Bearbeiter: Dr. Gernot Schmalz-Brüggemann

Arzthaftungsrecht, §§ 611, 280 BGB. Schaden als Folge der Geburt eines Kindes („Kind als Schaden ?“). Schadensschätzung, § 287 ZPO. Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter; Einbeziehung des Sexualpartners

BGH Urteil vom 14. 11. 2006 (VI ZR 48/06) NJW 2007, 989

 Fall (Verhütung durch Implanon - misslungen)

Frau A hatte ihren Gynäkologen Dr. B aufgesucht und mit ihm vereinbart, dass er ihr das lang wirkende Verhütungsmittel Implanon verabreicht. Dabei handelt es sich um ein 3 mm starkes und wenige Zentimeter langes Plastikröhrchen, das oberhalb der Ellenbogenbeuge unter der Haut eingesetzt wird und einen Wirkstoff abgibt. Dr. B nahm eine Behandlung vor und rechnete sie ab. Einige Monate später wurde bei A eine Schwangerschaft festgestellt, die später zur Geburt eines gesunden Sohnes führte. Vater ist D, den A seit etwa einem halben Jahr kannte und mit dem sie nicht zusammenlebt. Eine Untersuchung der A hatte das Ergebnis, dass weder ein Implantat gefunden wurde noch dass sich der Wirkstoff des Implanon bei A nachweisen ließ. B kann dazu keine näheren Erklärungen abgeben.

A konnte wegen der Schwangerschaft und der Betreuungspflicht gegenüber dem Kind eine ihr zugesagte Arbeitsstelle nicht antreten. D kommt seiner Unterhaltspflicht gegenüber dem Kind nach und hat eventuelle Ansprüche gegen Dr. B an A abgetreten. A fragt, welche Ansprüche ihr gegenüber B zustehen. Sie kann nicht behaupten, dass sie niemals ein Kind hätte haben wollen; zum jetzigen Zeitpunkt sei aber durch das Kind ihre berufliche, wirtschaftliche und private Planung durchkreuzt worden.

A. Schadensersatzanspruch A gegen B aus eigenem Recht

I. Anspruchsgrundlage kann § 280 I BGB sein. Zwischen A und B ist ein Dienstvertrag (§ 611 BGB) geschlossen worden, der die Behandlung der A mit dem Verhütungsmittel Implanon zum Gegenstand hatte.

II. Da bei A weder das Implantat noch eine Wirkung gefunden wurden, kann eine ordnungsgemäße Behandlung nicht stattgefunden haben. Der BGH weist bei Rdnr. 9 darauf hin, dass die Versagerrate bei Implanon vom Arbeitskreis Langzeitkontrazeption mit Null angegeben wird, dass das Mittel also bei ordnungsgemäßer Anwendung eine volle kontrazeptive Sicherheit gewährt. Also muss B einen Behandlungsfehler begangen haben, der sich als Pflichtverletzung darstellt.

III. Das Verschulden des B wird nach § 280 I 2 vermutet; B hat die Vermutung nicht widerlegt.

IV. Als Folge der Pflichtverletzung muss der A ein der Pflichtverletzung zurechenbarer Schaden entstanden sein. Dabei ist mittlerweile anerkannt, dass die (ursprünglich so beschriebene) Problemstellung „Kind als Schaden ?“ unzutreffend ist, die Frage vielmehr dahin geht, ob die durch die Geburt des Kindes entstandene Unterhaltsbelastung ein ersatzfähiger Vermögensschaden ist. Wird in solchem Fall ein Arzt oder ein Krankenhausträger in Anspruch genommen, ist (zumindest) zwischen zwei Fallgruppen zu unterscheiden.

1. Die erste Fallgruppe betrifft nicht durchgeführte oder fehlgeschlagene Schwangerschaftsabbrüche. Hier setzt ein ersatzfähiger Schaden voraus, dass der Schwangerschaftsabbruch nach den §§ 218 ff. StGB rechtmäßig gewesen wäre; Straflosigkeit reicht nicht aus (hierzu BGHZ 143, 389, 393 ff.; Spickhoff NJW 2007, 1633). Im vorliegenden Fall ist diese Fallgruppe nicht einschlägig.

