Bearbeiter: RA Prof. Dieter Schmalz

Widerstand gegen die Staatsgewalt, genauer: gegen Vollstreckungsbeamte, § 113 StGB. Rechtmäßigkeit der Diensthandlung, § 113 III StGB; strafrechtlicher Rechtmäßigkeitsbegriff. Gefährliche Körperverletzung, §§ 223, 224 StGB. Voraussetzungen für ein Einschreiten gegen Versammlungsteilnehmer; abschließende Regelung durch das VersG; § 15 VersG

BVerfG Beschluss vom 30. 4. 2007 (1 B vR 1090/06) www.bundesverfassungsgericht.de

Fall (Megaphon gegen CDU-Veranstaltung)

A ist ein bekannter Anarchist, Gegner des herrschenden Wirtschafts- und Gesellschaftssystems und Wahlgegner. Für seine Aktivitäten stützt er sich auf eine „Projektwerkstatt“ in S. Während des Bundestagswahlkampfs wurde diese am 10. 1. von der Polizei durchsucht, dort benutzte Computer wurden beschlagnahmt. Am folgenden 11. 1. fand in der Innenstadt von S eine Wahlveranstaltung der CDU u. a. mit dem ihr angehörenden Innenminister des Landes L und dem für S zuständigen Polizeipräsidenten statt. A begab sich mit zwölf weiteren Personen zu dem aufgebauten Stand und näherte sich ihm bis etwa zehn Meter. Dort wurden Transparente ausgerollt, und A hielt in Richtung der CDU-Veranstaltung mittels eines mitgebrachten Megaphons eine Rede. Transparente und Redetext prangerten die vermeintlich rechtswidrige Durchsuchung der Projektwerkstatt als unerhörte Übergriffe der Polizei an. Nach etwa zehn Minuten teilten Innenminister und Polizeipräsident dem anwesenden Einsatzleiter E der Polizei mit, dass man sich „das“ - gemeint war die Aktion des A - nicht länger bieten lasse.

Nachdem E Verstärkung geholt hatte, forderte er A auf, das Megaphon wegzulegen, andernfalls werde es ihm abgenommen. A weigerte sich und klammerte sich so stark an das Megaphon, dass es den Polizeibeamten nicht gelang, es ihm wegzunehmen. E drohte A nun an, wenn er weiterhin die Herausgabe verweigere, werde er in Gewahrsam genommen. Nachdem auch diese Androhung erfolglos blieb, zogen E und ein weiterer Beamter den A zu einem in der Nähe stehenden Polizeifahrzeug, um ihn abzutransportieren. Als A in das Fahrzeug gehoben werden sollte, befand sich E in gebückter Haltung dicht vor A. A hatte schwere Stiefel an, die vorn mit Eisen verstärkt waren. Mit diesen trat er E vor die Stirn, zwar nicht mit großer Wucht, aber doch schmerzhaft. E griff sich kurz an die leicht blutende Stirn, erfasste danach die Füße des A, der mit Hilfe anderer Polizeibeamter in das Fahrzeug gebracht, zur Polizeiwache gefahren und dort bis zum Ende der CDU-Veranstaltung in Gewahrsam gehalten wurde. Strafbarkeit des A ?

A. Durch den Fußtritt gegen den Kopf des E könnte A sich wegen Widerstandes gegen Vollstreckungsbeamte (§ 113 StGB) strafbar gemacht haben.

I. Die Voraussetzungen für den objektiven Tatbestand ergeben sich aus § 113 I StGB.

1. E war Einsatzleiter der Polizei und damit ein zur Vollstreckung von Gesetzen berufener Amtsträger (vgl. § 11 I Nr. 2a StGB). Die Entfernung des A war die Vornahme einer solchen Amtshandlung.

2. A hat dem E mit Gewalt Widerstand geleistet und ihn zugleich tätlich angegriffen, als er ihm während der Amtshandlung mit dem Schuh vor die Stirn trat in der Absicht, sich dieser Amtshandlung zu widersetzen.

Der Tatbestand des § 113 I ist somit erfüllt.

II. Nach § 113 III 1 StGB ist die Tat nicht nach dieser Vorschrift strafbar, wenndie Diensthandlung nicht rechtmäßig war.

