Bearbeiter: Prof. Dr. Rainer Strauß
Der Tatbestand des Raubes gemäß § 249 I StGB setzt voraus, dass aus Tätersicht die Wegnahmehandlung und die Gewaltanwendung gegen das Opfer in einem finalen Zusammenhang stehen. Umstritten ist, ob ein solcher Finalzusammenhang auch dann noch besteht, wenn sich der Täter erst nach der Gewaltanwendung zur Wegnahme entschließt, indem er einen Motivwechsel vornimmt. Der folgende Fall verdeutlicht diese Situation und stellt die vom BGH und der Lehre hierzu vertretenen Auffassungen dar.
► Schwerer Raub, §§ 249, 250 I Nr. 1 b), 250 II Nr. 1 StGB. ► Finalzusammenhang zwischen Personengewalt und Wegnahme
BGH Urteil vom 15. 10. 2003 (2 StR 283/03) NJW 2004, 528
Fall (Überfall in der Jagdhütte)
Der obdachlose A war in die Jagdhütte des B eingedrungen und hatte dort übernachtet. Am nächsten Morgen schloss B seine Jagdhütte auf. Bevor er A bemerkte, sprühte dieser ihm eine Flüssigkeit in das Gesicht und versetzte ihm einen Faustschlag. Als B daraufhin zu Boden fiel, schlug A ihm eine Sprudelflasche auf den Kopf und warf anschließend einen 8 kg schweren Felsstein nach B. Obwohl B noch ausweichen konnte, traf der Stein ihn an der linken Kopfhälfte. Anschließend fesselte A die Hände des stark benommenen B mit einem Strick. Im Anschluss hieran fasste A den Entschluss, den Landrover und die darin befindlichen Sachen des B mitzunehmen, und fuhr mit dem Landrover davon. Strafbarkeit des A ?
I . A könnte sich wegen eines schweren Raubes gemäß §§ 249 I, 250 II Nr. 1, 250 I Nr. 1 b) StGB strafbar gemacht haben.
1. Dann müsste er fremde bewegliche Sachen weggenommen haben. Der Landrover und die sich darin befindlichen Gegenstände waren für A fremde bewegliche Sachen. Eine Wegnahme stellt den Bruch fremden und die Begründung neuen Gewahrsams dar. Ursprünglich standen die Gegenstände im Gewahrsam des B. Indem A den B fesselte, konnte dieser nicht mehr auf seine Gegenstände einwirken. A hat daher den Gewahrsam des B gebrochen und gegen dessen Willen eigenen Gewahrsam an den Gegenständen begründet, als er mit dem Landrover des B davonfuhr. Ein Gewahrsamsbruch liegt vor.
2. Indem A den B niederschlug und fesselte, hat er Personengewalt in Form der vis absoluta gegen B verübt.
3 . Die Wegnahme der Gegenstände folgte unmittelbar nach der Gewaltanwendung, so dass ein zeitlich-räumlicher Zusammenhang zwischen der Wegnahme und der Gewaltanwendung gegeben ist.
4. A könnte weiterhin den objektiven Tatbestand des schweren Raubes gemäß § 250 II Nr. 1 StGB verwirklicht haben. Dann müsste er bei der Raubtat ein gefährliches Werkzeug verwendet haben. Gefährliche Werkzeuge sind Gegenstände, die nach der konkreten Art der Verwendung geeignet sind, erhebliche Verletzungen bei dem Opfer hervorzurufen. Dies ist sowohl bei dem Schlag mit der Sprudelflasche auf den Kopf des B als auch bei dem Wurf mit dem 8 kg schweren Stein der Fall, da hierdurch erhebliche Verletzungen hervorgerufen werden können. A hat somit gefährliche Werkzeuge verwendet. Die Vorschrift des § 250 II Nr. 1 StGB verlangt aber weiterhin, dass die gefährlichen Werkzeuge bei der Raubtat verwendet wurden. Hierfür ist erforderlich, dass der Täter die gefährlichen Werkzeuge zur Ermöglichung der Wegnahme einsetzt. Bei der Verwendung der gefährlichen Werkzeuge hatte A noch nicht vorgehabt, B den Landrover und die darin befindlichen Gegenstände zu entwenden. Daher hat A den Qualifikationstatbestand des § 250 II Nr. 1 StGB nicht erfüllt.
5. A könnte aber den Qualifikationstatbestand des § 250 I Nr. 1 b) StGB verwirklicht haben. Dann müsste er während des Raubes ein Mittel bei sich geführt haben, um den Widerstand einer anderen Person zu überwinden. Der BGH bejaht dies, da A durch die Verwendung des Stricks eine fortdauernde Zwangslage geschaffen habe, um den Widerstand des B zu überwinden. Anders als bei § 250 II Nr. 1 StGB sei hier unerheblich, dass A seinen Vorsatz bezüglich der Wegnahme erst nach der Fesselung des B gefasst habe. Der objektive Tatbestand des § 250 I Nr. 1 b) StGB ist daher erfüllt.