2. Bei der anderen Fallgruppe

a) sind nach BGH Rdnr. 8 die mit der Geburt eines nicht gewollten Kindes für die Eltern verbundenen wirtschaftlichen Belastungen, insbesondere die Aufwendungen für dessen Unterhalt, als ersatzpflichtiger Schaden auszugleichen, wenn der Schutz vor solchen Belastungen Gegenstand des jeweiligen Behandlungs- oder Beratungsvertrags war. Der BGH entscheidet somit nach dem Vertragszweck und hat eine Haftung bejaht

Diese Rspr. wurde von BVerfGE 96, 375, 397 ff. als verfassungsrechtlich unbedenklich bestätigt.

b) BGH Rdnr. 9: Der Streitfall gehört zu diesen Fallgruppen. Nach den Feststellungen des BerGer. war der zwischen den Parteien geschlossene Behandlungsvertrag darauf gerichtet, der Kl. das Mittel „Implanon“ zu verabreichen. Einziger Zweck dieser Maßnahme konnte ersichtlich nur die Verhütung einer Schwangerschaft bei der Kl. sein. Dieser Zweck wurde nicht erreicht, weil dem Bekl. … ein Behandlungsfehler unterlaufen ist…Die fehlgeschlagene Verhütungsmaßnahme hat bezweckt, die Kl., auch angesichts ihrer beruflichen Situation, vor einer unerwünschten Unterhaltsbelastung zu schützen… Im Übrigen muss die Vermeidung der wirtschaftlichen Belastung nicht unbedingt im Vordergrund stehen (vgl.…BGHZ 143, 389 [394]).

c) Der Annahme eines Schadens könnte entgegenstehen, dass A nicht ausschließen wollte, dass sie einmal ein Kind habe bekommen wollen. Der BGH ordnet diese Überlegung der Frage zu, ob ein Schaden durch ein unerwünschtes Kind eine abgeschlossene Familienplanung voraussetzt, verneint diese Frage aber. Rdnr. 13: Eine Haftung ist nicht davon abhängig, dass die Familienplanung der Eltern oder eines Elternteils „abgeschlossen“ ist in dem Sinne, dass auch die hypothetische Möglichkeit eines späteren Kinderwunsches, etwa nach beruflicher Konsolidierung oder mit einem anderen Partner, völlig ausgeschlossen werden muss.

Rdnr. 14: Auch eine aus persönlichen oder wirtschaftlichen Gründen auf längere Zeit geplante Kinderlosigkeit kann Grundlage dafür sein, die unerwünschte Belastung mit einer Unterhaltsverpflichtung der ärztlichen Vertragsverletzung zuzurechnen…

Rdnr. 17: Gerade bei Betroffenen, die am Anfang ihres Berufslebens stehen und zunächst auf Zeit geplant haben, ohne Kind zu bleiben, kann sich eine Vereitelung dieser Lebensplanung wirtschaftlich in schwerwiegender Weise auswirken. In solchen Fällen kann der Zurechnungszusammenhang nicht mit der Erwägung verneint werden, dass bei einer temporären Verhütungsmaßnahme nicht auszuschließen sei, dass sich später doch ein Kinderwunsch einstelle und dieser erfüllt werde… Das möglicherweise später geborene Kind kann nicht, etwa im Sinne einer „überholenden Kausalität“, mit dem tatsächlich geborenen gleichgesetzt werden.

Somit ist der Schaden unabhängig davon zu bejahen, wie A zu der Frage steht, ob sie später einmal ein Kind gewünscht hätte.

V. Für die genauere Berechnung des Schadens ist davon auszugehen, dass der Schaden in der Unterhaltsbelastung der A als Elternteil besteht.

