Bearbeiter: Dr. Gernot Schmalz-Brüggemann
► Wohnungsrecht, § 1093 BGB; Erlöschen. ► Störung der Geschäftsgrundlage, § 313 BGB. ► Ergänzende Vertragsauslegung, § 157 BGB
BGH Urteil vom 9. 1. 2009 (V ZR 168/07) NJW 2009, 1348
Fall (Wohnrecht nach Umzug ins Pflegeheim)
Mutter M hatte ihr Hausgrundstück zu einem Vorzugspreis ihrer Tochter B, der späteren Beklagten, übertragen. In dem notariellen Vertrag verpflichtete sich B, ihrer Mutter ein lebenslanges unentgeltliches Wohnrecht an der im Erdgeschoss gelegenen Wohnung zu bestellen. Das Wohnungsrecht wurde bestellt und im Grundbuch eingetragen. Nach einem Schlaganfall wurde M pflegebedürftig und zog in ein Heim. B vermietete die Wohnung im Erdgeschoss und erzielt dabei Einnahmen in Höhe von monatlich 400 Euro. Die Kosten der Heimunterbringung, soweit sie durch Einnahmen der M nicht gedeckt waren, übernahm der Kreis K als Träger der Sozialhilfe. Mit einem bestandskräftig gewordenen Bescheid leitete K (nach § 33 SGB XII) „einen Ausgleichsanspruch der M gegen B für das nicht mehr in natura wahrnehmbare Wohnrecht der M“ auf sich über. Als B eine Zahlung verweigerte, erhob K gegen B Klage auf Zahlung. Ist die Klage begründet ?
Da K einen Anspruch aus übergeleitetem Recht der M geltend macht, besteht dieser, wenn Mutter M einen Zahlungsanspruch gegen ihre Tochter B hat.
I. Anspruchsgrundlage könnte das im Zusammenhang mit der Übertragung des Grundstücks an B zu Gunsten der M eingeräumte Wohnungsrecht sein. Nach § 1093 BGB kann als Unterfall der beschränkten persönlichen Dienstbarkeit das Recht bestellt werden, ein Gebäude oder einen Teil des Gebäudes als Wohnung zu benutzen.
1. Das Wohnrecht der M müsste fortbestehen. Es könnte dadurch entfallen sein, dass M es voraussichtlich auf Dauer nicht mehr nutzen kann. Einen solchen Beendigungsgrund für das Wohnrecht enthält das BGB jedoch nicht. Auch kann die Frage der Ausnutzbarkeit eines dinglichen Rechts keine Bedeutung für den Fortbestand des Rechts selbst haben, zumal andernfalls der Fortbestand des Rechts von einem Umstand abhängen würde, der ziemlich unbestimmt wäre. BGH Rdnr. 8: Zutreffend geht das Berufungsgericht davon aus, dass das Wohnungsrecht der Mutter trotz ihres Umzugs in ein Pflegeheim fortbesteht (vgl. BGH NJW 2007, 1884, 1885 Rdn. 11 ff.)…
2. Aus dem dinglichen Wohnrecht ergibt sich jedoch kein Zahlungsanspruch. BGH Rdnr. 9: Als Recht, ein Gebäude oder den Teil eines solchen unter Ausschluss des Eigentümers als Wohnung zu benutzen (§ 1093 Abs. 1 Satz 1 BGB), verpflichtet es den Eigentümer lediglich, diese Nutzung zu dulden. Geldersatzansprüche des Berechtigten begründet ein Wohnungsrecht auch dann nicht, wenn der Berechtigte es aufgrund der Gestattung des Eigentümers einem anderen zur Ausübung überlassen darf (§ 1092 Abs. 1 Satz 2 BGB). Es liegt hier ähnlich wie bei der Hypothek und der Grundschuld, bei denen der Gläubiger aus dem dinglichen Recht ebenfalls keine Zahlung vom Eigentümer verlangen kann, sondern nur die Duldung der Zwangsvollstreckung (§§ 1113, 1147, 1191, 1192 BGB).
