an T vom 21. 8. zum Ausdruck. Er äußerte die Auffassung, wenn er enterbt worden wäre, hätte er aufgrund seines Pflichtteils etwa das Doppelte zu fordern. Um dies näher zu klären, verlangte er von T ein Inventarverzeichnis über den Nachlass.

In der Folgezeit stellte S weitere Nachforschungen an. Aus Anlass einer Fernsehsendung über erbrechtliche Fragen kaufte er sich das Begleitbuch „ZDF-WISO - Erben und Vererben“. Dort nahm er zunächst zur Kenntnis, dass für eine eventuelle Ausschlagung der Erbschaft eine Frist von sechs Wochen gilt. Er fand aber auch die Feststellung, dass ein Erbe, der die Erbschaft ausschlägt, keinen Pflichtteil beanspruchen kann. Diese Ansicht machte er sich zu eigen, zumal er sie auch in einem von ihm zu Rate gezogenen BGB-Kommentar fand; dem weiteren Hinweis „s. aber auch § 2306“ ging er nicht nach, weil er diesem keine Bedeutung beimaß.

Anfang Oktober erhielt er den Rat, die Erbschaft auszuschlagen und den Pflichtteil zu verlangen. Er ging zu einem Notar und gab dort am 8. 10. 2003 folgende Erklärung ab: „Am 7. 7. 2003 ist mein Vater verstorben. Er hat ein Testament hinterlassen, wonach… Da ich die Erbschaft nicht fristgerecht ausgeschlagen habe, gilt sie als angenommen. Diese Annahme fechte ich hiermit wegen Irrtums an und erkläre die Ausschlagung der Erbschaft aus allen Berufungsgründen.“ Diese Erklärung wurde am 10. 10. dem Nachlassgericht übersandt.

T hat beim Amtsgericht einen Erbschein beantragt. Dieses hat Ermittlungen angestellt, aus denen sich ergab, dass die tatsächlichen Angaben des S zutreffend waren und dass bei Wegfall des S der G gesetzlicher Erbe des E ist. Wie wird der Erbschein lauten ?

Nach § 2353 BGB hat das Amtsgericht als Nachlassgericht auf Antrag einen Erbschein auszustellen, in dem der Erbe oder die Erben ausgewiesen sind. Es ist deshalb zu prüfen, wer im Erbfall des E dessen Erbe ist.

I. Nach § 1937 BGB kann der Erblasser durch Verfügung von Todes wegen den oder die Erben bestimmen. E hat durch Testament S zum Erben berufen, so dass dieser zunächst Alleinerbe geworden ist. Die Erbenstellung des S könnte jedoch durch Ausschlagung entfallen sein, § 1942 BGB. S hat am 8. 10. die Ausschlagung erklärt. Frage ist, ob diese Ausschlagung rechtswirksam ist.

II. Der Erbe kann die Erbschaft nicht mehr ausschlagen, wenn er sie angenommen hat, § 1943 1. Alt. Eine Annahme könnte in dem Schreiben des S an die Testamentsvollstreckerin T vom 21. 8. liegen. Ausdrücklich hat S darin nicht die Annahme erklärt. Das Schreiben könnte aber als Annahme auszulegen sein. Dass er seine Enttäuschung über das Testament zum Ausdruck gebracht hat, bringt nicht den Willen des S zur Annahme der Erbschaft zum Ausdruck. Eine solche Willenserklärung könnte aber in der Forderung nach einem Nachlassinventar liegen.

Dazu BGH Rdnr. 14: Das LG hat im Schreiben vom 21. 8. 2003 keine Annahme der Erbschaft durch schlüssiges Verhalten gesehen. Diese tatrichterliche Würdigung ist nicht rechtsfehlerhaft, weil das Schreiben gerade offen lässt, welche Konsequenzen S aus seiner Enttäuschung über das Testament ziehen werde. In diesem Zusammenhang kommt der Inanspruchnahme des dem Erben zustehenden Anspruchs auf ein Nachlassverzeichnis aus § 2215 BGB keine entscheidende Bedeutung zu… Denn das Nachlassverzeichnis diente…erst einer Klärung des Nachlasswerts. Von dessen Höhe hing es ab, ob und in welchem Umfang der Pflichtteilsanspruch durch Erfüllung der Vermächtnisse beeinträchtigt werden würde. Mithin kann hier von einer Annahme der Erbschaft nicht vor Ablauf der Ausschlagungsfrist ausgegangen werden…

 III. Nach § 1943 2. Alt. BGB erlischt die Ausschlagungsmöglichkeit, wenn die für die Ausschlagung vorgeschriebene Frist verstrichen ist.