1. Als Dauer der Unterhaltspflicht legt der BGH die Zeit bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres zu Grunde. Hierbei taucht wieder eine ähnliche Überlegung auf, wie sie bereits oben IV 2c angestellt wurde. Die Revision des Bekl. hatte verlangt, die Kl. müsse, wenn sie für 18 Jahre Ersatz verlange, für diesen gesamten Zeitraum „eine gegen Kinder gerichtete Lebensplanung“ vortragen. Dem widerspricht der BGH unter Rdnr. 20 mit dem Argument: Ein solcher Vortrag ist bei Berücksichtigung des Wahrheitsgebots (§ 138 I ZPO) nicht möglich. Niemand kann verbindliche Erklärungen zu seiner Lebensplanung über einen Zeitraum von 18 (bzw. jetzt noch 14) Jahren abgeben, geschweige denn, was der Revision möglicherweise vorschwebt, einen solchen Vortrag unter Beweis stellen und den Beweis führen… Selbst wenn sich bei der Kl. in Zukunft ein Kinderwunsch eingestellt haben würde, bezöge sich dieser auf den dann maßgeblichen Zeitpunkt und die anschließende Lebensphase. Die vom Bekl. verursachte Unterhaltsbelastung bleibt dessen ungeachtet bestehen.

2. Die Höhe des als Schaden zu ersetzenden Unterhalts ist nach § 287 ZPO zu schätzen, wobei der Unterhalt zwei Elemente hat: den in Form von Geldleistungen zu erbringenden Unterhalt und die persönliche Betreuung.

a) BGH Rdnr. 28: Betreffend den Barunterhaltsschaden hat der Arzt von den wirtschaftlichen Belastungen, die aus der von ihm zu verantwortenden Geburt eines Kindes hergeleitet werden, nur denjenigen Teil zu übernehmen, der für die Existenzsicherung erforderlich ist (BGH NJW 1997, 1638). Dem wird der vom BerGer. ausgeurteilte Betrag in Höhe von 135 % des Satzes der Regelbetrag-Verordnung gerecht…Als Existenzminimum des Kindes sind 135 % des Regelbetrags anzusehen (BGH NJW 2003, 112 [114]…; vgl. auch § 1612b V BGB).

b) BGH Rdnr. 29: Hinsichtlich des Wertes der Betreuungsleistungen hat der erkennende Senat es nicht beanstandet, dass der Tatrichter einen Zuschlag in Höhe des Barunterhalts zuerkennt (BGHZ 76, 259 [270 f.]; NJW 1997, 1638). Folglich können nochmals 135 % des Satzes der Regelbetrag-VO zuerkannt werden.

Somit beträgt die Höhe des Unterhaltsschadens 270 % des Regelbetrags der jeweiligen Altersstufe (abzüglich des gezahlten Kindergeldes). In dieser Höhe ist der Schadensersatzanspruch der A gegen B aus eigenem Recht begründet.

VI. Eine weitere Anspruchsgrundlage ist nicht ersichtlich. Für einen Anspruch aus § 823 I BGB fehlt es an der Verletzung eines der dort aufgeführten absoluten Rechte (das Nichteinsetzen des Röhrchens ist keine Körperverletzung), für § 823 II fehlt es an der Verletzung eines Schutzgesetzes.

B. Anspruch aus abgetretenem Recht

Da gegen die Abtretbarkeit und den Abtretungstatbestand (vgl. §§ 398 ff. BGB) keine Bedenken ersichtlich sind, besteht dieser Anspruch, soweit dem D ein Anspruch gegen Dr. B zustand.

I. Aus einem eigenen Vertrag mit B kann D keinen Anspruch erworben haben, weil ein solcher Vertrag nicht bestand. Anspruchsgrundlage könnte aber der zwischen A und B geschlossene Dienstvertrag als Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter sein. (Diese Anspruchsgrundlage ist im Gesetz nicht geregelt. Sie wird teilweise auf eine ergänzende Vertragsauslegung nach § 157 BGB, teilweise auf ein gesetzliches Vertrauensschutzverhältnis nach §§ 242, 311 III BGB gestützt. Der BGH benennt keine Anspruchsgrundlage, zitiert aber in der Zeile über den Leitsätzen „BGB §§ 280 I, 328“.)

