Bearbeiter: Prof. Dr. Rainer Strauß

► Fahrlässige Tötung, § 222 StGB. ► Notwehr durch Polizeibeamten, § 32 StGB

BGH Urteil vom 30. 6. 2004 (2 StR 82/04) NStZ 2005, 31

Fall (Steinwürfe gegen Polizisten)

B hielt sich in einem Clubhaus auf. Dort konsumierte er Alkohol und Kokain, wobei ihm der Drogenkonsum äußerlich so gut wie nicht anzumerken war. Er verließ das Clubhaus in den frühen Morgenstunden, um sich Zigaretten zu holen. Obwohl er Geld in einen an einer Straßenecke stehenden Zigarettenautomaten geworfen hatte, gab dieser nicht die gewünschte Zigarettenpackung frei. B schlug aus Verärgerung hierüber mit einer herumliegenden Gehwegplatte auf den Zigarettenautomaten ein. Wegen des dadurch verursachten Lärms wurde die Polizei auf B aufmerksam. Als B dies bemerkte, versteckte er sich hinter einem an der Straßenecke geparkten Bierwagen. Polizist A entdeckte B und rief: „Halt stehen bleiben, Polizei !“ Sodann kam es zwischen A und B zu einem heftigen Handgemenge, da B sich der Festnahme durch A entziehen wollte. Der Aufforderung, sich hinzulegen, kam B nicht nach, sondern schlug mehrmals heftig nach dem Kopf des A. B riss sich schließlich von A los und flüchtete über die Terrasse eines angrenzenden Biergartens. Am Ende der Terrasse befand sich ein Steinhaufen mit etwa 3 kg schweren Pflastersteinen. Er nahm einen dieser Pflastersteine und warf ihn mit großer Wucht in Richtung des A, der ihn bis auf 3 bis 4 Meter eingeholt hatte. Auf Grund dieses Wurfs, der A knapp verfehlte, zog dieser seine Dienstwaffe, um einen Warnschuss abzugeben. B warf in diesem Augenblick einen zweiten Pflasterstein in Richtung des A und verfehlte dessen Kopf wiederum nur knapp. Sodann bückte B sich, um einen dritten Pflasterstein aufzuheben. In demselben Augenblick wollte A einen Schuss in die Beine des B abfeuern, da er erkannte, dass ihm durch die Würfe des B eine erhebliche Gefahr an Leib und Leben drohte. Bei der Abgabe des Schusses verzog A geringfügig die Waffe und traf den gebückten B ungewollt in den Rücken. Der Einschuss öffnete die Aorta, so dass B innerhalb kurzer Zeit verblutete. Strafbarkeit des A ?

A könnte sich wegen einer fahrlässigen Tötung gemäß § 222 StGB strafbar gemacht haben.

1. Tatbestand

a) A hat durch den Schuss den Tod des B verursacht.

b) Weiterhin müsste er eine objektive Sorgfaltspflichtverletzung bei objektiver Vorhersehbarkeit des Erfolges begangen haben. Für die Feststellung des Sorgfaltspflichtmaßstabes ist entscheidend, wie ein besonnener und gewissenhaft handelnder Mensch des entsprechenden Verkehrskreises gehandelt hätte, wobei ein Sonderwissen des Täters zu berücksichtigen ist. Ein gewissenhaft handelnder Polizist hätte, da B bereits zwei Pflastersteine nach A geworfen und sich dementsprechend bereits zweimal gebückt hatte, nicht in dem Moment auf die Beine des B geschossen, als dieser im Begriff war, sich ein drittes Mal zu bücken. Eine objektive Sorgfaltspflichtverletzung ist somit gegeben. Objektiv vorhersehbar ist ein tatbestandlicher Erfolg, wenn er innerhalb der allgemeinen Lebenswahrscheinlichkeiten liegt. Dass sich ein Angreifer, der sich bereits zweimal gebückt hat, um Pflastersteine aufzuheben, um diese auf sein Opfer zu werfen, noch ein drittes Mal bückt und deshalb ein auf den Angreifer abgegebener Schuss diesen nicht ins Bein, sondern in den Rücken trifft, ist auch objektiv vorhersehbar. A hat daher eine objektive Sorgfaltspflichtverletzung bei objektiver Vorhersehbarkeit des Erfolges begangen.

c) Zwischen der Sorgfaltspflichtverletzung seitens des A und dem Eintritt des tatbestandlichen Erfolges bestand auch der für § 222 StGB erforderliche Zurechnungszusammenhang. Der Tatbestand einer fährlässigen Tötung gemäß § 222 StGB ist damit gegeben.