 1. Die Frist beträgt nach § 1944 I sechs Wochen. Sie begann am 1. 8. (§§ 1944 II 1, 187 I) und endete am 11. 9. Am 12. 9. galt die Erbschaft als angenommen. Bei Erklärung der Ausschlagung durch S am 8. 10. war sie somit längst abgelaufen. Danach hätte S nicht mehr ausschlagen können.

2. Etwas anderes gilt, wenn die fiktive Annahme durch S von diesem wirksam angefochten worden ist (§ 142 I BGB). Nach § 1956 BGB kann die Versäumung der Ausschlagungsfrist in gleicher Weise wie die Annahme angefochten werden. Eine Anfechtungserklärung hat S am 8. 10. in notarieller Form abgegeben; sie wurde auch dem Nachlassgericht übersandt (§§ 1955, 1945 BGB). Die für die Anfechtung nach § 1954 BGB geltende Sechs-Wochen-Frist begann frühestens am 1. 10., weil S erst dann über einen möglichen Irrtum informiert wurde; sie war deshalb am 10. 10. noch nicht abgelaufen. Entscheidende Frage ist somit, ob ein Anfechtungsgrund bestand.

BGH Rdnr. 19: Worauf die Anfechtung gestützt werden kann, richtet sich allein nach § 119 BGB; die Sonderregeln der §§ 1954, 1955, 1957 BGB für Frist, Form und Wirkung der Anfechtung ändern oder erweitern die Anfechtungsgründe nicht…

Im vorliegenden Fall kommt ein Inhaltsirrtum des S nach § 119 I BGB in Betracht. Dann müsste S über den Inhalt der fiktiven Erklärung, dass er die Erbschaft durch Verstreichenlassen der Ausschlagungsfrist annehme, im Irrtum gewesen sein.

a) Zunächst ist zu überlegen, ob S überhaupt einem Irrtum erlegen ist. Dass mit dem Fristablauf das Ausschlagungsrecht entfällt und er endgültig Erbe wird, wusste S; insoweit liegt kein Irrtum vor. S hat sich weiterhin Gedanken darüber gemacht, ob er statt der Erbschaft den Pflichtteil verlangen kann, weil er diesen für werthaltiger hielt als die mit Vermächtnissen belastete Erbschaft. Dabei ist er von § 2303 BGB ausgegangen, wonach Voraussetzung für den Pflichtteilsanspruch ist, dass ein Abkömmling des Erblassers durch Verfügung von Todes wegen von der Erbfolge ausgeschlossen ist, was auf ihn nicht zutraf. Nicht gekannt hat er die davon abweichende Vorschrift des § 2306 BGB, die ein mit Beschränkungen und Beschwerungen belastetes Erbe betrifft. Für S galt § 2306 I 2, weil er Alleinerbe ist und somit der Erbteil größer als die Hälfte des gesetzlichen Erbteils. In diesem Fall kann der Pflichtteilsberechtigte das Erbe ausschlagen und den Pflichtteil verlangen. Indem S diese Möglichkeit nicht kannte, vielmehr auch in diesem Fall von § 2303 ausging, befand er sich im Irrtum über die ihm zur Verfügung stehende rechtliche Möglichkeit. Dementsprechend stellt BGH Rdnr. 17 fest, dass S irrig glaubte, die Erbschaft keinesfalls ausschlagen zu dürfen, um seinen Pflichtteilsanspruch nicht zu verlieren.

b) Dieser Irrtum müsste ein Irrtum über den Inhalt der Erklärung sein.

aa) Da eine Willenserklärung auf die Herbeiführung einer Rechtsfolge gerichtet ist, gehört die vom Erklärenden gewollte Rechtsfolge zum Inhalt der Erklärung. Danach ist ein Rechtsfolgenirrtum ein Inhaltsirrtum. Es fallen auseinander: die Vorstellung des Erklärenden über die eintretende Rechtsfolge und die wirklich eintretende Rechtsfolge. Das kann aber nur für die unmittelbare und wesentliche Rechtsfolge, die Hauptfolge gelten. Zahlreiche andere (mittelbare) Rechtsfolgen, z. B. die Sachmängelhaftung im Kaufrecht, sind von der Erklärung nicht umfasst und sind nicht ihr Inhalt. Ein Irrtum über sie ist ein „bloßer“ Rechtsfolgenirrtum und kein Inhaltsirrtum nach § 119 I.