II. Voraussetzung für einen solchen Anspruch ist, dass D in den Schutzbereich des zwischen A und B geschlossenen Dienstvertrages einbezogen worden ist.

1. Voraussetzungen hierfür sind (vgl. BGH Rdnr. 25 und unten 2d)

2. Der BGH prüft diese Voraussetzungen nicht getrennt, sondern geht von der Eigenart der hier einschlägigen Fallgruppe aus. Rdnr. 23 ff.:

a)Der erkennende Senat hat in Fällen fehlerhafter genetischer Beratung und sonstiger Fehler im vorgeburtlichen Bereich bereits die Einbeziehung des ehelichen Vaters in den Schutzbereich des Arztvertrages bejaht (BGHZ 86, 240 [249 f.];…151, 133 [136]).

b) Sie wird auch für Partner einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft befürwortet (vgl. Gehrlein MDR 2002, 638 [639}; Palandt/Heinrichs, BGB, 65. Aufl., Vorb. § 249 Rdnr. 48…).

Der Streitfall nötigt nicht zur Entscheidung der Frage, in welchem Umfang nichteheliche Väter unter allen denkbaren Umständen, etwa bei ungefestigten kurzfristigen Partnerschaften, in einen von der Frau abgeschlossenen, auf Empfängnisverhütung angelegten Behandlungsvertrag einbezogen sind.

c) Sofern die Arztleistung - wie hier - auch der wirtschaftlichen Familienplanung dient, ist ihr wesenseigen, dass der vertragliche Schutz denjenigen zukommt, die für den Unterhalt aufzukommen haben. Dies gilt…auch bei nichtehelichen Lebensgemeinschaften und Partnerschaften, die bei Durchführung der Behandlung bestehen und deren auch wirtschaftlichem Schutz die Behandlung gerade dienen soll.

Dabei war es nicht erforderlich, dass die Kl. dem Bekl. den Kindesvater als ihren festen Partner vorstellte oder namentlich benannte. Die Leistungsnähe des Dritten, das Interesse der Kl. an dessen Schutz, sein Schutzbedürfnis und die Erkennbarkeit des geschützten Personenkreises (vgl. BGHZ 56, 269 [273 f.]; NJW 2002, 1489; 2001, 3115 [3116] m. w. Nachw.) lagen nach den Umständen des Streitfalles auch aus der Sicht des Bekl. selbst dann vor, wenn ihm nähere Informationen zur Person des damaligen Lebenspartners der Kl. und späteren Kindesvaters fehlten. Die Revision hatte sich auf den Fall berufen, dass im Zeitpunkt ärztlichen Leistung noch völlig offen ist, wann und mit wem künftig Geschlechtsverkehr ausgeübt wird. Der BGH weist aber darauf hin, dass dieser Fall hier nicht gegeben ist.

d) BGH Rdnr. 26: Dem Anspruch steht auch nicht entgegen, dass die Kl. nichts Konkretes zur Lebensplanung des D vorgetragen hat. Der Kindesvater ist in den Schutzbereich des mit der Kl. geschlossenen Behandlungsvertrags einbezogen. Deshalb kommt es auf die diesem Vertrag zu Grunde liegenden Planung der Kl. an. Im Übrigen ist darauf zu verweisen, dass eine Störung der Lebensplanung durch die nichteheliche Vaterschaft und die damit verbundene Unterhaltsbelastung auf der Hand liegt. Dafür, dass der nichteheliche Vater die Vaterschaft gewollt hat, ist nichts vorgetragen oder festgestellt.

III. Somit hatte auch D einen Schadensersatzanspruch aus § 280 I BGB gegen B erworben. Dadurch, dass dieser durch Abtretung auf A übergegangen ist, stehen beide Ansprüche A nunmehr allein A zu. Diese kann entscheiden, wie die von B (bzw. seiner Haftpflichtversicherung) zu zahlenden Beträge entsprechend den tatsächlich erbrachten Unterhaltsleistungen auf A und D verteilt werden. Insgesamt braucht B den Unterhalt für das Kind in dem oben unter A V 2 a, b bestimmten Umfang nur einmal zu zahlen.

Zusammenfassung