Bearbeiter: Dr. Gernot Schmalz-Brüggemann

Schadensersatzanspruch wegen Verletzung eines Schutzgesetzes, § 823 II BGB. Straftatbestand der unterlassenen Hilfeleistung (§ 323 c StGB) als Schutzgesetz

OLG Düsseldorf Urteil vom 27. 7. 2004 (I-14 U 24/04) NJW 2004, 3640 unter Einbeziehung von BGH NJW 2004, 1949

Fall (Bei der Vergewaltigung weggeguckt)

A, der zusammen mit B an einer Veranstaltung teilgenommen hatte, nahm auf der Rückfahrt in seinem Pkw neben B auch Frau F mit. Während der Fahrt fasste A den Entschluss, an Frau F auch gegen deren Willen sexuelle Handlungen vorzunehmen. Er bog in einen Waldweg ein, hielt an und forderte B auf, das Auto zu verlassen; dem kam B nach. Danach vergewaltigte er F. Nachdem F Anzeige gegen A und B erstattet hatte, wurde A wegen Vergewaltigung und B wegen unterlassener Hilfeleistung zu Freiheitsstrafen verurteilt. Anschließend verlangte F von A und B Zahlung eines Schmerzensgeldes. A erkannte die Forderung an, B weigerte sich. Hat F gegen B einen Anspruch auf Schmerzensgeld ?

Da B sich nicht an der Vergewaltigung beteiligt hat, scheidet ein Anspruch gegen ihn aus § 823 I BGB aus. Anspruchsgrundlage können §§ 823 II i. V. mit 253 II BGB sein.

I. Dann müsste B ein zu Gunsten der F bestehendes Schutzgesetz verletzt haben.

1. Schutzgesetze können auch Straftatbestände des StGB sein, was der Fall ist z. B. bei §§ 185 ff., 240, 253, 263 (Palandt/Sprau § 823 Rdnr. 69). Im vorliegenden Fall kommt § 323 c StGB als verletztes Schutzgesetz in Betracht.

a) BGH NJW 2004, 1949 unter a): Schutzgesetz i. S. von § 823 II BGB ist eine Rechtsnorm, die nach Zweck und Inhalt zumindest auch dazu dienen soll, den Einzelnen oder einzelne Personenkreise gegen die Verletzung eines bestimmten Rechtsguts zu schützen. Dafür kommt es nicht auf die Wirkung, sondern auf Inhalt und Zweck des Gesetzes sowie darauf an, ob der Gesetzgeber bei Erlass des Gesetzes gerade einen Rechtsschutz, wie er wegen der behaupteten Verletzung in Anspruch genommen wird, zu Gunsten von Einzelpersonen oder bestimmten Personenkreisen gewollt hat. Es muss die Verhinderung des eingetretenen Schadensfalls persönlich und sachlich unter den Schutzzweck der Norm fallen. Dabei genügt, dass die Norm auch das in Frage stehende Interesse des Einzelnen schützen soll, mag sie auch in erster Linie das Interesse der Allgemeinheit im Auge haben. Andererseits soll der Anwendungsbereich von Schutzgesetzen nicht ausufern. Deshalb reicht es nicht aus, dass der Individualschutz durch Befolgung der Norm als ihr Reflex objektiv erreicht werden kann; er muss vielmehr im Aufgabenbereich der Norm liegen (vgl. etwa BGHZ 100, 13 [14 f.]; 103, 197 [199]…). Dahingehende Ausführungen enthält auch das Urteil des OLG Düsseldorf S. 3640 unter b). Allerdings lässt sich in Zweifelsfällen nur schwer feststellen, ob die danach geforderten Voraussetzungen vorliegen oder nicht vorliegen.

b) Im vorliegenden Fall ist, wie das OLG a. a. O. darlegt, streitig, ob der Straftatbestand der unterlassenen Hilfeleistung Schutzgesetzcharakter hat. Teilweise wird vertreten, § 323 c StGB diene lediglich dem Interesse der Allgemeinheit an solidarischer Schadensabwehr in akuten Notlagen (OLG Frankfurt NJW-RR 1989, 794/5). Auch sei nicht gerechtfertigt, dass derjenige, der bloß eine Hilfe unterlässt, genau so haftet wie der Täter (Staudinger/Schäfer, BGB, 12. Bearb., § 823 Rdnr. 591). Damit wird der Schutzgesetzcharakter verneint.

