Bearbeiter: RA Dr. Rainer Strauß

Tatprovokation durch polizeiliche „Vertrauensperson“ bei Rauschgiftkriminalität. Recht auf faires Verfahren nach Art. 6 I 1 EMRK. Strafzumessungslösung bei Verletzung, § 46 StGB

BGH Urteil vom 30.5.2001 (1 StR 42/01) NJW 2001, 2981, NStZ 2001, 553

Fall (Lockspitzel will Heroin)

A lernte in einem Lokal den VP kennen. VP war, ohne dass A das wusste, als sog. Vertrauensperson für die Polizei im Bereich der Drogenszene tätig (war aber kein Polizeibeamter, d.h. er war kein - vom V-Mann zu unterscheidender - „Verdeckter Ermittler“). A und VP machten einige kleinere Haschischgeschäfte. Obwohl A nicht im Verdacht stand, mit Heroin zu handeln, sprach VP ihn darauf an. A wehrte erschrocken ab. Zwei Tage später bat VP den A geradezu flehentlich darum, ihm Heroin zu besorgen, und behauptete, wenn er seine Kunden nicht mehr mit qualitativ hochwertigem Heroin versorgen könne, sei er in akuter Lebensgefahr. Daraufhin stellte A den Kontakt mit einem Heroinhändler her, der sich gegenüber A zur Lieferung von Heroin bereit erklärte. Da der Händler kaum Deutsch sprach, stellte A sich auf Drängen des VP bei der am 1.7. geplanten Übergabe als Dolmetscher zur Verfügung. Bei der Übergabe von 500 g Heroin nahm die Polizei den A, den sie auf Veranlassung des VP die ganze Zeit überwacht hatte, fest. Kann A wegen seines Verhaltens am 1.7. nach § 29a I Nr. 2 BtMG (Beteiligung an einem unerlaubten Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge) bestraft werden ?

A hat den Tatbestand dieses Delikts vorsätzlich verwirklicht. Gleichwohl könnte seine Strafbarkeit gemildert sein oder ganz entfallen, weil er zu der Tat mit Wissen staatlicher Organe provoziert worden ist.

I. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) NStZ 1999, 47 und der BGH (bereits BGHSt 45, 321 ff.) wenden Art. 6 I 1 Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) an.

1. In dieser Vorschrift, die in der Bundesrepublik aufgrund Ratifikation mit der Kraft eines einfachen Gesetzes gilt und deshalb für Polizei und Gerichte verbindlich ist (BGH NJW 2000, 1123, 1125; Kudlich JuS 2000, 953), ist das Recht auf ein faires Verfahren enthalten.

a) Dieses steht dem Einsatz von V-Personen nicht grundsätzlich entgegen. BGH S. 2981 unter b): Wegen der besonderen Lage in der Rauschgiftszene kann es dem Staat nicht verwehrt sein, auch zum Mittel der Tatprovokation zu greifen, weil anderenfalls ein weites Kriminalitätsfeld - das des Handeltreibens mit Drogen in großem Stil - weit gehend unaufgeklärt bliebe und sich kriminelle Strukturen weit gehend unbehelligt entwickeln könnten.

b) Das Recht auf eine faires Verfahren ist jedoch verletzt (BGH S. 2981 unter 1), wenn eine unverdächtige und zunächst nicht tatgeneigte Person durch die von einem Amtsträger geführte VP in einer dem Staat zuzurechnenden Weise zu einer Straftat verleitet wird und dies zu einem Strafverfahren führt. Konkreter im Hinblick auf die vorliegende Fallgruppe formuliert der LS der Entscheidung: Der Grundsatz des fairen Verfahrens (gem. Art. 6 I 1 EMRK) kann verletzt sein, wenn das im Rahmen einer Tatprovokation durch eine von der Polizei geführte Vertrauensperson angesonnene Drogengeschäft nicht mehr in einem angemessenen, deliktsspezifischen Verhältnis zu dem jeweils individuell gegen den Provozierten bestehenden Tatverdacht steht.

