Bearbeiter: Prof. Dr. Rainer Strauß
Die beiden folgenden Fälle haben Tötungsdelikte zum Gegenstand. Dabei haben die Opfer die Täter in so massive Bedrängnis gebracht, dass sie sich zu der Tötung entschlossen und dabei die momentane Arglosigkeit der Opfer ausnutzten. Bei dieser, nicht seltenen Tatsituation lassen sich sowohl das Mordmerkmal der Heimtücke als auch Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe behandeln.
► Mord, § 211 StGB. ► Notwehr, rechtfertigender und entschuldigender Notstand, §§ 32, 34, 35 I und II StGB
BGH Urteil vom 25. 3. 2003 (1 StR 483/02) www.Bundesgerichtshof.de
Fall (Todesstrafe für Familientyrannen)
A, Mitglied einer äußerst gewalttätigen Rockergruppe, lernte Frau F kennen und heiratete sie. Alsbald nach der Eheschließung wurde A gegenüber F tätlich, sobald sie seinen „Befehlen“ nicht unverzüglich nachkam oder etwas im täglichen Ablauf nicht seinen Vorstellungen entsprach. Er ohrfeigte sie, versetzte ihr, auch während der Schwangerschaft, Fußtritte in den Bauch und Faustschläge ins Gesicht. Mehrfach stieß er sie zu Boden und trat sie mit Springerstiefeln, so dass sie wegen einer Nierenquetschung in einer Klinik behandelt werden musste. Quälereien und Demütigungen fanden auch in Anwesenheit der anderen Mitglieder der Rockergruppe statt. Im Laufe der Jahre wurden die Gewalttätigkeiten immer häufiger und heftiger. Auch die beiden Töchter bekamen jetzt regelmäßig Schläge von A. Nach 15 Jahren Gewalt und Demütigungen hielt F, die körperlich und seelisch zunehmend verfiel, ihre Situation und die ihrer Töchter für vollkommen ausweglos. Eine Trennung von A hielt sie für nicht möglich, weil A ihr angekündigt hatte, er und seine Freunde würden sie überall aufspüren und zurückbringen. Sich an die Polizei zu wenden, hatte sie nicht gewagt, weil A ihr für diesen Fall angedroht hatte, dann würde er selbst aus dem Gefängnis heraus seine Freunde veranlassen, sie zu töten. Nachdem A in den letzten Tagen wieder besonders gewalttätig geworden war, kam F zu dem Ergebnis, dass nur die Tötung des A für sie und ihre Töchter eine Rettung bringen könne. Während A schlief, fand sie in der Wohnung dessen Revolver. Sie ging ins Schlafzimmer und erschoss A. Hat F sich strafbar gemacht ?
I. F hat den Tatbestand des Mordes (§ 211 StGB) verwirklicht. Sie hat A vorsätzlich getötet und dabei heimtückisch gehandelt, indem sie die Arg- und Wehrlosigkeit ihres Ehemannes in feindlicher Willensrichtung bewusst zur Tötung ausgenutzt hat. BGH unter II 2: A hatte seine Arglosigkeit gleichsam „mit in den Schlaf genommen“ (vgl. BGHSt 23, 119, 121)… Die Angeklagte hatte in der Vergangenheit die Demütigungen und Misshandlungen durch ihren Mann ohne Gegenwehr über sich ergehen lassen. Es lag deshalb außer Betracht, dass dieser zum Zeitpunkt seines Einschlafens mit einer erheblichen körperlichen Attacke durch die Angeklagte gerechnet hätte. Sie erschoss ihren Mann gezielt im Schlaf, weil sie es nicht wagte, ihm offen feindselig gegenüberzutreten.
II. Die Handlung der F könnte gerechtfertigt sein.
(1) Notwehr (§ 32 StGB)
a) A war massiven rechtswidrigen Angriffen des A ausgesetzt, dies über viele Jahre hinweg.
b) Während des Schlafes des A war ein solcher Angriff aber nicht gegenwärtig. Eine präventive Notwehr ist nicht anzuerkennen (BGH NJW 2003, 1958, im folgenden Fall). Notwehr scheidet deshalb mangels eines gegenwärtigen Angriffs aus.
Allerdings erscheint die Annahme einer Dauergefahr nicht unvertretbar. In diesem Fall würden Einschränkungen des Notwehrrechts, etwa auf Grund enger persönlicher Beziehungen (dazu Zieschang Jura 2003, 527) wegen der besonderen Gewalttätigkeit des A nicht entgegen stehen.
(2) Rechtfertigender Notstand (§ 34 StGB)
Ob eine gegenwärtige, nicht anders abzuwendende Gefahr bestand, kann an dieser Stelle noch offen bleiben. Denn (so BGH unter II 3) die Annahme eines rechtfertigenden Notstandes setzt eine Interessenabwägung voraus. Diese muss zum Ergebnis haben, dass das geschützte Interesse das beeinträchtigte wesentlich überwiegt (§ 34 Satz 1 StGB). Es liegt auf der Hand, dass die hier in Rede stehenden zu schützenden Rechtsgüter, die körperliche Unversehrtheit der Angeklagten und der gemeinsamen Töchter, das durch die Tat beeinträchtigte Interesse, nämlich das Leben des A als vernichtetes Rechtsgut, nicht überwogen. Das Ergebnis der Abwägung würde selbst dann nicht zugunsten der Angeklagten ausfallen, wenn eine zugespitzte Situation mit akuter Lebensgefahr für einen Familienangehörigen unterstellt würde (vgl. zur sog. Abwägung von „Leben gegen Leben“: Lenckner/Perron in Schönke/Schröder StGB 26. Aufl. § 34 Rdn. 30, 31; siehe weiter zur Frage einer Rechtfertigung der Tötung eines „Haus- oder Familientyrannen“ in zugespitzter Gefahrensituation: Lackner/Kühl StGB 24. Aufl. § 32 Rdn. 4, § 34 Rdn. 9…).
