Bearbeiter: Dr. Gernot Schmalz-Brüggemann

Verkehrsunfall durch Geisterfahrer; Ansprüche nach §§ 823 I BGB, §§ 7, 18 StVG. Zurechnung einer Gesundheitsverletzung zum Fehlverhalten eines Kfz.-Fahrers. Verantwortlichkeit für psychisch vermittelten Schaden (sog. Schockschaden). Haftung in sog. Herausforderungsfällen

BGH Urteil vom 22. 5. 2007 (VI ZR 17/06) NJW 2007, 2764

Fall (Familie auf der Autobahn verbrannt)

Am 21. 12. befuhr der bei der V-Versicherung pflichtversicherte G als „Geisterfahrer“ die Autobahn in entgegengesetzter Richtung und prallte frontal gegen einen Pkw, in dem sich eine vierköpfige Familie (F) befand. Dem Pkw der F war ein Fahrzeug gefolgt, in dem A und B saßen, zwei im Dienst des Landes L stehende Polizeibeamte, die auf dem Heimweg von ihrem Dienst waren. Als sie sich der Unfallstelle näherten, wich Fahrer A ihr aus und stieß gegen die Leitplanke, wobei A sich eine Halswirbelsäulen-(HWS-)Distorsion zuzog. B ging auf die kollidierten Autos zu und unternahm einen Rettungsversuch, brach diesen aber ab, als Feuer ausbrach und die Autos in Flammen aufgingen. Er musste mit ansehen, wie sämtliche Insassen in ihren Fahrzeugen verbrannten.

Die vom Land L wegen der HWS-Distorsion des A getragenen Heilungskosten betrugen 920 Euro. Bei B zeigte sich ein durch das Erleben des Unfallgeschehens entstandenes posttraumatisches Belastungssyndrom, das tags und nachts schwere panische Anfälle auslöste und aufgrund dessen er mehrere Monate arbeitsunfähig war. Heilbehandlung und Arbeitsunfähigkeit des B führten beim Land L zu einem Schaden in Höhe von 33.000 Euro.

Nach § 98 Landesbeamtengesetz L (LBG-L; Parallelvorschrift im Bundesrecht ist § 87a BBG) geht, wenn ein Beamter verletzt oder getötet wird, ein ihm zustehender Schadensersatzanspruch gegen einen Dritten auf das Land über, soweit das Land dem Beamten zur Erbringung von Leistungen verpflichtet ist. Unter Berufung auf diese Vorschrift verlangt das Land L von der V-Versicherung Ersatz von 33.920 Euro. Zu Recht ?

A. Anspruch des L gegen V auf Ersatz der Heilbehandlungskosten des A in Höhe von 920 Euro

 I. Da das Land L einen nach § 98 LBG-L übergegangenen Anspruch geltend macht, ist Voraussetzung für den Anspruch, dass in der Person des A ein solcher Anspruch gegen V entstanden ist. Als Anspruchsgrundlage kommt § 823 I BGB i. V. mit § 3 Nr. 1 PflichtversicherungsG (PflVG) in Betracht. Dieser Direktanspruch gegen die Haftpflichtversicherung - nach dem am 1. 1. 2008 in Kraft tretenden neuen Versicherungsvertragsgesetz gibt es einen Direktanspruch nicht mehr nur bei Kfz.-Versicherungen, sondern bei jeder Pflichtversicherung, also auch z. B. bei Haftpflichtfällen von Rechtsanwälten - hat im vorliegenden Fall zur Voraussetzung, dass Anspruchsteller A einen Anspruch gegen den Versicherungsnehmer G der V-Versicherung erworben hat. Dieser Anspruch des A gegen G kann sich aus § 823 I BGB ergeben.

1. Voraussetzung ist zunächst die Verletzung eines der in § 823 I aufgeführten absoluten Rechte oder Rechtsgüter. Die HWS-Distorsion des A bedeutet eine Verletzung des Körpers und der Gesundheit des A.