2. Rechtswidrigkeit

Die Tat des A könnte durch Notwehr gemäß § 32 StGB gerechtfertigt sein.

a) Zunächst müsste der allgemeine Rechtfertigungsgrund der Notwehr nach § 32 StGB auch für Polizeibeamte, die in Ausübung des polizeilichen Dienstes handeln, anwendbar sein. Dass sich Polizeibeamte auf das Notwehrrecht aus § 32 StGB berufen können, wenn sie selbst angegriffen werden, ist unstreitig (vgl. Joecks, Studienkommentar § 32 Rdnr. 37), so dass A grundsätzlich das Notwehrrecht aus § 32 StGB zur Seite stand. (Zweifelhaft und streitig ist dagegen, ob ein Polizeibeamter sich auch dann auf § 32 StGB – in der Form der Nothilfe – berufen kann, wenn ein Dritter angegriffen wird; vgl. zu dieser Frage SK-Günther § 32 Rdnr. 16.)

b) Dann müsste eine Notwehrlage gegeben sein. Diese setzt einen gegenwärtigen und rechtswidrigen Angriff voraus. B war unmittelbar davor, einen weiteren (dritten,) 3 kg schweren Pflasterstein in Richtung des A zu werfen, ohne dass sein Verhalten gerechtfertigt war. Ein gegenwärtiger, rechtswidriger Angriff auf die körperliche Integrität des A ist somit gegeben. Eine Notwehrlage liegt vor.

c) Weiterhin müsste die Notwehrhandlung des A erforderlich gewesen sein. Erforderlich ist alles, was eine wirksame Beendigung des Angriffs erwarten lässt und seine endgültige Beseitigung gewährleistet. Unter mehreren gleich geeigneten Notwehrhandlungen ist diejenige zu wählen, die den geringsten Schaden anrichtet. Bei Schusswaffeneinsätzen ist in der Regel ein Warnschuss abzugeben. Fraglich ist daher, ob A nicht zunächst als milderes Mittel einen Warnschuss hätte abgeben müssen, bevor er auf B schoss. BGH: Nicht zu beanstanden ist die Wertung des Tatrichters, dem Angekl. habe im Moment des rechtswidrigen Angriffs kein erfolgsversprechendendes milderes Mittel zur Abwehr der Gefahr zur Verfügung gestanden. Angesichts der lebensgefährlichen Steinwürfe brauchte sich der Angekl. auf das Risiko eines Warnschusses oder einfachen körperlichen Zwangs nicht einzulassen. Er durfte sich vielmehr so wehren, dass die Gefahr sofort und endgültig gebannt war, und zu diesem Zweck auch die Schusswaffe einsetzen, wenn auch nur in einer Art und Weise, die Intensität und Gefährlichkeit des Angriffs nicht unnötig überbot ... Nach allgemeinen notwehrrechtlichen Grundsätzen ist der Angegriffene berechtigt, dasjenige Abwehrmittel zu wählen, das eine sofortige und endgültige Beseitigung der Gefahr gewährleistet; unter mehreren Abwehrmöglichkeiten ist er auf die für den Angreifer minder einschneidende nur dann verwiesen, wenn ihm Zeit zur Auswahl sowie zur Abschätzung der Gefährlichkeit zur Verfügung steht und die für den Angreifer weniger gefährliche Abwehr geeignet ist, die Gefahr zweifelsfrei und sofort endgültig auszuräumen ... Diese Voraussetzungen hat das LG hier mit rechtsfehlerfreier Begründung verneint ... Der Angekl. durfte deshalb einen Schuss auf die Beine des sich nach einem weiteren Pflasterstein bückenden Angreifers richten, um diesen kampfunfähig zu machen. Die durch das Verreißen der Waffe bewirkte, an sich geringfügige Abweichung des Schusses vom gewollten Ziel, welche durch die Bewegung des Geschädigten zu einer tödlichen Verletzung geführt hat, verwirklicht das mit der Notwehrhandlung verbundene typische Risiko ... Die Notwehrhandlung des A war somit erforderlich.

d) A handelte auch mit hinreichendem Notwehrwillen.

e) Eine sozialethische Einschränkung des Notwehrrechts dergestalt, dass A die Flucht vor den Steinwürfen des B hätte ergreifen müssen, verneint der BGH: Dem Angekl. konnte auch nicht angesonnen werden, vor dem Angriff des B zurückzuweichen. Das Gesetz verlangt von einem rechtswidrig Angegriffenen nur dann, dass er die Flucht ergreift oder auf andere Weise dem Angriff ausweicht, wenn besondere Umstände sein Notwehrrecht einschränken ..., beispielsweise, wenn er selbst den Angriff leichtfertig oder vorsätzlich provoziert hat. Etwas anderes gilt auch nicht für Polizeibeamte ... Die hier einschlägigen Bestimmungen des thüringischen Polizeiaufgabengesetzes schränken das individuelle Notwehrrecht nicht ein ...

Die Tat des A ist somit durch den Rechtfertigungsgrund der Notwehr gemäß § 32 StGB gerechtfertigt. A hat sich nicht gemäß § 222 StGB wegen einer fahrlässigen Tötung strafbar gemacht.

Zusammenfassung