Bearbeiter: Prof. Dr. Rainer Strauß

Der folgende Fall befasst sich mit der Frage, welche Gewaltanwendung im Rahmen des Festnahmerechts gemäß § 127 I 1 StGB erlaubt und wie eine irrtümliche Überschreitung der Festnahmemittel zu beurteilen ist. Er wird von Mitsch JuS 2000, 848 näher behandelt und als „idealer Gegenstand einer Klausur“ bezeichnet.

BGH Urteil vom 10.2.2000 (4 StR 558/99) NJW 2000, 1348

Fall (Würgegriff)

Kaufhausdetektiv A glaubte gesehen zu haben, wie der B einige CDs in seine Jackentasche steckte. Als er B darauf ansprach und dessen Personalien verlangte, ergriff dieser die Flucht. A verfolgte den 13 cm größeren und 13 kg schwereren B. Als er ihn eingeholt hatte, sprang er ihn von hinten an und legte seinen linken Arm um dessen Hals. Durch den Ansprung fielen beide zu Boden. Während A versuchte, den in die Unterlage geratenen B am Boden zu fixieren, rief er um Hilfe und forderte B mehrfach auf, sich zu ergeben und zum Zeichen der Aufgabe mit der Hand auf den Boden zu schlagen. Wenige Augenblicke später kam ein anderer Angestellter des Kaufhauses (C) hinzu und hielt die rechte Hand des B und, als dieser mit seinen Beinen heftig um sich schlug, auch ein Bein fest. Kurz danach erschien auch der Leiter des Kaufhauses (D) und drückte den rechten Arm des B, den C kaum noch halten konnte, mit seinem Knie zu Boden. Ferner veranlasste er, dass die Polizei verständigt wurde. Während der gesamten Zeit hielt A den Hals des B weiter in seiner linken Armbeuge, wobei er B mindestens drei Minuten derart würgte, dass diesem die Luftzufuhr für mindestens zwei Minuten vollständig abgeschnitten wurde. Die ein- oder zweimal von D gestellte Frage, ob B noch Luft bekomme, bejahte A. Als wenig später der Polizeibeamte E erschien, forderte D diesen auf, B Handfesseln anzulegen, da B sich nach dem Eindruck des D immer noch stark wehrte. Nachdem D und C den nunmehr regungslos am Boden liegenden A losgelassen hatten, diesem Handfesseln angelegt worden waren und auch A losließ, drehte E den B um. Das Gesicht des B war blau verfärbt. Er war infolge der Strangulation durch den Würgegriff des A erstickt. In seiner Jacke wurden fünf CDs gefunden, die aus dem Kaufhaus stammten und nicht bezahlt worden waren. Strafbarkeit des A?

I. A könnte sich wegen einer Körperverletzung mit Todesfolge gemäß § 227 I StGB strafbar gemacht haben.

1. A sprang B von hinten an, riss ihn zu Boden und nahm ihn in einen Würgegriff. Er hat B daher übel und unangemessen behandelt und zudem einer das Leben gefährdenden Behandlung ausgesetzt. Eine gefährliche Körperverletzung gemäß § 223 I, 224 I Nr. 5 StGB ist gegeben.

2. Durch die Körperverletzung ist der Tod des B in tatspezifischer Weise eingetreten.

3. Gemäß § 18 StGB muss A die schwere Folge mindestens fahrlässig herbeigeführt haben. Das setzt eine objektive Sorgfaltspflichtverletzung bei objektiver Vorhersehbarkeit des tatbestandlichen Erfolges voraus. Die objektive Sorgfaltspflichtverletzung ist bereits infolge der vorsätzlich begangenen gefährlichen Körperverletzung zu bejahen. Die objektive Vorhersehbarkeit ist gegeben, wenn der Eintritt des tatbestandlichen Erfolges innerhalb der allgemeinen Lebenswahrscheinlichkeiten liegt. Dass ein mit vehementer Gewalt durchgeführter Würgegriff nach 3 bis 5 Minuten zum Tode des Opfers führen kann, ist naheliegend. Der Tod des A war daher auch objektiv vorhersehbar.

4. Rechtswidrigkeit

a) A könnte durch das Festnahmerecht gemäß § 127 I 1 StPO gerechtfertigt gewesen sein.

aa) Dann müsste eine Festnahmelage zugunsten des A gegeben sein. Diese setzt voraus, dass A den B auf frischer Tat verfolgt oder betroffen hat.

A hat, indem er die fünf CDs in seine Jackentasche steckte, einen vollendeten Diebstahl begangen. Da sich sein Tatverdacht - durch Auffinden der entwendeten CDs in der Jackentasche des B - bestätigt hat, kommt es auf die umstrittene Frage, ob eine Festnahme nach § 127 I 1 StPO nur zulässig ist, wenn eine Straftat wirklich begangen worden ist ..., nicht an (vgl. zu diesem Problem, Strauß, Strafrecht, Fälle und Lösungen, 3. Auflage, Fall 1 S. 19).

