Bearbeiter: Dieter Schmalz

§ 211 StGB; Mordmerkmale „mit gemeingefährlichen Mitteln“ und „heimtückisch“. Rücktritt vom beendeten Versuch (§ 24 I 1 Fall 2 StGB) im Falle „suboptimaler Erfolgsverhinderung“. Gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr, § 315 b StGB

BGH Urteil vom 16. 3. 2006 (4 StR 594/05) www.bundesgerichtshof.de

 Fall (Selbstmörderischer Geisterfahrer)

Der damals 20jährige A hatte an einer Feier seines Fußballvereins teilgenommen, bei der man ihm, als er am Tisch eingeschlafen war, ein Büschel Haare abgeschnitten hatte. Darüber war er so verärgert und wütend, dass er sich umbringen wollte. Er fuhr mit einem Opel Zafira, der seiner Familie gehörte, gegen 3 Uhr auf die A 3 in Richtung Regensburg. Bei Schwarzach verließ er die Autobahn, löste den Sicherheitsgurt, schaltete das Licht aus und wechselte zur Auffahrt, von der aus er aber in Gegenrichtung auf die von ihm vorher verlassene Spur fuhr. Auf der Standspur beschleunigte er sein Auto auf mindestens 117 km/h und wechselte, als er ein Fahrzeug in etwa 500 m Entfernung in Richtung Regensburg entgegenkommen sah (es war ein von P gefahrener VW Passat), auf die – von dem VW Passat aus betrachtet – rechte Spur, um einen Frontalzusammenstoß zu provozieren. Als der VW Passat schon dicht vor ihm war, gab A seine Selbstmordabsicht auf, bremste sein Fahrzeug ab und schaltete das Licht ein, um den Fahrer des Passat zu warnen. Dieser versuchte noch nach links auszuweichen, konnte aber – ebenso wie A – einen Zusammenstoß nicht mehr verhindern. Die Ausweichreaktionen von A und P führten dazu, dass die Fahrzeuge nicht frontal, sondern jeweils mit ihrem rechten Frontbereich zusammenstießen. In dem Passat saßen sechs Personen. Der Beifahrer, seine hinter ihm sitzende Ehefrau und die daneben sitzende Tochter wurden getötet. P und seine hinter ihm sitzenden Töchter überlebten schwer verletzt. A erlitt nur leichtere Verletzungen. Ein nachfolgender PKW konnte durch eine Vollbremsung verhindern, dass er in die kollidierten Fahrzeuge fuhr.

Strafbarkeit des A ?

A unterliegt nach § 1 II 2 JGG noch dem Jugendstrafrecht, da er bei Begehung der Tat noch nicht 21 Jahre alt war. Für die Strafbarkeit gilt aber das allgemeine Strafrecht (§§ 2, 4 JGG).

I. A könnte sich dadurch, dass er einen Zusammenstoß herbeigeführt hat, bei dem drei der Insassen des Passat getötet wurden, wegen Mordes (§ 211 StGB) strafbar gemacht haben.

1. A hat durch sein Verhalten den Tod der drei Personen herbeigeführt, die in dem Passat auf der Beifahrerseite gesessen haben. Dabei müsste er vorsätzlich gehandelt haben. Er hat zwar nicht genau gewusst, dass er jemanden töten würde, und hat das auch nicht zum Ziel seines Handelns gemacht. Er hat aber, als er bei beiderseitig hoher Geschwindigkeit einen Zusammenstoß provoziert hat, den Tod der Personen im entgegenkommenden VW Passat billigend in Kauf genommen und deshalb mit bedingtem Vorsatz gehandelt.

2. Es könnte das Mordmerkmal „mit gemeingefährlichen Mitteln“ erfüllt sein. Nach der h. M., der der BGH im vorliegenden Fall folgt, liegt dieses Merkmal vor, wenn der Täter die Wirkung des Mittels nicht sicher auf das von ihm individualisierte Opfer begrenzen kann. (Kann er es begrenzen, liegt bei mehreren Opfern lediglich eine schlichte Mehrfachtötung vor.)

BGH Rdnr. 11/12: Dieses Mordmerkmal kann auch dann erfüllt sein, wenn – wie hier –, ein Tötungsmittel eingesetzt wird, das seiner Natur nach nicht gemeingefährlich ist, sofern das Mittel in der konkreten Tatsituation eine Mehrzahl von Menschen an Leib und Leben gefährden kann, weil der Täter die Ausdehnung der Gefahr nicht in seiner Gewalt hat (vgl. BGH NStZ 2006, 167, 168 m. w. N.)…

 Mit seiner Fahrweise hatte A die sechs Insassen des PKW, mit dem das von ihm geführte Fahrzeug zusammenstieß, aber auch die Insassen weiterer entgegenkommender Kraftfahrzeuge gefährdet. Der Fahrer des nachfolgenden PKW konnte nur durch eine Vollbremsung einen Zusammenstoß vermeiden…Welche und wie viele Personen durch das von A mit einer Geschwindigkeit von mindestens 117 km/h in den Gegenverkehr gelenkte Fahrzeug gefährdet, verletzt und getötet werden konnten, war für A nicht beherrschbar. Dieser hatte durch die für die entgegenkommenden Verkehrsteilnehmer unberechenbare Fahrt „in besonderer Rücksichtslosigkeit“ eine Gefahr für eine unbestimmte Vielzahl von Personen geschaffen. Er hatte es nicht in der Hand, wie viele Menschen als Repräsentanten der Allgemeinheit in den von ihm geschaffenen Gefahrenbereich geraten und durch sein Verhalten gefährdet werden konnten.