F hat somit rechtswidrig gehandelt.
III. F müsste A schuldhaft getötet haben.
(3) Eine Überschreitung des Notwehr aus Furcht (§ 33 StGB) scheidet aus, weil dies eine Notwehrlage und eine Verteidigungshandlung voraussetzt.
(4) Entschuldigender Notstand (§ 35 I StGB)
a) BGH II 4 a) aa): Nach st. Rspr. ist eine Gefahr im Sinne des § 35 Abs. 1 StGB ein Zustand, in dem auf Grund tatsächlicher Umstände die Wahrscheinlichkeit des Eintritts eines schädigenden Ereignisses besteht (vgl. nur BGHSt 18, 271). Dazu zählt auch eine Dauergefahr, bei der ein länger andauernder gefahrdrohender Zustand jederzeit in einen Schaden umschlagen kann. Nach 15 Jahren Gewaltausübung durch A mit zunehmender Schärfe war mit Sicherheit damit zu rechnen, dass es nach dem Aufwachen des A wieder zur Gewaltausübung kommen würde. Insoweit unterscheidet sich der Anknüpfungspunkt des entschuldigenden Notstandes, die gegenwärtige Gefahr, von demjenigen der Notwehr, die einen gegenwärtigen Angriff voraussetzt.
b) Die Gefahr müsste nicht anders als durch die Tötung des A abwendbar gewesen sein. BGH unter cc): Die Gefahr wäre dann nicht anders als durch die Notstandstat abwendbar gewesen, wenn diese das einzig geeignete Mittel gewesen wäre, der Notstandslage wirksam zu begegnen… Als anderweitige Abwendungsmöglichkeiten kamen hier ersichtlich die Inanspruchnahme behördlicher Hilfe oder der Hilfe karitativer Einrichtungen in Betracht, namentlich der Auszug der Angeklagten mit den Töchtern aus dem gemeinsamen Haus und die Übersiedlung etwa in ein Frauenhaus, aber auch das Suchen von Zuflucht bei der Polizei mit der Bitte um Hilfe im Rahmen der Gefahrenabwehr. Es gibt inzwischen das zivilrechtliche Gewaltschutzgesetz (BGBl I 2001, 3513) und vor allem die polizeirechtliche Standardmaßnahme der Wohnungsverweisung und des Rückkehrverbots (z. B. § 34a PolG NRW). Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass derartige Möglichkeiten so ungeeignet sind, dass der tyrannisierten Ehefrau nur die Möglichkeit bleibt, den Ehemann zu erschießen. Dass A anderslautende Drohungen ausgesprochen hat, ändert nichts daran, dass objektiv die Möglichkeit staatlicher Hilfe und damit einer anderweitigen Abwendung der Gefahr bestand. BGH: Die Angekl. hat indessen nicht versucht, sich auf diese Weise aus ihrer bedrängten Lage zu befreien. Somit scheidet § 35 I aus.
(5) Irrige Annahme eines entschuldigenden Notstandes (§ 35 II StGB)
a) § 35 I war daran gescheitert, dass die Gefahr für F und ihre Töchter objektiv anders abwendbar war. Das hatte F jedoch nicht erkannt. Sie war der Überzeugung, ihr könne niemand anders helfen, ihre Lage sei ausweglos. Damit hat sie irrig einen Umstand angenommen, bei dessen Vorliegen ihre andauernde massive Gefährdung nicht anders abgewendet werden konnte.
b) Der Irrtum der F müsste unvermeidbar gewesen sein. Grundsätzlich muss der Täter, ehe er auf Grund irrtümlicher Annahmen einen anderen Menschen erschießt, sich mit anderen beraten und gewissenhaft prüfen, ob wirklich die Tötung die einzig mögliche Alternative zur Abwendung der Gefahr ist (genauer dazu BGH unter III 1). Nach obigem Sachverhalt hatte F aber offenbar keinen anderen Menschen, der ihr einen anderen Ausweg hätte aufzeigen können; sie selbst konnte den anderen Ausweg nicht finden. Deshalb ist die Annahme eines nicht vermeidbaren Irrtums gerechtfertigt. Danach hat F nicht schuldhaft gehandelt und sich nicht strafbar gemacht.
(Im Originalfall hat der BGH den Fall zurückverwiesen, weil das Landgericht weder § 35 I noch II geprüft hatte. Es hatte F wegen Mordes verurteilt, aber von der Möglichkeit (6) Gebrauch gemacht, die Strafe wegen außergewöhnlicher schuldmindernder Umstände nach den Grundsätzen BGHSt 30, 105 entsprechend § 49 I Nr. 1 StGB zu mildern. Dazu weist der BGH unter III 2 darauf hin, dass diese Möglichkeit voraussetzt, dass andere gesetzliche Milderungsgründe nicht eingreifen und dass auf jene außerordentliche Möglichkeit nicht voreilig ausgewichen werden darf.)
Zusammenfassung