Bearbeiter: Prof. Dr. Rainer Strauß

Mordmerkmal niedriger Beweggrund (§ 211 II 1. Gruppe, 4. Fall, StGB) bei Ausländern mit abweichenden Wertvorstellungen

BGH Urteil vom 20. 2. 2002 (5 StR 538/01) NStZ 2002, 369

Fall (Kurdische Wertvorstellungen)

K nahm als Kurde an dem bewaffneten Kampf der PKK in der Türkei teil. Er erlitt bei einem Schusswechsel eine Querschnittslähmung, so dass er beide Beine nicht mehr bewegen konnte und an den Rollstuhl gebunden war. Er kam 1994 im Alter von 18 Jahren nach Deutschland und wurde als Asylbewerber anerkannt. Ende 1998 lernte er die damals 17 Jahre alte B kennen. Diese war mit ihren kurdischen Eltern und Geschwistern 1996 nach Deutschland gekommen. Entgegen den herkömmlichen Regeln der kurdischen Gesellschaft teilte K der Mutter der B mit, dass er die B heiraten werde. Die Eltern der B, insbesondere der Vater, lehnten eine Heirat zwischen K und ihrer Tochter ab. K sei auf Grund seiner Behinderung nicht der richtige Mann für ihre Tochter. Außerdem waren sie der Auffassung, dass K als PKK-Mitglied nicht heiraten dürfe.

Als B 1999 in die Wohnung des A zog, wurde das „Paar“ von der kurdischen Gesellschaft ausgegrenzt. Dennoch gingen K und B im Juni 1999 heimlich in einer Mosche nach islamischem Recht die Ehe ein. Die Beziehung wurde in den kurdischen Kreisen als unehrenhaft empfunden, so dass sich der Gebietsverantwortliche der PKK zur Lösung des Problems aufgerufen fühlte. Er befahl dem späteren Angeklagten A die Tötung von K und B. A fand diese Maßnahme zwar maßlos und war konsterniert, widersetzte sich aber nicht der Anweisung, da er ansonsten zwar keine eigenen körperlichen Beeinträchtigungen, aber einen Ehrverlust fürchtete. Er fuhr unter einem Vorwand mit den beiden Opfern zu einer einsam gelegenen Stelle am Außendeich der Weser. Ohne auf das Flehen der Opfer zu regieren, packte A die B und drückte ihren Kopf mehrere Minuten in den Schlick des Deiches, bis diese erstickte. Sodann schlug er mit einem schweren Radmutternschlüssel elfmal auf den Kopf des K ein. Um sicher zu gehen, dass dieser auch wirklich den Tod findet, überfuhr er den am Boden liegenden K mit seinem Fahrzeug. K und B verstarben am Tatort. Strafbarkeit des A ?

A könnte sich wegen Mordes gem. § 211 II 1. Gruppe, 4. Fall (niedriger Beweggrund) StGB strafbar gemacht haben.

1. Objektiver Tatbestand

Indem A den Kopf der B in den Schlick der Weser drückte, hat er den Tod der B kausal verursacht. Ferner hat er durch die Schläge mit dem Schraubenschlüssel den Tod des K kausal herbeigeführt, so dass der objektive Tatbestand erfüllt ist.

2. Subjektiver Tatbestand

Weiterhin müsste A Vorsatz zur Tötung von K und B gehabt haben. Auch wenn A über den Tötungsbefehl konsterniert war, so wusste er dennoch bei der Ausführung der Tat, dass er den Tod zweier anderer Menschen herbeiführt, und handelte daher mit direktem Tötungsvorsatz. Weiterhin müsste er das subjektive Mordmerkmal gem. § 211 II 1. Gruppe, 4. Fall (niedriger Beweggrund) erfüllt haben. Nach der Rechtsprechung des BGH liegt ein niedriger Beweggrund vor, wenn die Motivation des Täters, einen anderen Menschen zu töten, sich nicht nur als verwerflich darstellt, sondern sittlich auf tiefster Stufe stehend und als besonders verachtenswert erscheint (BGHSt 2, 63; 3, 333; 35, 127).