2. Diese Verletzung müsste durch G verursacht worden sein.

a) G hat die Autobahn auf der falschen Seite befahren und dadurch den Zusammenstoß mit dem Pkw der Familie F verursacht. Dieses Unfallgeschehen war Anlass für das Ausweichmanöver des A, das zu dem Aufprall auf die Leitplanke geführt hat, der die Ursache für die HWS-Distorsion des A war. Das Fahrverhalten des A kann somit nicht hinweggedacht werden, ohne dass die Verletzung des A entfällt, ist also ursächlich im Sinne der Conditio-sine-qua-non-Formel und der darauf gegründeten Äquivalenz- bzw. Bedingungstheorie.

b) Im zivilrechtlichen Haftungsrecht gilt aber zusätzlich die einschränkende Adäquanztheorie, wonach der Kausalverlauf der Lebenserfahrung entsprechen muss, so dass völlig außerhalb der Lebenserfahrung liegende Abläufe für die Ursächlichkeit nicht ausreichen. Es liegt jedoch keineswegs außerhalb der Lebenserfahrung, dass der von einem Verkehrsteilnehmer verursachte schwere Verkehrsunfall auf einer Autobahn einen anderen Autofahrer zu einer Ausweichreaktion veranlasst, die zu einem weiteren Unfall mit Personenschaden führt. Die Verletzung des A ist somit von G adäquat kausal herbeigeführt worden. Auch widerspricht die Zurechnung dieses weiteren Unfalls zu Lasten des G nicht dem Schutzzweck des § 823 I.

G hat also die Verletzung des A zurechenbar verursacht. Die haftungsbegründende Zurechnung liegt vor.

3. Rechtfertigungsgründe bestehen nicht, G hat also rechtswidrig gehandelt. Ihn trifft auch der Vorwurf schuldhaften Handelns, wobei offen bleiben kann, ob G vorsätzlich - etwa in Selbstmordabsicht - oder grob fahrlässig auf die falsche Spur der Autobahn gefahren ist.

4. Die Verletzung des Körpers und der Gesundheit des A hat Heilungskosten in Höhe von 920 Euro ausgelöst (haftungsausfüllende Kausalität bzw. Zurechnung). Diese gelten als Schaden des A, weil dieser zu seiner Wiederherstellung diesen Betrag benötigt hat (vgl. § 249 II 1 BGB). Dass das Land diese Kosten getragen hat, wird bei A nicht als schadensmindernder Vorteilsausgleich berücksichtigt, wie sich aus der Legalzession des § 98 LBG-L ergibt, die andernfalls ins Leere gehen würde.

Somit ist in der Person des A gegen G ein Schadensersatzanspruch über 920 Euro entstanden, der auch gegen die V gerichtet werden kann (§ 3 Nr. 1 PflVG) und nach § 98 LBG-L auf das Land L übergegangen ist. Der Anspruch L gegen V in Höhe von 920 Euro ist somit aus § 823 I BGB i. V. mit §§ 3 Nr. 1 PflVG, 98 LBG-L begründet.

II. Mit einer im wesentlichen gleichen Begründung kann der Anspruch außerdem auf §§ 7 I und 18 StVG jeweils in Verbindung mit §§ 3 Nr. 1 PflVG, 98 LBG-L gestützt werden.

B. Anspruch des L gegen V auf Ersatz der wegen Krankheit und Arbeitsunfähigkeit des B in Höhe von 33.000 Euro entstandenen Kosten

I. Auch in diesem Fall kann sich eine Anspruchsgrundlage aus § 823 I BGB i. V. mit §§ 3 Nr.1 PflVG, 98 LBG-L ergeben. Voraussetzung ist ein in der Person des B gegen G entstandener Anspruch aus § 823 I.