1. Wird vom Wortlaut „nicht rechtmäßig“, ausgegangen, ist die Rechtmäßigkeit der Maßnahmen des E zu prüfen, die sich nach Verwaltungsrecht richtet. Ein solcher verwaltungsrechtlicher Rechtmäßigkeitsbegriff (so z. B. Joecks, Studienkommentar zum StGB, 5. Aufl., § 113 Rdnrn. 25, 27) entspräche dem Prinzip von der Einheit der Rechtsordnung.

a) Verwaltungsrechtlich richten sich die Maßnahmen des E nach Versammlungsrecht, wenn eine Versammlung vorlag. BVerfG Rdnr. 19: Die vom Beschwerdeführer aus Protest gegen die Durchsuchung der „Projektwerkstatt“ initiierte Veranstaltung am 11. 1. war eine örtliche Zusammenkunft mehrerer Personen zur gemeinschaftlichen, auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Erörterung oder Kundgebung und damit eine Versammlung (vgl. BVerfGE 104, 92 [104]). Für das begriffliche Vorliegen einer Versammlung ist unerheblich, ob sie anmeldepflichtig ist (§ 14 VersG) oder ob sie als Spontanversammlung davon befreit ist.

b) BVerfG Rdnr. 43: Maßnahmen der Gefahrenabwehr gegen Versammlungen richten sich nach dem Versammlungsgesetz. Dieses Gesetz geht in seinem Anwendungsbereich als Spezialgesetz dem allgemeinen Polizeirecht vor (vgl. BVerfGK 4, 154 [158]). Daraus ergeben sich besondere Anforderungen für einen polizeilichen Zugriff auf Versammlungsteilnehmer… Für Beschränkungen der Versammlungsteilnahme stehen der Polizei lediglich die abschließend versammlungsgesetzlich geregelten teilnehmerbezogenen Maßnahmen zu Gebote…

c) Solche Maßnahmen sind bei einer bestehenden Versammlung die Auflösung nach § 15 III VersG oder - als sog. Minus-Maßnahme - der Ausschluss einzelner Teilnehmer.

aa) BVerfG Rdnr. 45: Auflösung ist die Beendigung einer bereits durchgeführten Versammlung mit dem Ziel, die Personenansammlung zu zerstreuen. Der Schutz der Versammlungsfreiheit fordert, dass die Auflösungsverfügung eindeutig und nicht missverständlich formuliert ist. Eine solche hinreichend eindeutige Auflösungsverfügung wurde im vorliegenden Fall nicht ausgesprochen. Insbesondere wurden die anderen Versammlungsteilnehmer nicht angesprochen, obwohl auch diese von der Auflösung betroffen gewesen wären und bei weiterer Teilnahme an einer aufgelösten Versammlung von Bußgeld bedroht waren (§ 29 I Nr. 1 VersG).

bb) BVerfG Rdnr. 47: Der Ausschluss eines Versammlungsteilnehmers ist ein belastender Verwaltungsakt, durch den dem Betroffenen verboten wird, weiter an der Versammlung teilzunehmen. Auch die Ausschlussverfügung muss hinreichend bestimmt sein… Dem Teilnehmer soll damit Gelegenheit gegeben werden, die Grundrechtsausübung ohne unmittelbaren Polizeizwang zu beenden, indem er sich aus der Versammlung von sich aus entfernt. Auch eine solche Ausschlussverfügung lag hier nicht vor. Hinreichend deutlich hat E dem A lediglich gesagt, dass er das Megaphon abgeben solle, widrigenfalls werde er in Gewahrsam genommen. Eine Erklärung, die sich auf die weitere Teilnahme oder Nichtteilnahme des A an der Versammlung bezog, hat E nicht abgegeben. Allerdings könnte in der Androhung der Ingewahrsamnahme schlüssig die Ankündigung gesehen werden, dass A dann nicht mehr an der Versammlung werde teilnehmen können. Eine schlüssige Erklärung reicht aber für Maßnahmen gegenüber einer Versammlung nicht aus. Es ist der Polizei ohne weiteres zuzumuten, dass sie Maßnahmen, durch die der Bürger am weiteren Gebrauch eines wichtigen Grundrechts gehindert wird, ausdrücklich erklärt.

c) A stand also weiter unter dem Schutz der Versammlungsfreiheit (Art. 8 GG, § 1 VersG) und des Versammlungsgesetzes als Spezialregelung. Die von E dem A gegenüber vorgenommenen Maßnahmen des Platzverweises und der Ingewahrsamnahme - ohne Auflösung der Versammlung oder Ausschluss des A - waren nicht zulässig. Verwaltungsrechtlich war die Amtshandlung des E nicht rechtmäßig.

