Bearbeiter: Prof. Dr. Rainer Strauß

Zulässigkeit von Urteilsabsprachen im Strafprozess. Rechtsfortbildung im Strafprozessrecht

BGH Großer Senat für Strafsachen Beschluss vom 3. 3. 2005 (GSSt 1/04) NJW 2005, 1440

Einer der Fälle, die Anlass für diesen Grundsatzbeschluss gaben, verlief wie vielfach üblich: A war wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge und in drei Fällen angeklagt. Im Strafverfahren vor dem LG wurde die Hauptverhandlung unterbrochen und zwischen A, seinem Verteidiger, der Staatsanwaltschaft und dem Gericht eine „verfahrensbeendigende Absprache“ getroffen. Danach wurde A vom Gericht eine Höchststrafe von vier Jahren und neun Monaten bei Geständnis und Rechtsmittelverzicht zugesichert. Anschließend legte A ein Geständnis ab und wurde zu vier Jahren und sechs Monaten Freiheitsstrafe verurteilt. Trotz Rechtsmittelverzichts ließ A später Revision einlegen, über deren Zulässigkeit zu entscheiden war.

I. Im Vordergrund steht die Frage der Zulässigkeit solcher Absprachen. Denn wenn diese nicht zulässig sind, muss das auch Auswirkungen auf einen im Zusammenhang damit ausgesprochenen Rechtsmittelverzicht haben.

1. BGH S. 1441 unter 1 und S. 1443 unter a): Die StPO kennt die Verständigung über das Ergebnis einer Hauptverhandlung als Erledigungsart und verbindliche Zusage über das Verfahrensergebnis nicht… Sie ist sogar im Grundsatz vergleichsfeindlich ausgestaltet. Richtig ist ferner, dass die Anerkennung der Verbindlichkeit von Zusagen zur Strafhöhe, auch wenn diese – entsprechend den Vorgaben der Entscheidung BGHSt 43, 195 – lediglich die Strafobergrenze zum Gegenstand haben dürfen, mit § 261 StPO nur schwer in Einklang zu bringen ist. Sodann ist nicht zu übersehen, dass Abspracheverfahren in der Praxis eher als Verfahren, die streng nach der StPO geführt werden, Gefahr laufen, dem gesetzlich verankerten Aufklärungsgrundsatz (§ 244 II StPO) nur eingeschränkt Rechnung zu tragen.

S. 1441 unter 1: Gleichwohl hat sich in der Strafrechtspflege eine Praxis dahin entwickelt, dass sich die Verfahrensbeteiligten nicht nur über den Stand und die Aussichten des Verfahrens verständigen…, sondern zunehmend auch dessen Ergebnis vereinbaren. In nicht wenigen Fällen ist dabei auch die Inaussichtstellung des Rechtsmittelverzichts Gegenstand einer solchen Absprache. Trotz dieser weitverbreiteten und außerhalb der StPO praktizierten Verfahrensweise ist der Gesetzgeber hier bisher untätig geblieben, und eine gesetzliche Regelung ist derzeit auch nicht zu erwarten. Am Schluss seiner Entscheidung (S. 1447) appelliert der BGH allerdings an den Gesetzgeber mit dem Ziel, er möge eine Regelung treffen.

2. BGH S. 1442 unter 3: Der Große Senat für Strafsachen hält Urteilsabsprachen grundsätzlich für zulässig und für vereinbar mit der StPO.

a) Dabei stellt der BGH grundsätzliche Überlegungen zur Rechtfertigung einer so weitgehenden Rechtsfortbildung an. S. 1443 unter aa): Das Grundgesetz lehnt einen engen Gesetzespositivismus ab, wie sich bereits aus der Bindung des Richters an „Gesetz und Recht“ nach Art. 20 III GG ergibt (BVerfGE 34, 269 [286 ff.], auch zum Folgenden). Richterliche Tätigkeit besteht nicht nur im Erkennen und Aussprechen von Entscheidungen des Gesetzgebers. Vielmehr ist dem Richter eine „schöpferische Rechtsfindung“, der auch willenhafte Elemente eigen sind, nicht grundsätzlich verwehrt. Insbesondere die obersten Gerichtshöfe haben diese Befugnis von Anfang an – mit Billigung des BVerfG – für sich in Anspruch genommen (BVerfGE 34, 269 [288]). Sie steht, wie das BVerfG ausdrücklich hervorhebt, besonders dem Großen Senat zu, dem namentlich durch § 132 IV GVG die Fortbildung des Rechts zur Aufgabe gemacht ist.

