Bearbeiter: Prof. Dieter Schmalz
BSG Urteil vom 25. 3. 1999 (B 9 VG 1/98) NJW 1999, 2301, JZ 2000, 96 mit Anmerkung von Roxin
Fall (Mit dem Schinkenmesser an die Haustür)
L lernte auf einem Straßenfest Frau P (FP) kennen. Beide waren alkoholisiert, beide verheiratet. FP lud L zu sich nach Hause ein. Im Hause der Eheleute P hatte Herr P (HP) schon geschlafen, wurde aber wach und forderte L energisch auf, sich zu entfernen. Daraufhin verließ L das Haus.
Danach kam es zwischen den Eheleuten P zu einer lautstarken Auseinandersetzung. HP packte seine Frau an, um sie in das Obergeschoss zum Schlafen zu bringen. FP wehrte sich, ließ sich auf den Boden fallen und schrie, obwohl HP sofort von ihr abließ, um Hilfe.
L, der noch etwas vor dem Hause gewartet hatte, hörte den Hilferuf. Er ging zurück und klopfte nachdrücklich an die Haustür. Zwischenzeitlich hatte HP Hunger verspürt und war in die Küche gegangen, um sich ein Schinkenbrot zuzubereiten. Er nahm ein 20 cm langes und 4 cm breites Messer in die Hand, um den Schinken abzuschneiden. In diesem Augenblick hörte er das Klopfen an der Haustür und öffnete diese, ohne das Messer wegzulegen. L sah das Messer in der Hand des HP und FP auf dem Boden liegen. Er ging auf HP zu und versuchte, ihn mit Faustschlägen zu treffen. L war 30 Jahre jünger als HP und wesentlich größer und kräftiger, HP war zudem durch einen Bandscheibenschaden behindert. HP wich deshalb zurück und machte einige ungezielte Abwehrbewegungen. Als L weiter auf HP einzuschlagen versuchte, stieß dieser dem L zweimal das Messer in die Brust. L sank zusammen und starb. Das Schwurgericht sprach HP vom Vorwurf eines Tötungsdelikts frei, weil er in Notwehr gehandelt habe.
Die Ehefrau und die beiden Kinder des L verlangen vom zuständigen Versorgungsamt eine Rente. Zu Recht?
Ein Anspruch kann sich aus § 1 Opferentschädigungsgesetz (OEG) ergeben.
I. Danach kann Entschädigung nach den Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes verlangen, wer infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen und tätlichen Angriffs gegen seine Person eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat. Im Falle des Todes erhalten die Hinterbliebenen diese Entschädigung.
II. Die Voraussetzungen des § 1 I OEG müssten in der Person des L erfüllt sein.
1. L wurde durch die von HP gegen ihn geführten Messerstiche getötet. Damit wurde er Opfer eines tätlichen Angriffs.
2. Der zweifache Einsatz des Messers direkt auf die Brust des L war, wie HP gewusst hat, äußerst gefährlich. Deshalb kann von diesem äußeren Ablauf darauf geschlossen werden, dass HP den Tod des L zumindest billigend in Kauf genommen und dabei vorsätzlich (mit dolus eventualis) gehandelt hat.
L hat somit infolge eines vorsätzlichen tätlichen Angriffs sein Leben verloren und damit erst recht eine gesundheitliche Schädigung i. S. des § 1 I OEG erlitten.
3. Dieser Angriff müsste rechtswidrig gewesen sein. Das ist nur dann nicht der Fall, wenn HP in Notwehr gehandelt hat.
a) Hierfür ist § 32 StGB anzuwenden. § 1 I OEG knüpft an strafrechtliche Begriffe an. Sie wirken unmittelbar in das Recht der Opferentschädigung hinein, auch soweit sie die Strafrechtsdogmatik betreffen (BSG S. 2301).