Da A den B noch am Tatort gestellt hat, hat er ihn auf frischer Tat betroffen. Eine Festnahmelage war daher gegeben.

bb) Weiterhin ist eine Festnahmehandlung erforderlich. § 127 I 1 StGB gibt ein Festnahmerecht für jedermann. Daher gestattet das Recht zur Festnahme nicht die Anwendung eines jeden Mittels, das zur Erreichung dieses Zieles erforderlich ist, selbst wenn die Ausführung oder Aufrechterhaltung der Festnahme sonst nicht möglich wäre. Das angewendete Mittel muss vielmehr zum Festnahmezweck in einem angemessenen Verhältnis stehen. Unzulässig ist es daher regelmäßig, die Flucht eines Straftäters durch Handlungen zu verhindern, die zu einer ernsthaften Beschädigung seiner Gesundheit oder zu einer unmittelbaren Gefährdung seines Lebens führen... Dazu gehört auch das lebensgefährliche Würgen eines auf frischer Tat Betroffenen. Der durch § 127 I StPO geschützte staatliche Strafanspruch hat nämlich grundsätzlich hinter die Gesundheit des Straftäters zurückzutreten. Somit war nur die Fixierung am Boden gemäß § 127 I 1 StPO gerechtfertigt, nicht aber der mit vehementer Gewalt durchgeführte Würgegriff. Eine Rechtfertigung der durch den Würgegriff verursachten gefährlichen Körperverletzung gemäß § 127 I 1 StPO scheidet daher aus.

b) Die durch den Würgegriff verursachte gefährliche Körperverletzung mit Todesfolge könnte durch Notwehr gemäß § 32 I StGB gerechtfertigt gewesen sein.

aa) Dies setzt eine Notwehrlage des A voraus, welche einen gegenwärtigenrechtswidrigen Angriff zur Voraussetzung hat. B versuchte, sich aus der Fixierung am Boden zu lösen. Er schlug mit den Beinen nach A. Dies war ein gegenwärtiger Angriff auf die körperliche Unversehrtheit des A. Der Angriff war auch rechtswidrig, da A zur Fixierung am Boden gemäß § 127 I 1 StPO gerechtfertigt war. A befand sich daher in einer Notwehrlage.

bb) Weiterhin müsste eine wirksame Notwehrhandlung des A gegeben sein. Das setzt voraus, dass dessen Abwehrhandlungen erforderlich gewesen sind. Erforderlich ist alles, was eine wirksame Beendigung des Angriffs erwarten lässt und dessen endgültige Beseitigung gewährleistet. Unter mehreren, gleich wirksamen Verteidigungsmöglichkeiten ist diejenige zu wählen, die den geringsten Schaden anrichtet. A durfte somit dasjenige Abwehrmittel wählen, das eine sofortige und endgültige Beseitigung der Gefahr gewährleistete ... Er war nicht gehalten, auf die Anwendung weniger gefährlicher Abwehrmittel zurückzugreifen, wenn deren Wirkung für die Abwehr zweifelhaft war; auf einen Kampf mit ungewissem Ausgang brauchte er sich nicht einzulassen.... Für einen objektiven Dritten in der Tatsituation des A ... gab es hier zum - lediglich mit Körperverletzungswillen vorgenommenen - Anlegen des Würgegriffs keine mildere Handlungsalternative. Auf mehrfache Aufforderung zu Beginn der auch von A gegenüber seinem größeren, schweren und gewaltbereiten Gegner mit bloßer Körperkraft ausgetragenen Auseinandersetzung, sich durch Handzeichen zu ergeben, ist der zu diesem Zeitpunkt noch nicht bewusstlose B nämlich nicht eingegangen.

Die Rechtfertigung des Würgegriffs entfiel jedoch objektiv, als B … bewusstlos wurde und mit Erstickungskrämpfen reagierte. Der A war jetzt, soweit Trutzwehr überhaupt erforderlich war, zur größtmöglichen Schonung angehalten. Da er dies nicht beachtete, hat er sein Notwehrrecht überschritten und somit rechtswidrig gehandelt.

