Bearbeiter:Dr. Rainer Strauß
Der folgende Fall befasst sich mit der Frage, unter welchen Voraussetzungen § 315 b StGB auf Verkehrsvorgänge im fließenden Verkehr Anwendung findet.
OLG Hamm Beschluss vom 21.3.2000 (4 Ss 121/2000) NJW 2000, 2686
Fall (Beifahrer zieht Handbremse an)
A fuhr als Beifahrer mit B in dessen Pkw. Im Gegensatz zu B war er angeschnallt. A wusste, dass B ein rasanter Fahrer war, der sich häufig nicht an die zulässigen Höchstgeschwindigkeiten hielt. Auf einer Bundesstraße beschleunigte B seinen Pkw auf 140 km/h, obwohl die zulässige Höchstgeschwindigkeit dort nur 100 km/h beträgt. Allerdings ist die Fahrbahn im dortigen Bereich gut ausgebaut und verläuft mit einer Breite von 8 m bis zur späteren Unfallstrecke völlig geradlinig. A bekam wegen der rasanten Fahrt des B große Angst. Er forderte B auf, langsamer zu fahren und sich anzuschnallen; anderenfalls werde er die Handbremse ziehen. B reagierte nicht. Daraufhin zog A die in der Mitte zwischen den beiden Vordersitzen des Fahrzeugs befindliche Handbremse bis zum Anschlag an, so dass der Pkw stark abgebremst wurde. Dies tat er in Kenntnis des Umstandes, dass das Betätigen der Handbremse bei voller Fahrt, insbesondere bei einer Geschwindigkeit im Bereich von 140 km/h, in höchstem Maße gefährlich war und die Gefahr eines Verkehrsunfalls bestand. Tatsächlich konnte B den Pkw nicht mehr auf der Straße halten und kam von der Fahrbahn ab. Der Pkw überschlug sich mehrmals und blieb schließlich in einem Maisfeld liegen. A und B wurden schwer verletzt, wobei der nicht angeschnallte B wesentlich schwerere Verletzungen davontrug. Strafbarkeit des A?
I. A könnte sich wegen eines gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr gemäß §§ 315 b I Nr. 3 StGB strafbar gemacht haben.
1. Dann müsste die Vorschrift auf interne Verkehrsvorgänge anwendbar sein. Auf Verkehrsvorgänge aus dem fließenden oder ruhenden Verkehr ist § 315 b StGB grundsätzlich nicht anwendbar, da alle internen Verkehrsvorgänge, die wegen ihrer Gefährlichkeit als Vergehen geahndet werden sollen, durch den Katalog der Vorschrift des § 315 c I Nr. 1 a) bis g) StGB abschließend erfasst sind (Schönke/Schröder § 263 Rnr. 7). Allerdings findet nach der Rechtsprechung des BGH § 315 b StGB dennoch auf interne Verkehrsvorgänge Anwendung, wenn diese sich der Sache nach als verkehrsfremde Eingriffe darstellen. Das ist z. B. der Fall, wenn der Täter das von ihm gesteuerte Fahrzeug in verkehrsfeindlicher Absicht bewusst zweckwidrig einsetzt, wenn er z.B. auf einen Fußgänger zufährt, um diesen zu verletzen. Für die Annahme einer solchen bewussten zweckwidrigen Verwendung ist stets erforderlich, dass der Täter in der Absicht handelt, das Fahrzeug als Verkehrsmittel zu entfremden. Ziel des Täters muss es sein, dass der von ihm herbeigeführte Verkehrsvorgang zu einem Eingriff in den Straßenverkehr „pervertiert“; es muss ihm darauf ankommen, dadurch in die Sicherheit des Straßenverkehrs einzugreifen. Sein Handeln muss durch ein verkehrsfeindliches Verhalten unter bewusster Zweckentfremdung des Fahrzeugs gekennzeichnet sein.
Dies verneint das OLG Hamm hier aus folgenden Gründen: Eine bewusste Zweckentfremdung ... läge vor, wenn das Fahrzeug als Mittel zur Durchsetzung verkehrsfremder Absichten, zum Beispiel als Mittel der Gewalt bei der Begehung einer Straftat hätte dienen sollen. .... Der Angekl. hat ... das Kfz nicht etwa zur Durchsetzung einer Nötigungs- oder Verletzungsabsicht verwendet, sondern nur während der Fahrt versucht, durch Anziehen der Handbremse die Geschwindigkeit des Fahrzeugs zu verringern und das Verhalten des Fahrers in Richtung einer den Verkehrsvorschriften angepassten Fahrweise zu beeinflussen, wobei er wegen der Fahrweise des Zeugen große Angst hatte.
