Bearbeiter: Prof. Dr. Rainer Strauß
Der folgende Fall enthält eine konsequente Anwendung eines Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1995 (BVerfGE 92, 1 = NJW 1995, 1141). Das BVerfG hat in dieser sog. „Sitzblockaden-Entscheidung“ ausgeführt, daß der bis dahin von der Rechtsprechung des BGH verwendete Gewaltbegriff verfassungswidrig sei. Der BGH hatte im Rahmen des § 240 StGB das Maß der notwendigen Kraftentfaltung ganz wesentlich verringert und das Erfordernis einer körperlichen Zwangseinwirkung auf das Nötigungsopfer aufgegeben. Danach sollte es ausreichen, daß der Täter mit nur geringem körperlichen Kraftaufwand einen psychisch determinierten Prozeß beim Opfer in Gang setzt. Der BGH hatte damit eine Vergeistigung oder Entmateralisierung des Gewaltbegriffs bei § 240 StGB vorgenommen. Das BVerfG warf dem BGH jedoch vor, dadurch § 103 II GG zu verletzen, weil der Bürger nicht mehr erkennen könne, welches Verhalten letztlich erlaubt sei und welches nicht.
OLG Düsseldorf Beschluß vom 25. 2. 1999 (1 Ws 16/99) NJW 1999, 2912
Fall (Zwangseinwirkung rein psychisch)
A ist Mitarbeiter eines Großmarktes. Als der Kunde K dort eingekauft hatte und den Großmarkt verlassen wollte, kam A auf ihn zu und sagte: „So, dann wollen wir mal“, und verlangte von K die Rechnung für die sich im Einkaufswagen befindlichen Waren. Als dieser erklärte, er habe dafür keine Zeit, stellte sich A vor diesen in den Ausgang, um ihn daran zu hindern, mit dem Einkaufswagen den Großmarkt zu verlassen. In dem anschließenden Wortwechsel beharrte A darauf, daß er erst weggehe, wenn er die Rechnung der Waren gesehen und überprüft habe. Die Auseinandersetzung endete nach vier Minuten damit, daß K dem A seinen Ausweis aushändigte und dieser den Weg freigab. Strafbarkeit des A ?
I. A könnte sich wegen Nötigung gemäß § 240 I StGB strafbar gemacht haben.
Dann müßte A den K mit Gewalt zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung genötigt haben. Das OLG verneint dies: Tatbestandsmäßige Gewalt scheidet aus, wenn das Verhalten des Täters sich in der körperlichen Anwesenheit an einer Stelle erschöpft, die ein einzelner einnehmen oder passieren möchte, die Zwangswirkung an den Genötigten also nur psychischer Natur ist. .... Das war hier der Fall. Der Beschuldigte hat dem Ast. ohne direkte körperliche Einwirkung lediglich den Weg versperrt.
A hat sich somit nicht gemäß § 240 I StGB wegen Nötigung strafbar gemacht.
II. A könnte sich wegen Freiheitsberaubung gemäß § 239 I StGB strafbar gemacht haben.
Dann müßte A den K seiner Freiheit beraubt haben. Zwar hat A den K vier Minuten daran gehindert, den Großmarkt mit dem Einkaufswagen zu verlassen. Jedoch setzt eine Freiheitsberaubung gemäß § 239 I StGB voraus, daß die Fortbewegungsfreiheit des Betroffenen vollständig aufgehoben war, er also zum Gefangenen oder absolut Unfreien gemacht worden ist (BGH, NJW 1993, 1807 m. w. Nachw.). Hier hätte K den Großmarkt ohne Einkaufswagen jederzeit verlassen können, so daß eine vollständige Aufhebung der Fortbewegungsfreiheit nicht gegeben war. A hat sich somit auch nicht wegen einer Freiheitsberaubung strafbar gemacht. A ist straflos.
Leitsatz des Bearbeiters:
Die reine körperliche Präsenz an einer bestimmten Stelle, die ein anderer passieren möchte, ist keine Gewalt i. S. des § 240 I StGB.