1. Bei B müsste ein von § 823 I geschütztes absolutes Recht oder Rechtsgut verletzt worden sein. BGH Rdnr. 12: Durch ein Unfallgeschehen ausgelöste, traumatisch bedingte psychische Störungen von Krankheitswert können eine Verletzung des geschützten Rechtsguts Gesundheit i. S. des § 823 I BGB darstellen (vgl. z. B. BGHZ 132, 341 [344] m. w. Nachw.…). Im Streitfall ist revisionsrechtlich zu unterstellen, dass die vom erkennenden Senat an eine Gesundheitsbeschädigung im Sinne dieser Vorschrift gestellten Forderungen (vgl. BGHZ 56, 163 [165 f.]; 132, 341 [344]…) erfüllt sind, weil nach den Ausführungen des BerGer. eine unfallbedingte Gesundheitsschädigung der Polizisten schlüssig dargetan ist… Nach obigem Sachverhalt braucht das allerdings nicht unterstellt zu werden, sondern lässt sich positiv daraus schließen, dass bei B tags und nachts schwere panische Anfälle aufgetreten sind, die zur Arbeitsunfähigkeit geführt haben, was zur Feststellung einer psychischen Störung mit Krankheitswert (sog. Schockschaden) ausreicht. Die bei B eingetretenen Folgen gehen offensichtlich über den Zustand des Leids oder der Trauer, der noch keine Gesundheitsbeschädigung darstellt, hinaus. Zwar ist Normalfall der psychisch vermittelten Gesundheitsverletzung eines nicht an einem Unfall Beteiligten das Miterleben der Tötung oder schweren Verletzung eines nahen Angehörigen oder die Nachricht davon (vgl. BGHZ 93, 351; Elsner NJW 2007, 2766 in einer Anmerkung zu dem Urteil des BGH); die mögliche Haftung ist aber nicht auf diese Fälle beschränkt.

Somit liegt eine Verletzung des Rechtsguts Gesundheit bei B vor.

2. Diese müsste von G zurechenbar verursacht worden sein.

a) Maßgebend hierfür sind zunächst die Conditio-sine-qua-non-Formel und das Erfordernis der Adäquanz.

aa) Das Befahren der falschen Seite der Autobahn durch G war ein Umstand, der nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass das Erlebenmüssen des Unfallgeschehens durch B mit der weiteren Folge der psychischen Störungen bei B entfällt. Das Verhalten des G war für die psychische Erkrankung des B in gleichem Maße ursächlich wie für die HWS-Distorsion des A (vgl. oben A I 2a).

bb) Es lag auch nicht völlig außerhalb der Lebenserfahrung, dass eine „Geisterfahrt“ auf der Autobahn einen so schwerwiegenden Unfall auslöst, dass dieser bei einer Person, die dessen Verlauf miterleben muss, zu einer zeitweiligen psychischen Erkrankung als Schockschaden führt.

Die an die Zurechnung eines Verletzungserfolgs im Rahmen der haftungsbegründenden Kausalität regelmäßig zu stellenden Anforderungen sind somit erfüllt.

b) Es kann aber ein Bedarf nach einer weitergehenden Einschränkung bestehen.

aa) Grund hierfür ist bei der hier gegebenen Fallgruppe, dass es sich bei sog. Schockschäden um einen psychisch vermittelten Verletzungserfolg handelt. Bei diesem besteht die Gefahr, dass von einem furchtbaren Ereignis so viele Menschen psychisch betroffen sind und bei einer entsprechenden Veranlagung auch krankhafte Symptome zeigen, dass der Kreis der anspruchsberechtigten Geschädigten sich unübersehbar ausdehnt. (Als Beispiel mag auf den Unfalltod Prominenter wie Prinzessin Diana 1997 hingewiesen werden. Vgl. auch Elsner NJW 2007, 2766: Es steht zu befürchten, dass durch Handy, Filmaufnahmen oder immer sensationsgieriger werdende Medien Unfallfilme in Echtzeit massenhaft verbreitet werden. Der Kreis von möglichen Anspruchstellern…würde unbegrenzbar erweitert.)

bb) Als dogmatische Rechtsfigur für eine Einschränkung steht normalerweise die Lehre vom (begrenzten) Schutzzweck der Norm zur Verfügung. Der BGH greift hier aber nicht auf diese zurück, sondern hat für die Fallgruppe eines psychisch vermittelten (Schock-)Schadens eigene Grundsätze entwickelt.