Das Verhalten des Angekl. war insoweit nicht auf eine „Pervertierung“ oder - wie die Strafkammer ausführt - „Verhinderung“ eines Verkehrsvorgangs gerichtet, sondern er verfolgte das Ziel, eine aus seiner Sicht „verkehrsgerechte“ Fahrweise des Fahrers herbeizuführen. Für eine etwaige Absicht, mit dem Kfz einen Verkehrsunfall herbeizuführen, etwa um den Fahrer dadurch körperlich zu verletzen, spricht nach den getroffenen Feststellungen ebenso wenig wie dafür, dass der Angekl. bezüglich der Gefährdung des Fahrers oder des Kfz mit bedingtem Vorsatz gehandelt hat.
2. A hat sich somit nicht wegen eines gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr gemäß §§ 315 b I Nr. 3 StGB strafbar gemacht.
II. A hat könnte sich wegen einer fährlässigen Körperverletzung gemäß § 229 StGB strafbar gemacht haben.
1. A hat durch das Ziehen der Handbremse die Verletzungen des B verursacht.
2. Weiterhin müsste eine objektive Sorgfaltspflichtverletzung bei objektiverVorhersehbarkeit des tatbestandlichen Erfolges gegeben sein. Das Ziehen der Handbremse bei voller Fahrt - Tempo 140 km/h - stellt eine objektive Sorgfaltspflichtverletzung dar. Objektiv vorhersehbar ist der tatbestandliche Erfolg, wenn er innerhalb der allgemeinen Lebenswahrscheinlichkeiten liegt. Es liegt innerhalb der allgemeinen Lebenswahrscheinlichkeiten, dass ein Fahrzeug außer Kontrolle gerät und sich überschlägt und dadurch Fahrzeuginsassen verletzt werden, wenn ein Beifahrer bei Tempo 140 km/h die Handbremse anzieht. Die Verletzungen des B waren somit auch objektiv vorhersehbar.
3. Zwischen der Sorgfaltspflichtverletzung und dem Eintritt des Erfolges bestand der für § 229 StGB erforderliche Zurechnungszusammenhang, da die Verletzungen des B aufgrund der Sorgfaltspflichtverletzung des A eingetreten sind.
4. Weiterhin müsste A rechtswidrig gehandelt haben.
A könnte gemäß § 32 I StGB durch Notwehr gerechtfertigt gewesen sein. Dann müsste eine Notwehrlage zugunsten des A gegeben sein. Diese setzt einen gegenwärtigen und rechtswidrigen Angriff voraus. Ein Angriff ist jedes menschliche Verhalten, durch das rechtlich geschützte Interessen verletzt werden können. Durch die rasante Fahrweise des B könnte die körperliche Integrität des A bedroht gewesen sein. B fuhr zwar mit deutlich überhöhter Geschwindigkeit. Die Fahrbahn im dortigen Bereich war jedoch gut ausgebaut und verlief mit einer Breite von 8 m bis zur späteren Unfallstrecke völlig geradlinig. Es bestand daher zum Zeitpunkt, als A die Handbremse anzog, keine konkrete Unfallgefahr. Die körperliche Integrität des A war somit nicht gefährdet. Ein Angriff seitens des B ist daher nicht gegeben, so dass eine Rechtfertigung des A gemäß § 32 I StGB mangels Notwehrlage ausscheidet. A hat rechtswidrig gehandelt.
5. A handelte auch schuldhaft, da ihm sein Verhalten persönlich vorwerfbar ist. Er hätte erkennen können, dass B durch das Ziehen der Handbremse bei voller Fahrt die Gewalt über das Fahrzeug verlieren würde, dieses sich überschlagen und B hierdurch schwer verletzt werden würde. A hat sich daher wegen einer fahrlässigen Körperverletzung gemäß § 229 StGB strafbar gemacht.
Leitsatz des Bearbeiters
Ein gefährlicher Eingriff i. S. des § 315 b StGB ist bei verkehrsinternen Vorgängen nur gegeben, wenn das Handeln des Täters durch verkehrsfeindliches Verhalten unter bewusster Zweckentfremdung des Fahrzeuges geprägt ist.