Bearbeiter: Prof. Dr. Rainer Strauß
Der folgende Fall ist strafrechtlich eher untypisch, weil sein Schwerpunkt im Bereich der Strafzumessung liegt. Die Bemessung der Art und Höhe der Strafe ist aber praktisch von großer Bedeutung und lässt sich an Hand dieses Falles gut behandeln. Grundvorschrift ist § 46 StGB. Nach dessen Abs. 1 ist die Schuld des Täters Grundlage für die Strafzumessung, und es sind die von der Strafe voraussichtlich ausgehenden Wirkungen zu berücksichtigen. § 46 Abs. 2 führt die Umstände auf, die bei der Strafzumessung im Einzelnen zu berücksichtigen sind wie: Beweggründe und Ziele des Täters, aufgewendete kriminelle Energie, das Maß der Pflichtwidrigkeit, die Auswirkungen der Tat und die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Täters. Zu berücksichtigen ist auch dessen Nachtatverhalten, insbesondere das Bemühen um Wiedergutmachung des Schadens und um einen Ausgleich mit dem Opfer. Der letztgenannte Gesichtspunkt wird seit 1994 in § 46a StGB unter der Bezeichnung Täter-Opfer-Ausgleich spezieller ausgestaltet. Nach BGH im folgenden Fall (NJW 2002, 3265 unter b) ist aus gesetzessystematischer Sicht davon auszugehen, dass der vertypte Strafmilderungsgrund des § 46a StGB an weitergehende Voraussetzungen geknüpft sein muss… Er ist also spezieller als § 46 II letzter Fall. Liegen die Voraussetzungen des § 46a aber nicht vor, kann wieder auf § 46 II letzter Fall zurückgegriffen werden (BGH a.a.O. S. 3265 am Ende).
► Vergewaltigung, § 177 I, II StGB. ► Gefährliche Körperverletzung, § 224 I StGB. ► Strafmilderung nach §§ 21, 49 I StGB. ► Täter-Opfer-Ausgleich, § 46a StGB
BGH Urteil vom 31. 5. 2002 (2 StR 73/02) NJW 2002, 3264
Fall (Opferausgleich nach brutaler Vergewaltigung)
A, der in erheblichem Maße Alkohol getrunken hatte, nahm auf der Rückfahrt mit dem Auto Frau S mit, um sie nach Hause zu bringen. Er fasste den Entschluss, mit ihr geschlechtlich zu verkehren, notfalls auch gegen ihren Willen. Er steuerte das Auto auf einen Parkplatz und zog S, die sich nach Kräften wehrte, in ein in der Nähe gelegenes Waldstück. Dabei schlug er ihr so heftig ins Gesicht, dass sie einen Schneidezahn verlor. Als S um Hilfe rief, würgte A sie wiederholt und für längere Zeit so stark, dass sie kaum mehr atmen konnte und Würgemale am Hals zurückblieben. Dabei sagte A ihr, wenn sie nicht still sei, werde er sie erwürgen. Daraufhin gab S den Widerstand auf. A führte den Geschlechtsverkehr und auch Oralverkehr aus. S leidet seitdem an Angstzuständen.
Als es zu einem Strafverfahren gegen A kam, bot dessen Verteidiger der S eine als „Täter-Opfer-Ausgleich“ überschriebene Vereinbarung an. Darin verpflichtete sich A, ein Schmerzensgeld in Höhe von 7 500 € zu zahlen, die Kosten für die Zahnbehandlung einschließlich einer Zahnimplantation zu tragen und die Anwaltskosten zu übernehmen. Die Vereinbarung enthielt einen Passus, wonach A die Geschädigte um Verzeihung bittet und S dies annimmt. S war mit dieser Vereinbarung zunächst nicht einverstanden. Sie brauchte aber - was A wusste - dringend das Geld für einen neuen Zahn und fürchtete, sonst keine Zahlungen von A zu erhalten. Deshalb ermächtigte sie schließlich ihren Rechtsanwalt zur Unterzeichnung. Vor der Hauptverhandlung zahlte A an S 5 000 €, die er durch Verkauf seines Autos und mit Hilfe von Angehörigen aufbrachte. Für weitere Zahlungen wurden Fristen vereinbart.
In der Hauptverhandlung erklärte der Sachverständige, A sei zum Zeitpunkt der Tat zwar nicht schuldunfähig gewesen, insbesondere wegen hoher Alkoholgewöhnung und wegen des zielgerichteten Vorgehens, seine Steuerungsfähigkeit müsse aber als erheblich gemindert beurteilt werden.
Wie ist das Verhalten des A strafrechtlich zu beurteilen ? Wonach richtet sich die Höhe der gegen A zu verhängenden Strafe ?
I. Strafbarkeit
1. A hat sich wegen Vergewaltigung nach § 177 I, II StGB strafbar gemacht.
a) Er hat S im Sinne des § 177 I genötigt, sexuelle Handlungen an sich zu dulden. Der Sachverhalt gestattet die Annahme, dass A dabei Gewalt (Nr. 1) angewendet hat, weil er durch körperliche Kraftentfaltung so auf den Körper der S eingewirkt hat, dass diese das als körperlichen Zwang empfunden hat. Zumindest hat er mit weiteren Angriffen und mit Erwürgen gedroht, so dass für S eine gegenwärtige Gefahr für Leib und Leben bestand (§ 177 I Nr. 2; dazu noch unten 2 b). Auch die Voraussetzungen für den besonders schweren Fall der Vergewaltigung (§ 177 II 1, 2 Nr. 1) sind erfüllt, weil A mit S den Beischlaf vollzogen hat.
b) Am Vorsatz des A besteht kein Zweifel. Schuldunfähigkeit nach § 20 ist nach den Feststellungen des Sachverständigen nicht gegeben. § 21 wird noch unten im Zusammenhang mit der Strafzumessung behandelt.