b) Dabei ist das Sozialgericht, das über die Ansprüche aus dem OEG zu entscheiden hat, nicht an das Urteil des Schwurgerichts gebunden. Denn grundsätzlich entscheidet jedes Gericht und jede Behörde selbstständig über die Rechtsfragen, von denen eine zu treffende Entscheidung abhängt. Etwas anderes gilt nur, wenn eine Bindung angeordnet ist oder sich aus der Natur der Sache ergibt (so besteht eine Bindung an Gestaltungsurteile wie Ehescheidung, Entzug der Fahrerlaubnis). Im Verhältnis eines - freisprechenden - Strafurteils zu einer Klage aus § 1 OEG besteht keine Bindung, zumal unterschiedliche Prozessgrundsätze zugrunde liegen („In dubio pro reo“ im Strafprozess, nicht jedoch zu Lasten eines Verbrechensopfers). Dass ein späteres Urteil auf ein früheres Rücksicht nimmt und nicht grundlos davon abweicht, ist schon aus Gründen der Arbeitsersparnis selbstverständlich, schließt aber nicht aus, dass das Sozialgericht eine hinreichend begründete eigenständige Würdigung vornimmt (BSG S. 2301).
4. Somit sind die Voraussetzungen des § 32 II StGB in der Person des HP zu prüfen.
a) Es müsste ein gegenwärtiger Angriff auf HP durch L vorgelegen haben. Nach dem Öffnen der Haustür versuchte L, mit Faustschlägen gegen HP vorzugehen, was als gegenwärtiger Angriff zu werten ist. BSG: Es lag ein gegenwärtiger, gegen die körperliche Unversehrtheit des P gerichteter Angriff vor, als der wesentlich jüngere, durchtrainierte L sofort nach Öffnen der Eingangstür mit Fäusten auf den älteren, kleineren und durch einen Bandscheibenschaden beeinträchtigten P losging. Wenngleich L dem P noch keine Verletzungen zugefügt hatte, war jedoch erkennbar, dass solche unmittelbar bevorstanden ( … ). Dies genügt für die Annahme eines gegenwärtigen Angriffs.
b) Der Angriff des L müsste rechtswidrig gewesen sein. (Die Rechtswidrigkeit des Handelns des HP, die nach oben 3. zu prüfen ist, hängt also davon ab, ob L seinerseits den HP rechtswidrig angegriffen hat.) Das ist nur dann nicht der Fall, wenn dem L ein Rechtfertigungsgrund zur Seite stand.
aa) In Betracht kommt wiederum Notwehr. L selbst war keinem Angriff ausgesetzt. Notwehr ist nach § 32 II StGB aber auch möglich, um einen anderen - hier FP - vor einem Angriff zu schützen (Notwehr in der Form der Nothilfe). FP war jedoch keinem Angriff ihres Ehemannes ausgesetzt. HP hatte zwar einen kurzen Augenblick rechtswidrig auf FP eingewirkt, als er sie durch Einsatz körperlicher Gewalt in das Obergeschoss bringen wollte. Dieser Angriff war aber beendet, und es war auch nicht mit einer Fortsetzung zu rechnen. Eine Nothilfesituation bestand somit nicht.
bb) Allerdings ging L von einer Nothilfesituation aus und durfte aufgrund der Umstände - Hilferufe der auf dem Boden liegenden FP, neben ihr HP mit einem Messer - auch davon ausgehen. Das reicht für einen Rechtfertigungsgrund aber nicht aus. BSG: Die Verkennung der Situation durch L schloss die Rechtswidrigkeit seiner Handlung nicht aus (Fall der sog. Putativnothilfe). Da der Irrtum für L aufgrund der besonderen Umstände … unvermeidbar und somit nicht vorwerfbar war, schließt dies die Annahme schuldhaften Handelns, auch der fahrlässigen Begehung einer Tat (vgl. hierzu BGH, NJW 1989, 3027 [3028]), aus. Die durch die Rechtsgutverletzung indizierte Rechtswidrigkeit entfällt damit allerdings nicht (vgl. hierzu Wessels, StrafR AT, 27. Aufl., Rdnr. 352). Deshalb durfte sich P zur Wehr setzen. Denn die Notwehr setzt lediglich einen rechtswidrigen Angriff, nicht aber schuldhaftes Verhalten des Angreifers voraus …
Nach BSG war der Angriff des L rechtswidrig. Für HP lag eine Notwehrlage vor.
c) Der Einsatz des Messers durch HP müsste eine erforderliche Verteidigung gegenüber dem Angriff des L gewesen sein.