4. Schuld

A könnte sich in einem Erlaubnistatbestandsirrtum befunden haben.

a) Ein solcher ist gegeben, wenn der Täter Tatumstände annimmt, die, lägen sie tatsächlich vor, die Voraussetzungen eines anerkannten Rechtfertigungsgrundes begründen würden. A hat sich vorgestellt, B setze sich die ganze Zeit zur Wehr. Wäre dies tatsächlich der Fall gewesen, wäre der andauernde Würgegriff die erforderliche Verteidigungshandlung gewesen. A hat sich somit Tatumstände vorgestellt, die ihn gemäß § 32 I StGB gerechtfertigt hätten. Er befand sich deshalb in einem Erlaubnistatbestandsirrtum.

b) Welche Rechtsfolgen an einen solchen Irrtum zu knüpfen sind, hängt von der deliktsdogmatischen Einordnung des Unrechtsbewusstseins als Vorsatz- oder Schuldelement ab (vgl. Schönke/Schnöder/Lenckner § 16 Rnr. 14 ff; in einer Falllösung dargestellt bei Strauß, Strafrecht, Fälle und Lösungen, 3. Auflage, Fall 3, S. 38 ff). Geht man mit der herrschenden rechtsfolgenverweisenden eingeschränkten Schuldtheorie davon aus, dass der Erlaubnistatbestandsirrtum in seinen Rechtsfolgen dem in § 16 I 1 StGB geregelten Tatbestandsirrtum gleichzustellen ist, entfällt der Vorsatzschuldvorwurf des A. Hiernach hat A sich nicht wegen einer Körperverletzung mit Todesfolge gemäß § 227 I StGB strafbar gemacht.

II. A hat könnte sich wegen einer fahrlässigen Tötung gemäß § 222 StGB strafbar gemacht haben.

1. A hat den Tod des B durch die Anwendung des Würgegriffs verursacht.

2. Weiterhin müsste A eine objektive Sorgfaltspflichtverletzung bei objektiver Vorhersehbarkeit des Erfolges begangen haben.

a) Für die Feststellung des Sorgfaltspflichtmaßstabes ist entscheidend, wie ein besonnen und gewissenhaft handelnder Mensch gehandelt hätte, wobei das Sonderwissen des Täters zu berücksichtigen ist. Ein solcher Mensch hätte den Würgegriff nicht derart heftig über mehrere Minuten angewendet, sondern diesen spätestens nach einer Minute gelockert. A hat dies nicht getan, sondern B mit gleichbleibender Intensität fest im Würgegriff gehalten. Eine objektive Sorgfaltspflichtverletzung ist daher gegeben.

b) Objektiv vorhersehbar ist ein tatbestandlicher Erfolg, wenn er innerhalb der allgemeinen Lebenswahrscheinlichkeit liegt. Dass ein mit vehementer Gewalt durchgeführter Würgegriff nach zwei Minuten zum Tode des Gewürgten führen kann, liegt innerhalb der allgemeinen Lebenswahrscheinlichkeit. Der Todeseintritt war somit objektiv vorhersehbar.

3. Zwischen der Sorgfaltspflichtverletzung und dem Eintritt des tatbestandlichen Erfolges bestand auch der für § 222 StGB erforderliche Zurechnungszusammenhang.

4. Rechtswidrigkeit

Ein Rechtfertigungsgrund zugunsten des A greift nicht (siehe I.3.).

3. Schuld

a) Nach der eingeschränkten rechtsfolgenverweisenden Schuldtheorie gilt § 16 I 2StGB analog. Der Erlaubnistatbestandsirrtum wirkt sich somit auf eine Bestrafung wegen einer fahrlässigen Tötung gemäß § 222 StGB nicht aus.

b) Ein subjektiver Sorgfaltspflichtverstoß bei subjektiver Vorhersehbarkeit des tatbestandlichen Erfolges ist gegeben, da dem A sein Verhalten persönlich vorwerfbar ist. Ihm war nämlich die Gefährlichkeit des Würgegriffs bekannt, durch konkret erkennbare (dyspnoische Atembewegungen des B) und durch die Frage des Kaufhausleiters „ob der Mann noch Luft bekomme“, zusätzlich vor Augen geführt worden. A hat sich somit wegen einer fahrlässigen Tötung gemäß § 222 StGB strafbar gemacht.

Leitsätze des Bearbeiters:

1. Das Festnahmerecht gemäß § 127 I 1 StPO erlaubt nur die Anwendung von Mitteln, welche die Flucht des Täters verhindern sollen. Unzulässig sind Gewaltanwendungen, die eine ernsthafte Gesundheitsbeschädigung des Täters zur Folge haben.

2. Überschreitet der Täter irrtümlich die Grenzen eines anerkannten Rechtfertigungsgrundes, so befindet er sich in einem Erlaubnistatbestandsirrtum. Nach der rechtsfolgenverweisenden eingeschränkten Schuldtheorie wird dieser in seinen Rechtsfolgen dem in § 16 I 1 StGB geregelten Tatbestandsirrtum gleichgestellt. Dies hat zur Folge, dass der Täter nur aus einem Fahrlässigkeitstatbestand bestraft werden kann.