(1) BGH Rdnr. 14: Der erkennende Senat hat eine Haftpflicht des Unfallverursachers in Fällen anerkannt, in denen der Geschädigte als direkt am Unfall Beteiligter infolge einer psychischen Schädigung eine schwere Gesundheitsstörung erlitten hat (BGH NJW 1986, 777; 1991, 2347; 1993, 1523). Maßgeblich für die Zurechnung war in diesen Fällen, dass der Schädiger dem Geschädigten die Rolle eines unmittelbaren Unfallbeteiligten aufgezwungen hat und dieser das Unfallgeschehen psychisch nicht verkraften konnte (vgl. BGH NJW 1986, 777). Solche Umstände sind hier nicht gegeben, vielmehr waren die Polizeibeamten an dem eigentlichen Unfallgeschehen, das zu ihrer psychischen Schädigung geführt hat, nämlich der Kollision zwischen dem „Geisterfahrer“ und dem Pkw der Familie, nicht beteiligt.

(2) Bei nur mittelbar Beteiligten wie dem B im vorliegenden Fall verneint der BGH eine Zurechnung und Haftung. Rdnr. 13: Die psychisch vermittelte Schädigung ist dadurch entstanden, dass die Polizeibeamten mit ansehen mussten, wie die Insassen der beteiligten Unfallfahrzeuge verbrannten, ohne helfend eingreifen zu können. Unter diesen Umständen kann ein solcher Gesundheitsschaden dem Schädiger nicht zugerechnet werden. Die Polizeibeamten sind vielmehr wie zufällige Zeugen des Verkehrsunfalls zu behandeln (BGH Rdnr. 17), denen ein Anspruch auf Ersatz eines Schockschadens nicht zusteht.

c) Etwas anderes ergibt sich auch nicht durch Anwendung der Grundsätze über die Rettungshandlung in den sog. Herausforderungsfällen.

 aa) BGH Rdnr. 15, 16: Insoweit hat der BGH entschieden, dass jemand, der durch vorwerfbares Tun einen anderen zu selbstgefährdendem Verhalten herausfordert, diesem anderen dann, wenn dessen Willensentschluss auf einer mindestens im Ansatz billigenswerten Motivation beruht, aus unerlaubter Handlung zum Ersatz des Schadens verpflichtet sein kann, der infolge des durch die Herausforderung gesteigerten Risikos entstanden ist (vgl. BGHZ 57, 25 [28 ff.];…BGHZ 132, 164 [166 ff.]). Eine auf solcher Grundlage beruhende deliktische Haftung ist insbesondere in Fällen bejaht worden, in denen sich jemand der (vorläufigen) Festnahme durch Polizeibeamte oder andere dazu befugte Personen durch die Flucht zu entziehen versucht und diese Personen dadurch in vorwerfbarer Weise zu einer sie selbst gefährdenden Verfolgung herausgefordert hat, wobei sie dann infolge der gesteigerten Gefahrenlage einen Schaden erlitten haben (vgl. BGHZ 132, 164 [166 f.] m. w. Nachw.).

bb) Im Unterschied zu diesen Fällen haben die Geschädigten hier keinen Schaden bei einem sie selbst gefährdenden Verhalten erlitten, zu dem sie sich auf Grund einer durch die „Geisterfahrt“ des Schädigers bestehenden gesteigerten Gefahrenlage herausgefordert fühlen durften. Der…Rettungsversuch des B wurde nach den Feststellungen des BerGer. jedenfalls abgebrochen, als die Fahrzeuge in Flammen aufgingen und hat als solcher zu keinem Gesundheitsschaden des Polizeibeamten geführt.

Somit fehlt es an einer dem G zurechenbaren Gesundheitsbeschädigung des B. Die von B erlittene Störung gehört zum allgemeinen Lebensrisiko. Ein Anspruch des L gegen V aus § 823 I BGB i. V. mit §§ 3 Nr.1 PflVG, 98 LBG-L besteht nicht.

II. Auch §§ 7 I, 18 I StVG greifen als Anspruchsgrundlagen nicht ein. Danach muss die Gesundheitsverletzung bei dem Betrieb eines Kraftfahrzeugs entstanden sein, d. h. die vorhandene Gesundheitsverletzung muss zurechenbare Folge des Kfz.-Betriebs sein. Ist sie psychisch vermittelt, gelten dieselben Überlegungen wie oben I 2b (2), was dazu führt, dass das posttraumatische Belastungssyndrom des B nicht bei dem Betrieb des Kfz. des G entstanden ist.

Zusammenfassung