2. Nach herrschender Rspr. und Lit. gilt für § 113 III StGB aber ein eigenständiger strafrechtlicher Rechtmäßigkeitsbegriff (vgl. Tröndle/Fischer, StGB, 54. Aufl. 2007, § 113 Rdnr. 9, 11; BGHSt 21, 334, 363; KG NStZ 2006, 424/5). Sein Zweck ist, Vollstreckungsbeamte in einer unsicheren und spannungsgeladenen Lage, bei der gewisse Fehleinschätzungen möglich sind, gleichwohl vor Gewaltanwendung zu schützen.

a) Das BVerfG billigt diesen strafrechtlichen Rechtmäßigkeitsbegriff unter verfassungsrechtlichem Aspekt:

aa) Rdnr. 26: Dabei ist es grundsätzlich verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dass die Fachgerichte im Rahmen des § 113 Abs. 3 StGB von einem eingeschränkten Rechtmäßigkeitsmaßstab ausgehen und nicht verlangen, dass alle in dem jeweiligen in Bezug genommenen Rechtsgebiet normierten Anforderungen an die Rechtmäßigkeit der Diensthandlung erfüllt sein müssen (zum Stand der strafrechtlichen Diskussion vgl. Fischer/Tröndle, StGB, 54. Aufl. 2007, Rdnr. 9 ff. zu § 113 m. w. N.).

bb) Rdnr. 36: Verfassungsrechtlich ist es nicht zu beanstanden, wenn solche Rechtsfehler der handelnden Hoheitsträger bei der Festsetzung einer Sanktion nach § 113 StGB außer Acht bleiben, die den Besonderheiten der Situation der konkreten Diensthandlungen, etwa einer erheblichen Unübersichtlichkeit oder einer spannungsreichen Lage, geschuldet sind… Andernfalls wäre der vom Gesetzgeber in verfassungsrechtlich unbedenklicher Weise durch § 113 StGB beabsichtigte Schutz der Amtsträger erheblich abgeschwächt.

 b) Andererseits muss es, damit § 113 III StGB nicht seine Bedeutung verliert, Rechtmäßigkeitsanforderungen geben, bei deren Verletzung Rechtswidrigkeit i. S. des § 113 III StGB bejaht wird und der Handelnde straflos bleibt. Solche Rechtmäßigkeitsanforderungen sind: die sachliche und örtliche Zuständigkeit des handelnden Amtsträgers, die Wahrung wesentlicher Förmlichkeiten, z. B. das Vorliegen eines Titels bei einer Vollstreckung, und eine pflichtgemäße Prüfung der Eingriffsvoraussetzungen. Allgemeiner BVerfG Rdnr. 37: Entscheidend ist, ob der Beamte im Bewusstsein seiner Verantwortung und unter bestmöglicher pflichtgemäßer Abwägung aller ihm erkennbaren Umstände die Handlung für nötig und sachlich gerechtfertigt halten durfte (folgen Nachw.). Das BVerfG verweist auch auf folgende ähnliche - und kürzere - Formulierung: Die Amtshandlung muss sich objektiv im Rahmen des Vertretbaren gehalten haben.

c) Somit ist im vorliegenden Fall zu prüfen, ob die Amtshandlung des E trotz ihrer verwaltungsrechtlichen Rechtswidrigkeit noch den vorstehend unter b) dargestellten Anforderungen entsprach. Örtlich und sachlich zuständig war E als Einsatzleiter. Wesentliche Förmlichkeiten galten allenfalls insoweit, als A anzuhören war, was geschehen ist. E müsste auch die Eingriffsvoraussetzungen pflichtgemäß bzw. unter Abwägung aller ihm erkennbaren Umstände geprüft haben. Jedoch hat E offenbar überhaupt nicht erkannt, dass er in eine Versammlung eingegriffen hat und dass deshalb das Versammlungsgesetz anwendbar und vorrangig war. BVerfG Rdnr. 49: Die Kenntnis der… versammlungsrechtlichen Regeln unter Einschluss der besonderen Voraussetzungen von Maßnahmen, die eine Versammlungsteilnahme unmöglich machen, kann von einem verständigen Amtsträger verlangt werden. Kennt er sie nicht…, darf dies nicht dem betroffenen Grundrechtsträger angelastet werden; Art. 8 Abs. 1 GG gebietet, eine derartige Vollstreckungshandlung grundsätzlich als rechtswidrig im Sinne des § 113 Abs. 3 Satz 1 StGB anzusehen.