c) OLG S. 3640/1 unter b): Nach anderer Ansicht dient § 323 c StGB gerade auch dem Schutz des Einzelnen (Mertens, in: MünchKomm, 3. Aufl., § 823 Rdnr. 366; Soergel/Zeuner, BGB, 12. Aufl. 1998, § 823 Rdnr. 158…). Auch in der strafrechtlichen Kommentarliteratur wird überwiegend die Auffassung vertreten, die Norm schütze Individualrechtsgüter, die auf Grund einer Notlage die Gefahr einer Beeinträchtigung bzw. eines Schadens ausgesetzt seien (Tröndle/Fischer, StGB, 52. Aufl., § 323 c Rdnr. 1;… Cramer/Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder, StGB, 26. Aufl., § 323 c Rdnr. 1). Das OLG schließt sich der Auffassung an, die § 323 c StGB als Schutzgesetz i. S. von § 823 II BGB begreift. Denn der Schutz der Individualrechtsgüter des durch einen Unglücksfall Betroffenen ist nicht nur Rechtsreflex, sondern jedenfalls auch Ziel der Norm. Auch aus den Gesetzesmaterialien ist das Ziel erkennbar, individuelle Rechtsgüter des in Not Geratenen zu schützen…

Mit der Anerkennung des § 323 c StGB als Schutzgesetz wird die zivilrechtliche Haftung nicht in unzulässiger Weise ausgedehnt. Soweit die Gegenansicht dies geltend macht, lässt sie unbeachtet, dass die zivilrechtliche Haftung durch das Erfordernis des Eintritts des Schadens und der Zurechnung einzelner Schäden als Folge der verletzten Hilfspflicht ausreichend begrenzt ist. Andererseits ist es auch nicht unbillig, denjenigen mit einer zivilrechtlichen Haftung zu überziehen, der durch die Erfüllung seiner Hilfspflicht Schaden von anderen abwenden kann, wenn diese auf Grund seiner Untätigkeit tatsächlich Beeinträchtigungen ihrer Rechtsgüter erleiden. Das weitere Gegenargument, dass bei Annahme eines Schutzgesetzes der nicht Helfende genau so haften würde wie der Täter, entkräftet das OLG damit, der aus §§ 823 II BGB, 323 c StGB in Anspruch Genommene habe einen Rückgriffsanspruch aus §§ 840, 426 BGB gegen den Täter. Somit ist § 323 c ein Schutzgesetz zu Gunsten des in Not Geratenen, im vorliegenden Fall zu Gunsten der F.

2. B hat dieses Schutzgesetz schuldhaft verletzt, wie sich aus der strafgerichtlichen Verurteilung ergibt (OLG S. 3640 unter a).

II. Auch die Voraussetzungen des 253 II BGB liegen vor, weil die unterlassene Hilfeleistung des B zu einer Verletzung der sexuellen Selbstbestimmung der F geführt hat. Folglich ist der Schmerzensgeldanspruch der F gegen B begründet. Was die Höhe des Schmerzensgeldes betrifft, hat das OLG im Originalfall das Schmerzensgeld unter Berücksichtigung der starken Alkoholisierung der Beteiligten zum Tatzeitpunkt auf 4.000 € festgelegt.

Zusatz: In der oben I 1a) zitierten Entscheidung BGH NJW 2004, 1949 war Klägerin eine Firma F, die Warenautomaten aufgestellt hatte. Der Beklagte B vertrieb Kunststoffmarken, die als Auslöser für Einkaufswagen bestimmt waren („Eikachips“). Die Chips waren so gestaltet, dass sie nach Größe und Gestaltung mit echten Münzen verwechselt werden konnten, so dass die Automaten der F diese wie Münzen akzeptierten. Nach der MedaillenVO von 1974 sind Herstellung und Vertrieb von Marken, die mit Münzen verwechselt werden können, verboten. Nachdem sich in den Warenautomaten der F vielfach Eikachips statt Geld fanden und dies zu einem beträchtlichen Schaden bei F führte, klagte diese gegen B auf Schadensersatz aus § 823 II BGB. Die entscheidende Frage war, ob die MedaillenVO ein Schutzgesetz zu Gunsten der Automatenaufstellern ist. Der BGH hat das bejaht und den Schutzgesetzcharakter im Wesentlichen auf die Entstehungsgeschichte gestützt, so S. 1950 unter (2). Auf S. 1951 führt der BGH abschließend aus: …andere möglicherweise geschützte Interessen sind bei der vorliegenden Fallgestaltung nicht ersichtlich, und der Schutz ist…auf die mögliche Verwendung der verbotenen Medaillen und Marken bei der Automatenbenutzung geradezu zugeschnitten. Der Schadensersatzanspruch der F gegen B ist folglich begründet.

Zusammenfassung