2. A könnte sich weiterhin wegen gefährlicher Körperverletzung nach §§ 223, 224 StGB strafbar gemacht haben.
a) Das Ausschlagen des Zahnes und das Würgen sind Körperverletzungen.
b) BGH S. 3265 unter bb): Das Würgen des Tatopfers durch den Angekl. ist als eine das Leben gefährdende Behandlung i. S. des § 224 I Nr. 5 StGB zu werten. Festes Würgen am Hals kann geeignet sein, eine Lebensgefährdung herbeizuführen. Zwar reicht insoweit nicht jeder Griff aus, der zu Würgemalen führt, ebenso wenig bloße Atemnot (vgl. BGH, StV 1993, 26…); andererseits kann Würgen bis zur Bewusstlosigkeit oder bis zum Eintritt von Sehstörungen beim Opfer dessen Leben gefährden (…BGH JZ 1986, 963). Von maßgeblicher Bedeutung sind demnach Dauer und Stärke der Einwirkung, die abstrakt geeignet sein muss, das Leben des Opfers zu gefährden. § 224 I Nr. 5 StGB setzt nicht voraus, dass das Opfer tatsächlich in Lebensgefahr geraten ist. Nach den vom LG festgestellten Umständen gingen die von dem Angekl. vorgenommenen Würgegriffe über ein nur kurzzeitiges Zudrücken mit vorübergehender Luftnot weit hinaus und waren nach Art und Umstand abstrakt geeignet, bei der Geschädigten eine Lebensgefährdung herbeizuführen. Dass der Angekl. in subjektiver Hinsicht die Umstände erkannt hatte, aus denen sich die Lebensgefährlichkeit seines Tuns ergab, wird durch seine Äußerung belegt, er werde sein Opfer erwürgen, wenn es nicht still sei.
II. Strafrahmen und Strafzumessung
1. Zwischen der Vergewaltigung und der gefährlichen Körperverletzung besteht Tateinheit nach § 52 I, II StGB. Die schwerste Strafe enthält § 177 II: Freiheitsstrafe nicht unter zwei Jahren.
2. Wegen der verminderten Schuld des A greift § 21 StGB ein und führt zu einer Strafmilderung nach § 49 I (ebenso wie beim Versuch).
3. Es könnte eine weitere Milderung nach § 46a Nr. 1 StGB (Täter-Opfer-Ausgleich) in Betracht zu ziehen sein. A müsste in dem Bemühen, einen Ausgleich mit der Verletzten zu erreichen, seine Tat ganz oder zum überwiegenden Teil wiedergutgemacht oder deren Wiedergutmachung ernsthaft erstrebt haben.
a) BGH S. 3265 unter b): Die Vorschrift setzt einen kommunikativen Prozess zwischen Täter und Opfer voraus, der auf einen umfassenden Ausgleich der durch die Straftat verursachten Folgen gerichtet sein muss… Unverzichtbar ist eine von beiden Seiten akzeptierte, ernsthaft mitgetragene Regelung.
BGH NJW 2003, 1466 zu einem Fall, in dem es ebenfalls zu sexuell motivierter Gewalt gekommen war, auf S. 1468: Es muss der Gefahr begegnet werden, dass der Täter die Vergünstigung des § 46a i. V. mit § 49 I StGB durch ein „routiniert vorgetragenes Lippenbekenntnis“ oder einen Anwaltsschriftsatz erlangt, oder das Opfer während der Kommunikation Pressionen aussetzt und dem Tatrichter bei Sexualstraftaten oder Körperverletzungsdelikten ein „versöhntes Opfer“ präsentiert…
b) Zum vorliegenden Fall BGH NJW 2003, 3264 auf S. 3265 unter b): Hier hat die Geschädigte die Vereinbarung nicht als friedensstiftende Konfliktregelung innerlich akzeptiert. Sie stimmte der Abrede vielmehr nur zu, weil sie befürchtete, ansonsten keine Ersatzleistungen von dem Angekl. zu erhalten, und weil sie - was der Angekl. wusste - dringend Geld benötigte, um das Zahnimplantat finanzieren zu können.
c) Allerdings soll die Strafmilderung nicht von der Zustimmung des Opfers abhängen, so dass dieses sie verhindern könnte. Nach der Vorstellung des Gesetzgebers sollte dem Täter…eine realistische Chance eingeräumt werden, in den Genuss der Strafmilderung zu gelangen. Erforderlich ist aber, dass das Bemühen des Täters gerade darauf gerichtet sein muss, zu einem friedensstiftenden Ausgleich mit dem Verletzten zu gelangen. Das konnte hier nicht festgestellt werden. A nutzte aus, dass S auf sein Entgegenkommen in finanzieller Hinsicht angewiesen war, und hatte sich mit einer lediglich formalen Unterzeichnung durch S begnügt. Dass es dem Angekl. selbst gerade um einen friedenstiftenden Ausgleich ging, ist nicht ersichtlich.
4. Eine weitere Strafmilderung nach §§ 46a, 49 I scheidet somit aus. Es bleibt bei dem Strafrahmen aus §§ 177 II, 21, 49 I. Das Bemühen des A um eine gewisse Schadensminderung ist in Anwendung des § 46 II letzter Fall zu berücksichtigen. Danach hatte das LG, was vom BGH gebilligt wurde, auf vier Jahre Freiheitsstrafe erkannt.
Zusammenfassung