II. Eine Anspruchsgrundlage kann sich aus dem notariellen Vertrag ergeben, in dem M der B das Hausgrundstück verkauft hat und in dem zugleich die Verpflichtung zur Bestellung des Wohnrechts enthalten war, d. h. aus dem der Bestellung des Wohnungsrechts zu Grunde liegenden schuldrechtlichen Vertrag (BGH Rdnr. 9).
1. M und B haben jedoch keine Zahlungsverpflichtung für den Fall begründet, dass M das Wohnrecht nicht mehr nutzen kann (BGH Rdnr. 10). Sie haben diesen Fall überhaupt nicht zum Gegenstand des damaligen Vertrages gemacht.
2. Ein Zahlungsanspruch ergibt sich auch nicht aus einer Vertragsanpassung nach den Regeln der Störung der Geschäftsgrundlage (§ 313 BGB).
Geschäftsgrundlage könnte nur sein, dass M das Wohnrecht weiterhin ausnutzen und in der Wohnung bleiben kann und dass sie nicht in ein Pflegeheim umziehen muss. Die Notwendigkeit, sich wegen Alters oder Behinderungen in Pflege zu begeben, war aber kein Umstand, den die Parteien nicht vorhersehen konnten. Die Störung der Geschäftsgrundlage soll dem Vertrag wegen einer Änderung der Verhältnisse einen Inhalt geben, den ihm die Parteien gegeben hätten, „wenn sie diese Veränderung vorausgesehen hätten“. BGH Rdnr. 11: Selbst wenn ihm [dem Vertragsschluss] die übereinstimmende Erwartung von Mutter und Tochter zugrunde gelegen haben sollte, die Mutter werde das Wohnungsrecht bis zu ihrem Tode ausüben können, fehlt es jedenfalls an der für eine gerichtliche Vertragsanpassung notwendigen Voraussetzung der unvorhergesehenen Änderung der Umstände, die Geschäftsgrundlage geworden sind (vgl. Erman/Hohloch, BGB, 12. Aufl., § 313 Rdn. 24). Bei der Vereinbarung eines lebenslangen Wohnungsrechts muss jeder Vertragsteil grundsätzlich damit rechnen, dass der Berechtigte sein Recht wegen Krankheit und Pflegebedürftigkeit nicht bis zu seinem Tod ausüben kann. Der Umzug in ein Pflegeheim ist daher in aller Regel kein Grund, den der Bestellung eines lebenslangen Wohnungsrechts zugrunde liegenden Vertrag nach § 313 BGB anzupassen (vgl. BGH NJW 2007, 1884, 1885 Rdn. 11 ff [dort noch offen gelassen]; ebenso: Krauß, NotBZ 2007, 129, 130; Mayer, DNotZ 2008, 672, 678; Auktor, MittBayNot 2008, 14, 15).
3. Ein Zahlungsanspruch könnte sich aus einer ergänzenden Vertragsauslegung des zwischen M und B geschlossenen Vertrages ergeben (§ 157 BGB). (Diese wäre allerdings gegenüber der Störung der Geschäftsgrundlage vorrangig, so BGH Rdnr. 12 unter Hinweis auf BGHZ 90, 69, 74 und NJW-RR 2008, 562, 563.)
a) Voraussetzung hierfür ist eine planwidrige Regelungslücke im Vertrag.
aa) BGH Rdnr. 12: Sie ist nicht deshalb ausgeschlossen, weil die eingetretene Veränderung der tatsächlichen Verhältnisse objektiv vorhersehbar war. Eine ergänzende Vertragsauslegung käme mangels Regelungslücke nur dann nicht in Betracht, wenn die Vertragsparteien ihre Vereinbarung auch für den Fall eines Umzugs der Mutter in ein Pflegeheim bewusst als abschließend angesehen hätten (vgl. BGHZ 111, 110, 115). Wurde die Möglichkeit eines Wegzugs dagegen nicht bedacht oder in der unzutreffenden Annahme, das Wohnungsrecht würde dann erlöschen, irrtümlich für nicht regelungsbedürftig gehalten, ist eine ergänzende Vertragsauslegung möglich und geboten.