aa) Erforderlich ist alles, was zu einer wirksamen Verteidigung gehört, eine möglichst sofortige Beendigung erwarten lässt und die endgültige Beseitigung der Gefahr am besten gewährleistet … Dabei bestimmt sich der Rahmen der erforderlichen Verteidigung nach den gesamten Umständen, unter welchen sich Angriff und Abwehr abspielen; insbesondere sind von Bedeutung Stärke und Gefährlichkeit des Angreifers und die Verteidigungsmöglichkeiten des Angegriffenen … Ein Ausweichen ist dem Angegriffenen grundsätzlich nicht zumutbar … Insoweit gilt der Grundsatz, dass das Recht dem Unrecht nicht zu weichen braucht.
bb) Im Fall des HP hatten einfache Abwehrhandlungen nicht zur Beendigung des Angriffs geführt. Aufgrund seiner körperlichen Unterlegenheit standen ihm auch andere Abwehrmöglichkeiten nicht zur Verfügung. Somit durfte HP das Messer gezielt zur Abwehr einsetzen. Denn er war durch seinen Bandscheibenvorfall behindert und dem wesentlich jüngeren durchtrainierten L weit unterlegen. Die von P getroffene Wahl des Verteidigungsmittels ließ eine sofortige und endgültige Beseitigung der Gefahr erwarten.
d) Ob die Verteidigungshandlung des HP auch geboten war i. S. des § 32 II StGB, ist in Anwendung der Grundsätze über die sozialethisch begründeten Einschränkungen des Notwehrrechts zu entscheiden (dazu Tröndle/Fischer, StGB, 49. Aufl., § 32 Rnr 18 ff.; BSG S. 2302 m. Nachw. auf die Rspr.).
aa) Fallgruppen sind
bb) Wie ausgeführt, handelte L schuldlos. In solchem Fall wird die Rechtsordnung durch den schuldlos Handelnden nicht derart schwer verletzt, so dass das Interesse an der Rechtsbewahrung in den Hintergrund tritt. Als Folge davon muss der Täter [hier HP] dem Angriff - soweit möglich - ausweichen oder sich eines weniger gefährlichen Verteidigungsmittels bedienen.
Danach war das Notwehrrecht des P gegenüber L eingeschränkt, der irrtümlich eine Nothilfesituation annahm und dem insoweit, weil dieser Irrtum unvermeidbar war, kein Schuldvorwurf gemacht werden kann. Es war erkennbar, dass L sich in einem Irrtum über die Nothilfesituation befand. Hierfür spricht, dass er erst Einlass begehrte, nachdem er Hilferufe gehört hatte und dass ihm P mit dem Messer in der Hand die Tür öffnete, während Frau P im Flur auf dem Boden lag. In dieser Situation wäre P zuzumuten gewesen, sich so zu verhalten, dass L seinen Irrtum hätte erkennen können, oder das Messer nicht gezielt auf den Brustkorb, sondern zur Abwehr auf Arme oder Beine des L zu richten. P hätte aber auch in die Küche oder in den hinteren Flurbereich, wo sich Frau P befand, ausweichen können.
Somit war der Einsatz des Messers in der geschehenen Weise nicht zur Notwehr geboten. HP hat nicht rechtmäßig, sondern rechtswidrig gehandelt. Die Voraussetzungen des § 1 I OEG liegen vor.
III. Nach § 2 OEG besteht kein Anspruch auf Leistungen,
Hierbei ist auf L, das Opfer des Tötungsdelikts, abzustellen.
1. Wesentlich mitverursacht hat das Opfer die Schädigung, wenn sein Verhalten in etwa dem Tatbeitrag des Schädigers gleichwertig ist.… Ein Leistungsausschluss ist nur dann gerechtfertigt, wenn das Verhalten des Tatopfers von der Rechtsordnung in gleicher Weise wie dasjenige des Angreifers missbilligt wird. Da L Frau P helfen und damit die Rechtsordnung verteidigen wollte, wird sein Verhalten nicht in gleicher Weise missbilligt wie die Tötung eines Menschen durch HP. L hat somit die Schädigung nicht wesentlich mitverursacht.
2. Damit steht zugleich fest, dass keine sonstigen Gründe vorliegen, L bzw. seinen Hinterbliebenen eine Entschädigung aus Billigkeitsgründen vorzuenthalten.
Die Ansprüche der Hinterbliebenen des L auf Versorgungsrenten sind begründet.