c) BGH S. 2981 unter 1: Eine unzulässige Tatprovokation ist dem Staat im Blick auf die Gewährleistung des fairen Verfahrens dann zuzurechnen, wenn diese Provokation mit Wissen eines für die Anleitung der VP verantwortlichen Amtsträgers geschieht oder dieser sie jedenfalls hätte unterbinden können. Erteilt die Polizei einen Auftrag an eine VP, hat sie die Möglichkeit und die Pflicht, diese Person zu überwachen. Im vorliegenden Fall bestand diese Überwachungspflicht, so dass dem Staat das Handeln der VP zuzurechnen ist. Eine Ausnahme nimmt der BGH an, wenn die Polizei mit einem Fehlverhalten der VP nicht rechnen konnte (BGHSt 45, 321 [336]). Ein solcher Ausnahmefall war hier aber nicht gegeben.

2. Maßstab für die Beurteilung des Verhaltens des VP war somit der Tatverdacht, der gegen A bestand. Im vorliegenden Fall war A zwar des Handelns mit weichen Drogen verdächtigt, nicht jedoch des Handelns mit harten Drogen, zu dem VP den A verleitet hat. BGH S. 2982 unter b): In dem Verleiten zum Handeltreiben mit Heroin lag eine erhebliche Steigerung des Unrechtsgehalts der Tat. … Der Unrechtsgehalt ist von erheblich größerem Gewicht, wenn ein des Handeltreibens mit so genannten weichen Drogen Verdächtiger zum Handeltreiben mit so genannten harten Drogen in großer Menge veranlasst wird („Quantensprung“).

Somit stand das Geschäft, zu dem Polizei und VP den A provoziert haben, nicht mehr in einem angemessenen Verhältnis zu dem bisherigen Verhalten des A. Art. 6 I 1 EMRK wurde somit verletzt. (Im Originalfall konnte der BGH das noch nicht endgültig feststellen, sondern musste zurückverweisen, weil der Sachverhalt, so wie er oben angenommen wurde, noch nicht endgültig aufgeklärt war.)

II. Fraglich ist, wie sich ein Verstoß gegen Art. 6 I 1 EMRK zu Gunsten des Betroffenen auswirkt.

1. In der Literatur werden unterschiedliche Vorschläge gemacht, etwa die Anerkennung eines persönlichen Strafausschließungsgrundes der Konventionswidrigkeit (Roxin JZ 2000, 369), die Verwirkung des Strafanspruchs (Sinner/Kreuzer StV 2000, 114, 117 m.w.N. Fn. 31, 32), ein Verfahrenshindernis, ein Beweisverwertungsverbot (vgl. den Überblick über die verschiedenen Ansätze bei Kudlich JuS 2000, 952 ff.).

2. Der BGH folgt ständig und auch in dieser Entscheidung der Strafzumessungslösung. S. 2981 unter 1: … dass ein Verstoß in den Urteilsgründen festzustellen und bei Festsetzung der Rechtsfolgen … zu kompensieren ist. Es handelt sich um einen schuldunabhängigen Strafmilderungsgrund von besonderem Gewicht (BGHSt 45, 339, 341), der zu einer Milderung der Strafe bis zu einer bloßen Verwarnung mit Strafvorbehalt nach § 59 StGB gehen kann. Diese Lösung hat den Vorteil, dass sie systematisch nicht „in der Luft hängt“, sondern sich dem § 46 StGB zuordnen lässt. Die der Bestrafung zu Grunde liegenden Prinzipien der Spezial- und Generalprävention haben naturgemäß ein geringeres oder überhaupt kein Gewicht, wenn der Staat selbst den Rechtsbruch wesentlich zu verantworten hat.

Dementsprechend kann A zwar bestraft werden, aber nur mit einer geringen Strafe. Im Originalfall hatten die Vorinstanzen den A zu einer Freiheitsstrafe verurteilt. Der BGH hat den Schuldspruch aufrechterhalten, den Strafausspruch aber aufgehoben.

Zusammenfassung