Rdnr. 13: Die Annahme einer planwidrigen Regelungslücke liegt hier nahe. Handelte es sich bei dem Vertrag…um eine bewusst abschließende Regelung, hätte dies nämlich zur Folge, dass die dem Wohnungsrecht unterliegenden Räume nach dem Umzug der Mutter in ein Pflegeheim von niemandem genutzt werden könnten. Die Mutter als Berechtigte wäre aus tatsächlichen Gründen gehindert, ihr Recht wahrzunehmen; die Beklagte wäre angesichts des fortbestehenden Wohnungsrechts nicht befugt, die Räume ohne Zustimmung der Mutter selbst zu nutzen oder Dritten zu überlassen (vgl. dazu Brückner, NJW 2008, 1111, 1112). Dass dies nicht der Vereinbarung der Parteien entspricht, wird schon daraus deutlich, dass sich die Beklagte ohne weiteres für berechtigt gehalten hat, die Wohnung zu vermieten.
bb) Somit ist davon auszugehen, dass die Parteien den Fall des Umzugs in ein Pflegeheim jedenfalls nicht in der Weise abschließend regeln wollten, dass sie eine anderweitige Nutzung ausschließen wollten und das auch Zahlungsansprüche ausgeschlossen sein sollten. Da andererseits Bedarf nach einer Regelung der Nutzung und einer Zuweisung der daraus fließenden Erträge besteht, ist eine planwidrige Regelungslücke anzunehmen.
b) Nunmehr ist der Frage nachzugehen, wie die Schließung der Vertragslücke vorzunehmen ist. BGH Rdnr. 16: Bei der Ergänzung des Vertragsinhalts ist darauf abzustellen, was redliche und verständige Parteien in Kenntnis der Regelungslücke nach dem Vertragszweck und bei sachgemäßer Abwägung ihrer beiderseitigen Interessen nach Treu und Glauben vereinbart hätten (st. Rspr., vgl. BGH NJW-RR 2008, 562, 563 m. w. N.).
aa) Zunächst könnte erwogen werden, dass B zu einer Vermietung der Wohnung verpflichtet würde, um Einnahmen zu erzielen, die dann der M zugute kommen. Mit dem gleichen Ziel käme eine Eigennutzung durch B in Betracht, die zu einer Ausgleichszahlung an M führen würde. Dahingehende Verpflichtungen entsprechen nach Auffassung des BGH aber nicht dem hypothetischen Parteiwillen:
Rdnr. 18: Eine Verpflichtung der Beklagten, die Wohnung zu vermieten, wird angesichts des Charakters des Wohnungsrechts als eines im Grundsatz höchstpersönlichen Nutzungsrechts dem hypothetischen Parteiwillen im Zweifel nicht entsprechen. Zwar kann dessen Ausübung einem Dritten überlassen werden; dies erfordert jedoch die Gestattung des Eigentümers (§ 1092 Abs. 1 Satz 2 BGB). Enthält der Übergabevertrag, hier also der Grundstücksübertragungsvertrag…, eine solche Gestattung nicht, spricht dies dafür, dass der Eigentümer im Fall des Unvermögens des Berechtigten, sein Wohnungsrecht auszuüben, auch schuldrechtlich nicht verpflichtet sein sollte, die Nutzung durch Dritte zu dulden.