Dabei ist ein Gericht zu „freierer Handhabung der Rechtsnormen“ (BVerfGE 34, 269 [289]) berechtigt, wenn das geschriebene Gesetz bei einer am Wortlaut haftenden Auslegung seine Funktion nicht mehr erfüllt. Die Auslegung einer Gesetzesnorm kann nicht immer auf Dauer bei dem ihr zu ihrer Entstehungszeit beigelegten Sinn stehen bleiben. Es ist zu berücksichtigen, welche vernünftige Funktion sie im Zeitpunkt der Anwendung haben kann. „Die Norm steht ständig im Kontext der sozialen Verhältnisse und der gesellschaftlich-politischen Anschauungen, auf die sie wirken soll; ihr Inhalt kann und muss sich unter Umständen mit ihnen wandeln“ (BVerfGE 34, 269 [288])… Ändern sich die Bedürfnisse des Rechtsverkehrs, so folgt aus dem Gesagten die Zulässigkeit einer richterlichen Anpassung des Rechts an diese Bedürfnisse.

b) BGH S. 1443/4 unter bb): Bei Anlegung dieser Maßstäbe sind die Voraussetzungen einer richterrechtlichen Rechtsfortbildung der StPO durch Zulassung von Urteilsabsprachen…insbesondere wegen der unabweisbaren Bedürfnisse einer ordnungsgemäßen Strafrechtspflege gegeben. Als konkrete Gründe hierfür beruft sich der BGH u. a.

II. Allerdings gelten Schranken. Sie werden vom BGH auf S. 1442 unter a) aus der Verfassung und aus grundlegenden Prinzipien des Strafprozesses abgeleitet, vor allem

Die konkreten Schranken lauten demgemäß (S. 1442 unter b):

1. Keine Absprache ohne vorherige Überprüfung der Anklage an Hand der Akten.

2. Keine Absprache über den Schuldspruch, sondern nur über eine Obergrenze für die Strafe.

3. Die zugesagte Strafobergrenze darf weder nach oben noch nach unten in unvertretbarer Weise von der bei einem „streitigen Verfahren“ zu erwartenden Strafe abweichen.

4. Das Geständnis muss auf seine Glaubwürdigkeit hin überprüft werden. Das Gericht muss von seiner Richtigkeit überzeugt sein… Ein bloßes inhaltsleeres Formalgeständnis reicht hingegen nicht aus.

5. Die Bindung des Gerichts entfällt, wenn relevante tatsächliche oder rechtliche Gesichtspunkte bei der Absprache übersehen wurden oder wenn neue Erkenntnisse auftreten. Allerdings muss der Angeklagte auf solche Umstände hingewiesen werden.

III. Zum Rechtsmittelverzicht die Leitsätze des BGH:

1. Das Gericht darf im Rahmen einer Urteilsabsprache an der Erörterung eines Rechtsmittelverzichts nicht mitwirken und auf einen solchen Verzicht auch nicht hinwirken.

2. Nach jedem Urteil, dem eine Urteilsabsprache zu Grunde liegt, ist der Rechtsmittelberechtigte…darüber zu belehren, dass er ungeachtet der Absprache in seiner Entscheidung frei ist, Rechtsmittel einzulegen (qualifizierte Belehrung)…

3. Der nach einer Urteilsabsprache erklärte Verzicht auf die Einlegung eines Rechtsmittels ist unwirksam, wenn der ihn erklärende Rechtsmittelberechtigte nicht qualifiziert belehrt worden ist.

Da diese Bedingungen in den Vorlagefällen nicht erfüllt waren, war der Rechtsmittelverzicht unwirksam und die Revision zulässig.