BGH Rdnr. 19: Ein Inhaltsirrtum kann auch darin gesehen werden, dass der Erklärende über Rechtsfolgen seiner Willenserklärung irrt… Ein derartiger Rechtsirrtum berechtigt aber nach st. Rspr. nur dann zur Anfechtung, wenn das vorgenommene Rechtsgeschäft wesentlich andere als die beabsichtigten Wirkungen erzeugt. Dagegen ist der nicht erkannte Eintritt zusätzlicher oder mittelbarer Rechtswirkungen, die zu den gewollten und eingetretenen Rechtsfolgen hinzutreten, kein Irrtum über den Inhalt der Erklärung, sondern ein unbeachtlicher Motivirrtum (vgl. BGHZ 134, 152 [156] m. w. Nachw.).

bb) Bei der (fingierten) Erklärung der Erbschaftsannahme ist wesentliche Hauptfolge zunächst, dass der Erbe seine Erbenstellung auch wirklich antritt und eine Ausschlagung nicht mehr möglich ist. Über diese Rechtsfolge hat S sich nicht geirrt. Geirrt hat er sich über die von ihm für richtig gehaltene Auffassung, dass er nur so seinen Anteil am Erbe erhalten kann und insbesondere andernfalls auch den Pflichtteilsanspruch verliert (was wegen § 2306 I 2 aber nicht der Fall war). Entscheidende Frage für diesen Fall ist, ob auch die Auswirkungen auf den Pflichtteilsanspruch, die eine Annahme der Erbschaft oder eine Ausschlagung als deren Kehrseite hat, zu den Hauptfolgen einer Erklärung über die Annahme oder Ausschlagung der Erbschaft gehören.

Dazu referiert der BGH unter Rdnr. 20 die bisher ergangene Rspr. und verweist u. a. auf eine Entscheidung des (inzwischen aufgelösten) BayObLG, wonach bei einer ausdrücklichen Erbschaftsannahme die unmittelbar angestrebte Rechtsfolge einer solchen Erklärung allein das Ziel sei, die Stellung als Erbe einzunehmen; der infolgedessen eintretende Verlust des Wahlrechts nach § 2306 I 2 BGB sei dagegen nur eine mittelbare Rechtsfolge, deren Unkenntnis die Anfechtung nicht rechtfertige (vgl. BayObLG NJW-RR 1995, 904 [906]…). Dem ist die Literatur weithin gefolgt (folgen Nachw.). Eine andere Auffassung hat dagegen das OLG Hamm vertreten und wollte auch im vorliegenden Fall so entscheiden; da es dadurch vom BayObLG abgewichen wäre, hat es die Frage dem BGH zur Entscheidung vorgelegt.

Der BGH schließt sich dem vorlegenden OLG Hamm an und betrachtet die Auswirkungen einer Erklärung über die Annahme oder Ausschlagung der Erbschaft auf den Pflichtteilsanspruch als eine weitere wesentliche Hauptfolge dieser Erklärung. BGH Rdnr. 22: Man kann die unmittelbaren und wesentlichen Rechtsfolgen schon einer ausdrücklich erklärten Annahme der Erbschaft nicht generell darauf beschränken, dass der Erklärende die sich aus der letztwilligen Verfügung ergebende Rechtsstellung des Erben einnehmen will. Wenn der zugedachte Erbteil zwar größer als der Pflichtteil ist, dem Erben aber Beschränkungen oder Beschwerungen auferlegt sind, gehört zu den unmittelbaren und wesentlichen Wirkungen der Erklärung einer Annahme der Erbschaft keineswegs nur, dass der Erbe die ihm zugedachte Rechtsstellung einnimmt, sondern ebenso, dass er das von § 2306 I 2 BGB eröffnete Wahlrecht verliert, sich für den möglicherweise dem Werte nach günstigeren Pflichtteilsanspruch zu entscheiden. Für die hier vorliegenden Annahme durch Verstreichenlassen der Ausschlagungsfrist kann nichts anderes gelten, gleich ob die Ausschlagungsfrist bewusst oder unbewusst nicht genutzt worden ist. Der Verlust des Pflichtteilrechts als Rechtsfolge solchen Verhaltens prägt dessen Charakter nicht weniger als das Einrücken in die Rechtsstellung des Erben…

cc) Somit betrifft der Irrtum des S den Inhalt seiner Erklärung. Bei Kenntnis der Sachlage hätte S die Frist nicht verstreichen lassen. Die Voraussetzungen für eine Anfechtung nach § 119 I liegen vor. Die Anfechtungserklärung des S hat nach § 142 I die Folge, dass eine Annahme der Erbschaft auch durch Verstreichenlassen der Frist nicht erfolgt ist. Folglich konnte S noch ausschlagen.

IV. Die Folge der Ausschlagung ergibt sich aus § 1953 II BGB. Danach ist im vorliegenden Fall der G gesetzlicher Erbe geworden. Der Erbschein wird nicht S, sondern G als Erben ausweisen. (Sofern G nicht ebenfalls ausschlägt, erhält er das Erbe, muss aber den Pflichtteil an S zahlen und die Vermächtnisse erfüllen.)

Zusammenfassung