Somit war im vorliegenden Fall das Handeln des E gegenüber A trotz Anwendung des großzügigeren strafrechtlichen Rechtmäßigkeitsbegriffs rechtswidrig im Sinne des § 113 III StGB. A hat sich nicht wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte strafbar gemacht.

B. A könnte sich wegen gefährlicher Körperverletzung nach §§ 223 I, 224 I Nr. 2 StGB strafbar gemacht haben.

I. Indem A den E mit dem Fuß gegen die Stirn getreten und ihm dadurch eine schmerzhafte und leicht blutende Wunde zugefügt hat, hat er ihn körperlich misshandelt und an der Gesundheit geschädigt. Hierfür hat A sich seiner schweren Stiefel bedient, die mit Eisen verstärkt und geeignet waren, erhebliche Verletzungen zuzufügen, weshalb sie als gefährliches Werkzeug i. S. des § 224 I Nr. 2 StGB einzuordnen waren. Folglich hat A den objektiven Tatbestand der gefährliche Körperverletzung erfüllt.

II. Der für den subjektiven Tatbestand erforderliche Vorsatz des A ist zu bejahen, weil ein absichtlicher Tritt mit einem eisenbewehrten Stiefel gegen den Kopf die Absicht zum Ausdruck bringt, auch eine Verletzung zu verursachen.

III. Die Tat des A war nicht rechtswidrig, wenn A in Notwehr (§ 32 I StGB) gehandelt hat.

1. Hierfür müsste ein rechtswidriger Angriff des E vorgelegen haben. E hat A zwangsweise zu dem Polizeiauto gebracht und ihn dabei in seiner körperlichen Bewegungsfreiheit beschränkt, was als Angriff zu werten ist. Rechtswidrig war das Handeln des E, weil dieser sich, wie dargelegt (A II 1), über die Vorschriften des Versammlungsgesetzes hinweggesetzt hat.

2. Die Verteidigungshandlung des A müsste erforderlich gewesen sein. Das BVerfG hatte diese Frage allerdings nicht zu entscheiden, weil die Erforderlichkeit sich nicht nach Verfassungsrecht richtet, sondern nach den Umständen des konkreten Falles; das BVerfG konnte sie dem Strafgericht überlassen, an das der Fall zurückverwiesen wurde. Es hat aber unter Rdnr. 54 Hinweise für die weitere Behandlung gegeben, die dahin gehen, dass sich aus der Einstufung der Handlung des E als rechtswidrig keineswegs ergeben müsse, dass auch Notwehr vorliege. Auf dieser Linie liegt es, wenn die Erforderlichkeit der Handlung des A verneint wird: E hat, für A erkennbar, in Ausübung seines Amtes und zum Schutz der Wahlveranstaltung der CDU gehandelt. Das Verkennen der versammlungsrechtlichen Anforderungen führte zwar zur Rechtswidrigkeit seines Verhaltens, war aber kein so gravierendes Fehlverhalten, dass es Anlass für einen Angriff auf seine körperliche Integrität hätte sein können. Vielmehr war es A zuzumuten, statt mit einem körperlichen Angriff auf die Gesundheit des E sich mit einer (Feststellungs-)Klage vor dem Verwaltungsgericht zu verteidigen. Es ist auch zu bedenken, dass keine Aussicht für A bestand, durch den Tritt vor den Kopf des E die Ingewahrsamnahme wirklich abwehren zukönnen. Als „Verteidigungshandlung“ war der Angriff des A auf die körperliche Unversehrtheit des E deshalb grob unverhältnismäßig (vgl. auch den „Obstdiebe-Fall“ RGSt 55, 82).

Die Handlung des A war somit nicht durch Notwehr gerechtfertigt, sondern rechtswidrig.

IV. Da auch die Schuld des K nicht zweifelhaft ist, hat A sich wegen gefährlicher Körperverletzung strafbar gemacht.

Zusammenfassung