Rdnr. 19: Ebenso wenig wird im Zweifel anzunehmen sein, dass ein dem Wohnungsberechtigten nahestehender Eigentümer verpflichtet sein soll, ein Nutzungsentgelt an den Wohnungsberechtigten zu zahlen, wenn er die Wohnung für eigene private Zwecke nutzt oder wenn er sie einem nahen Familienangehörigen zur Nutzung überlässt. Die familiäre Verbundenheit wird häufig, wenn auch nicht zwingend, die Annahme rechtfertigen, dass eine Nutzung der Wohnung innerhalb der Familie unentgeltlich erfolgen sollte.
Rdnr. 20: Mit der Bestellung eines Wohnungsrechts haben die Parteien die Alterssicherung im Zweifel bewusst auf ein höchstpersönliches Nutzungsrecht beschränkt (…). Diesem im Übergabevertrag zum Ausdruck gekommenen Parteiwillen darf die ergänzende Vertragsauslegung nicht widersprechen (vgl. BGH NJW 2002, 2310, 2311). Das wäre indessen der Fall, wenn der Eigentümer nach einem Wegzug des Berechtigten verpflichtet wäre, die Wohnung zu vermieten oder der Vermietung durch den Berechtigten zuzustimmen, um mittels der Erträge der Wohnung zu dessen finanzieller Absicherung beizutragen. Das Wohnungsrecht würde dadurch in unzulässiger Weise um Elemente eines - von den Parteien gerade nicht gewählten - Nießbrauchs an der Wohnung (§§ 1030 Abs. 1, 1059 Satz 2 BGB) erweitert (vgl. BGH NJW-RR 2003, 577, 578).
bb) Es bleibt aber eine Ergänzung des Vertrages dahin, dass B zur Vermietung der Wohnung berechtigt ist und dass, wenn sie von dieser Berechtigung Gebrauch macht, der Erlös der M zur Bezahlung der Kosten ihres Heimaufenthalts zusteht.
BGH Rdnr. 16: Im Hinblick darauf, dass eine Rückkehr der Mutter aus dem Pflegeheim in absehbarer Zeit offenbar nicht zu erwarten und die ihr überlassene Wohnung zur Vermietung an Dritte geeignet ist, spricht viel dafür, den Vertrag dahin zu ergänzen, dass die Beklagte berechtigt sein soll, die Wohnung zu vermieten.
Rdnr. 17: Bei der Feststellung, wem die Einnahmen aus einer von der Beklagten vorgenommenen Vermietung zustehen, wird das Berufungsgericht zu berücksichtigen haben, dass das Wohnungsrecht einen Teil der Altersvorsorge der Mutter darstellt, und dass ein Grund, weshalb ihr Umzug in ein Pflegeheim zu einer wirtschaftlichen Besserstellung der Beklagten führen soll, nicht erkennbar ist (vgl. zu diesen Aspekten: BGH NJW 2007, 1884, 1887 sowie Auktor, MittBayNot 2008, 14, 17). Das könnte für die Richtigkeit der vom Landgericht vorgenommenen ergänzenden Vertragsauslegung sprechen.
Wie die vorstehenden Formulierungen zeigen, hat der BGH als Revisionsgericht nicht selbst die endgültige Entscheidung über die Vertragsergänzung getroffen, sondern hat diese Frage dem Berufungsgericht überlassen, an das der Fall zurückverwiesen wurde. Die Hinweise des BGH für das weitere Verfahren sind aber hinreichend klar, um angesichts des hier gegebenen Sachverhalts die vom BGH als naheliegend betrachtete ergänzende Vertragsauslegung auch als zutreffende Problemlösung anzusehen.
c) Somit ist eine ergänzende Vertragsauslegung dahin anzunehmen, dass B berechtigt war, die Wohnung, an der M ein Wohnrecht hatte, zu vermieten, und dass sie verpflichtet ist, den Erlös aus der Vermietung an M zu zahlen. Da dieser Anspruch auf K übergeleitet wurde, ist die Klage des K gegen B begründet.
Zusammenfassung