Maßgebend hierfür sind neben der Persönlichkeit des Täters und seiner Lebensverhältnisse die Gesamtumstände des Einzelfalls. Dabei sind besondere Anschauung und Wertvorstellung, denen der Täter wegen seiner Bindung an eine fremde Kultur verhaftet ist, zu berücksichtigen (vgl. Wessels/Tittinger, Strafrecht Besonderer Teil I, Rn 97 m. w. N.).

a) Wegen des kulturellen Hintergrundes des Täters hatte das LG Bremen in erster Instanz entschieden, dass das Mordmerkmal „niedriger Beweggrund“ nicht erfüllt sei. Zur Begründung wurde darauf abgestellt, dass nach den anarchischen Sitten und Wertvorstellungen der beteiligten Personen eine Schlichtung nicht mehr möglich gewesen sei. Die Tötung der Beziehungspartner (K und B) sei nach den diesem Kulturkreis zugrunde liegenden Wertvorstellungen erlaubt. A sei aufgrund seiner stark verinnerlichten heimatlichen Wertvorstellungen nicht bewusst gewesen, dass seine Beweggründe objektiv als besonders verwerflich und sozial rücksichtslos anzusehen sind. Mit dieser Argumentation stellte das LG Bremen darauf ab, dass den Tätern das Bewusstsein für das Vorliegen eines niedrigen Beweggrundes fehle.

b) Der BGH ist dieser Argumentation nicht gefolgt und bejaht aus folgenden Erwägungen einen niedrigen Beweggrund im Sinne des § 211 II 1. Gruppe, 4. Fall StGB. Die Beurteilung der Frage, ob Beweggründe zur Tat niedrig sind, also nach allgemein sittlicher Wertung auf tiefster Stufe stehen, mithin in deutlich weitreichenderem Maße als bei einem Totschlag als verwerflich und deshalb als besonders verachtenswert erscheinen, hat aufgrund einer Gesamtwürdigung aller äußeren und inneren für die Handlungsantriebe des Täters maßgeblichen Faktoren zu erfolgen. Dabei ist der Maßstab für die Bewertung eines Beweggrundes den Vorstellungen der Rechtsgemeinschaft der Bundesrepublik Deutschland und nicht den Anschauungen einer Volksgruppe, die die sittlichen und rechtlichen Werte dieser Rechtsgemeinschaft nicht anerkennt, zu entnehmen ... Nur ausnahmsweise, wenn dem Täter bei der Tat die Umstände nicht bewusst waren, die die Niedrigkeit seiner Beweggründe ausmachen, oder wenn es ihm nicht möglich war, seine gefühlsmäßigen Regungen, die sein Handeln bestimmen, gedanklich zu beherrschen und willensmäßig zu steuern, kann anstatt einer Verurteilung wegen Mordes aus niedrigen Beweggründen lediglich eine Verurteilung wegen Todschlags in Betracht kommen.

Eine solche Bewusstseinslage des Täters sieht der BGH vorliegend als nicht gegeben an. A war über den Tötungsbefehl selbst entsetzt. Dieser lief somit seinen eigenen Wertvorstellungen zuwider. Die hochgradige Verwerflichkeit des Tötungsbefehls war A daher bekannt. Damit lag dem vorliegenden Fall gerade nicht der vom BGH früher entschiedene Sachverhalt zugrunde, in dem der Täter zur Blutrache schritt, da er noch stark von den Vorstellungen und Anschauungen seiner Heimat beherrscht war und sich von diesen nicht lösen konnte (vgl. BGH NJW 1995, 603). Vielmehr war es A möglich, seine Vorgehensweise als niedrig im Sinne des § 211 II 1. Gruppe, 4. Fall StGB zu bewerten.

Dies gilt um so mehr, als A im Fall einer Befehlsverweigerung keinesfalls eine Bestrafung in Form von körperlichen Übergriffen oder gar einer Tötung drohte. Schlimmstenfalls musste er mit einem Ansehens- und Ehrverlust innerhalb der kurdischen Gemeinschaft rechnen.

A hat somit das subjektive Mordmerkmal des § 211, 2, 1. Gruppe, 4. Fall (niedriger Beweggrund) StGB verwirklicht.

3. A hat rechtswidrig und schuldhaft gehandelt und sich somit wegen eines Mordes aus niedrigen Beweggründen strafbar gemacht.

Zusammenfassung