6. A hatte Vorsatz zur Verwirklichung der objektiven Tatbestandsmerkmale der §§ 249 I, 250 I Nr. 1 b) StGB.
7 . Weiterhin müsste ein Finalzusammenhang zwischen der Personengewalt und der Wegnahme gegeben sein. A hatte zunächst B nur überwältigen wollen und entschloss sich erst im Anschluss daran, den Landrover und die darin befindlichen Gegenstände zu entwenden.
a) Nach der Auffassung des BGH ist dieser Motivwechsel unerheblich: Bei einem Motivwechsel nach einer zunächst mit anderer Zielsetzung begangenen Nötigung kommt ein Schuldspruch wegen Raubes nicht in Betracht, wenn es nur gelegentlich bei der Nötigungshandlung zur Wegnahme kommt oder die Wegnahme der Nötigung nur zeitlich nachfolgt, ohne dass eine finale Verknüpfung besteht ... Hingegen ist auch bei einer zunächst mit anderer Zielsetzung erfolgten Nötigung, die der Täter zur Wegnahme ausnutzt, der Raubtatbestand erfüllt, wenn die Gewalt noch andauert oder als aktuelle Drohung erneuter Gewaltanwendung auf das Opfer einwirkt und dieses dazu veranlasst, die Wegnahmehandlung zu dulden ... Auf der Grundlage der Auffassung des BGH hat A den Tatbestand des schweren Raubes verwirklicht, da er die mit ursprünglich anderer Zielsetzung erfolgte noch andauernde Gewaltanwendung zur Wegnahme der Gegenstände ausnutzte und B deshalb die Wegnahme erdulden musste.
b) Ein Teil der Lehre wendet hiergegen ein, dass durch diese Auslegung des § 249 I StGB die Trennung zwischen finalem Gewalteinsatz und bloßer Ausnutzung der Zwangslage des Opfers verwischt werde (Herdegen in: LK-StGB § 249 Rdnr. 16 m. w. N.). Ein Ausnutzen einer ohne Wegnahmevorsatz begonnenen Freiheitsberaubung zum Zwecke der Wegnahme könne schon sprachlich nicht als Gewalt angesehen werden. Der Raubtatbestand des § 249 I StGB verlange ferner nach seiner Struktur ein aktives Handeln des Täters. Ein Unterlassen sei allenfalls tatbestandsmäßig, wenn der Täter eine Garantenpflicht i. S. des § 13 I StGB inne habe (Kindhäuser in: NK-StGB § 249 Rdnr. 36). Der BGH lehnt diese Auffassung ab, da diese „naturalistischen Bildern der Gewaltausübung“ verhaftet sei. Dass Gewalt durch Unterlassen jedenfalls dann verwirklicht werden kann, wenn körperlich wirkender Zwang aufrechterhalten oder nicht gehindert wird, entspricht im Übrigen der herrschenden Meinung zum Nötigungstatbestand ... Das Abstellen auf die aktive Gewaltanwendung wird aber auch dem Charakter der Freiheitsberaubung als Dauerdelikt nicht gerecht. Wer einen anderen einschließt oder fesselt, übt gegen diesen Gewalt aus, und zwar vis absoluta ...Ein Finalzusammenhang zwischen der Wegnahmehandlung und der Personengewalt ist somit auf der Grundlage der Auffassung des BGH gegeben.
8. A handelte in der Absicht, sich den Landrover und die sich darin befindlichen Gegenstände zuzueignen. Die von ihm erstrebte Zueignung war rechtswidrig, und er handelte vorsätzlich diesbezüglich.
9. A hat rechtswidrig und schuldhaft gehandelt und sich somit wegen eines schweren Raubes gemäß §§ 249 I, 250 I Nr. 1 b) StGB strafbar gemacht.
II. Ferner hat A sich wegen einer gefährlichen Körperverletzung gemäß §§ 223 I, 224 I Nr. 2 und Nr. 5 StGB, einer Freiheitsberaubung gemäß § 239 I StGB und wegen Hausfriedensbruchs gemäß § 123 I StGB strafbar gemacht.
A hat die Freiheitsberaubung als Mittel zur Begehung des Raubes ausgenutzt. Daher tritt § 239 I StGB hinter die §§ 249 I, 250 I Nr. 1 b) StGB zurück. Zwischen der gefährlichen Körperverletzung und dem schweren Raub besteht dagegen Idealkonkurrenz, da nicht jede Gewaltanwendung i. S. des § 249 I StGB stets eine gefährliche Körperverletzung sein muss (Schönke/Schröder § 249 Rdnr. 13).
A hat sich somit insgesamt gemäß §§ 249 I, 250 I Nr. 1 b), 223 I, 224 I Nr. 2 und Nr. 5, 52; 123 I; 53 StGB strafbar gemacht.
Gewalt zur Wegnahme i. S. des § 249 I StGB ist nach Auffassung des BGH auch dann gegeben, wenn der Täter zunächst sein Opfer fesselt und sich erst anschließend unter Ausnutzung dieser Situation zur Wegnahme von Gegenständen des Opfers entschließt.