Somit hat A, wie ihm auch bewusst war, das Fahrzeug als gemeingefährliches Mittel eingesetzt und damit die drei Insassen getötet.

3. Weiterhin könnte A heimtückisch gehandelt haben.

Heimtückisch handelt der Täter, der die Arg- und Wehrlosigkeit seines Opfers in feindlicher Willensrichtung bewusst zu dessen Tötung ausnutzt. A ist abgedunkelt auf P zugefahren und hat dabei dessen Arg- und Wehrlosigkeit ausgenutzt. BGH Rdnr. 14: Dass A unmittelbar vor der Kollision die Scheinwerfer einschaltete, steht der Annahme der Arg- und Wehrlosigkeit der Insassen des ihm entgegenkommenden PKW nicht entgegen, denn hinsichtlich der Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers ist auf den Beginn des ersten mit Tötungsvorsatz geführten Angriffs abzustellen (vgl. BGHSt 19, 321, 322; BGHR StGB § 211 Abs. 2 Heimtücke 3). A hatte zur Ausführung seines mit bedingtem Tötungsvorsatz geführten Angriffs bereits mit dem gezielten Zufahren mit seinem unbeleuchteten PKW auf das entgegenkommende Fahrzeug angesetzt. Die zu diesem Zeitpunkt gegebene Arg- und Wehrlosigkeit der Fahrzeuginsassen bestand auch nach dem Erkennen der Gefahrensituation fort, denn die danach bis zur Kollision verbliebene Zeitspanne ließ, auch für den Führer des PKW, keine Möglichkeit, dem Angriff auszuweichen (vgl. BGH NStZ 2006, 167, 168 m. w. N.). Auch war A bewusst, dass die Insassen des entgegenkommenden PKW nicht mit Gegenverkehr rechneten und der Führer des Fahrzeugs keine Möglichkeit haben würde, den Unfall zu vermeiden.

 Die Revision des A im vorliegenden Fall hatte das Ausnutzungsbewusstsein mit der Begründung verneint, A sei es nur darum gegangen, seinem eigenen Leben ein Ende zu setzen. BGH Rdnr. 17: Wie der Generalbundesanwalt zutreffend ausgeführt hat, musste A, um den Unfall, wie beabsichtigt, herbeizuführen, die Insassen, insbesondere den Führer des entgegenkommenden Fahrzeugs überraschen, und fuhr deshalb ohne Licht. Die Ausnutzung der Arg- und Wehrlosigkeit der Insassen des entgegenkommenden Fahrzeugs war hier unverzichtbarer Teil des Tatplans.

Somit hat A die drei Insassen auch heimtückisch getötet. Er ist eines mit gemeingefährlichen Mitteln und heimtückisch begangenen dreifachen Mordes schuldig.

II. An den drei überlebenden Insassen könnte A einen dreifachen Mordversuch (§§ 211, 22 StGB) begangen haben.

1. Indem A sich gegenüber diesen Personen genauso verhalten hat wie gegenüber den drei getöteten Personen, war seine Vorstellung auf einen weiteren dreifachen, mit gemeingefährlichen Mitteln und heimtückisch durchgeführten bedingt vorsätzlichen Mord gerichtet. Indem er die Kollision herbeiführte, hatte er auch zu der Tat unmittelbar angesetzt.

2. A könnte strafbefreiend vom Versuch zurückgetreten sein.

a) Die Rücktrittsvoraussetzungen richten sich nach § 24 I 1 1. Fall StGB, wenn ein unbeendeter Versuch gegeben ist. Liegt dagegen ein beendeter Versuch vor, so richten sie sich nach § 24 I 1 2. Fall StGB. Ein beendeter Versuch ist gegeben, wenn der Täter zum Zeitpunkt der letzten Ausführungshandlung glaubt, alles Erforderliche getan zu haben, was zur Herbeiführung des Erfolges notwendig ist. Das lag hier in dem Beschleunigen des eigenen Fahrzeugs und dem Wechseln auf die Spur, auf der der Passat entgegenkam; denn von diesem Augenblick an brauchte A nichts weiteres zu tun; sein Auto wirkte wie ein abgegebener Schuss. Also handelte es sich um einen beendeten Versuch i. S. des § 24 I 1 Fall 2.

b) Dieser führt zur Strafbefreiung, wenn der Täter freiwillig die Vollendung der Tat verhindert. BGH Rdnr. 21: Soweit es die Mordversuche betrifft, sind die Voraussetzungen eines strafbefreienden Rücktritts gemäß § 24 Abs. 2 Halbsatz 2 StGB erfüllt, denn A hat…freiwillig die Vollendung der Tat verhindert. Mit dem Einschalten der Scheinwerfer ermöglichte A dem Führer des entgegenkommenden Fahrzeugs, einen Frontalzusammenstoß zu vermeiden, so dass die Fahrzeuge nur überlappend im Beifahrerbereich kollidierten. Dieses Verhalten des A war mitursächlich dafür, dass die Personen, die im Passat auf der Fahrerseite gesessen hatten, keine tödlichen Verletzungen erlitten. Dass der Täter – wie hier – eine neue Kausalreihe in Gang setzt, die für die Nichtvollendung der Tat mindestens mitursächlich ist, reicht aus (vgl. BGHSt 33, 295, 301 m. w. Nachw.). Ein gemäß § 24 Abs. 1 Halbsatz 2 StGB strafbefreiender Rücktritt setzt nicht voraus, dass der Täter, der die Vollendung der Tat erfolgreich verhindert und dies – wovon das Landgericht zutreffend zu Gunsten des A ausgegangen ist - auch anstrebt, unter mehreren Möglichkeiten der Erfolgsverhinderung die sicherste oder „optimale“ gewählt hat (vgl. BGHSt 48, 147 m. w. Nachw.).… Maßgeblich ist, dass er beim Einschalten der Scheinwerfer – nicht ausschließbar – davon ausging, dass der Unfall dadurch noch vermieden werden konnte (vgl. BGH VRS 61, 262, 263), mithin den für möglich gehaltenen Todeserfolg nicht mehr billigte.

Somit wird A nicht wegen dreifachen Mordversuchs bestraft.

III. Gegenüber den überlebenden Insassen hat A sich wegen einer dreifachen gefährlichen Körperverletzung mittels eines gefährlichen Werkzeugs und einer das Leben gefährdenden Behandlung (§ 224 I Nr. 2 und 5 StGB) strafbar gemacht.

IV. Ferner hat A, indem er auf der Autobahn vorsätzlich auf der falschen Fahrbahnseite fuhr und dadurch andere Verkehrsteilnehmer und Fahrzeuge gefährdete, eine Gefährdung des Straßenverkehrs (§ 315 c I Nr. 2f StGB) begangen.

V. A könnte sich schließlich noch wegen eines gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr gemäß § 315 b I Nr. 2, III StGB strafbar gemacht haben.

1. A hat die Sicherheit des Straßenverkehrs beeinträchtigt, indem er für den entgegenkommenden Passat ein Hindernis für das Weiterfahren bereitet hat, was zu einer Gefährdung des Lebens anderer Verkehrsteilnehmer und ihrer Fahrzeuge geführt hat.

2. Fraglich ist, ob darin der von § 315 b I geforderte Eingriff zu sehen ist.

a) Aus dem Wortlaut dieses Begriffes, aus der Aufzählung in § 315 b I und der Abgrenzung zu § 315 c ergibt sich, dass § 315 b von außen kommende, verkehrsfremde Gefährdungshandlungen meint, während ein Fehlverhalten innerhalb des Verkehrsgeschehens ausschließlich unter § 315 c fällt (vgl. Tröndle/Fischer, StGB, 53. Aufl., § 315 b Rdnr. 9).

b) Davon ist jedoch eine Ausnahme zu machen, wenn der Täter zwar Verkehrsteilnehmer ist, den Verkehrsvorgang aber zu verkehrsfeindlichen Zwecken und mit Schädigungsvorsatz missbraucht (BGHSt 48, 233, 237/8). Ein derartiger Fall ist das Verhalten des A: Sein Fahren auf der falschen Spur war nur noch äußerlich ein Verkehrsvorgang, in Wahrheit hat er das Auto als Mittel zur Selbsttötung und zur untrennbar damit verbundenen Tötung anderer Verkehrsteilnehmer benutzt. Er hat folglich einen Eingriff in den Straßenverkehr begangen.

V. Sämtliche Straftaten stehen in Tateinheit (§ 52 I StGB).

VI. Ergebnis: Das Landgericht hat, vom BGH gebilligt, A wegen

zu einer Jugendstrafe von vier Jahren verurteilt. Die Strafhöhe ergibt sich daraus, dass es im Jugendstrafrecht nicht in erster Linie auf das Gewicht des Tatunrechts ankommt, sondern dass die Strafe vorrangig nach erzieherischen Gesichtspunkten zu bemessen ist (BGH Rdnr. 22). Das Gericht hat ihm ferner die Fahrerlaubnis entzogen, seinen Führerschein eingezogen und eine Sperrfrist für die Neuerteilung der Fahrerlaubnis von zwei Jahren bestimmt.


Zusammenfassung