Bearbeiter: RA Prof. Dieter Schmalz

Strafbarkeit der Nötigung wegen Gewaltanwendung (§ 240 I, II StGB) unter grundrechtlichem Aspekt. Bestimmtheitsgebot für Straftatbestände, Art. 103 II GG. Versammlungsfreiheit, Begriff der Versammlung, Art. 8 GG; Verhältnis zur Meinungsfreiheit, Art. 5 I GG. Verfassungsbeschwerde gegen Strafurteil

BVerfG Beschluss vom 24.10.2001 (1 BvR 1190/90, 2173/93 und 433/96) NJW 2002, 1031 (= BVerfGE 104, 92), DVBl 2002, 256, DÖV 2002, 292; JuS 2002, 707; Anmerkung von Sinn NJW 2002, 1024

Fall (Anketten in Wackersdorf und Autobahnblockade vor Basel)

(1) Eine Gruppe von 30 Personen, zu denen B1 und B2 gehörten, wollte gegen den Bau einer Wiederaufarbeitungsanlage für abgebrannte Atombrennstäbe protestieren. Sie erschienen morgens 6 Uhr vor dem Baugelände und blockierten die Zufahrt in der Weise, dass sie sich Ketten um den Körper legten, die Kette jeweils mit der des Nachbarn verbanden und die beiden am Ende der Menschenkette befindlichen Personen sich an den Torpfosten des Eingangstores anketteten. Verwendet wurden Sicherheitsschnappschlösser, für die andere Teilnehmer der Gruppe Schlüssel hatten, diese aber nicht herausgaben. An die anwesenden Personen wurden Flugblätter verteilt, in denen erläutert wurde, durch den hier geübten „gewaltfreien Widerstand“ sollten die Bauarbeiten an der Anlage symbolisch eingestellt und nachdrücklich auf die Gefahren der Atomenergie hingewiesen werden. Die alsbald erschienene Polizei erklärte gegen 8 Uhr die Versammlung für aufgelöst und begann anschließend damit, die Ketten mit Bolzenschneidern zu durchtrennen. Die losgeketteten Personen ließen sich widerstandslos festnehmen. Die Aktion dauerte bis 9.30 Uhr. Die Initiatoren waren davon ausgegangen, die Polizei werde spätestens nach einer halben Stunde die Blockade beendet haben. Zwischen 6.30 Uhr und 8.30 Uhr erschienen etwa 20 Privatfahrzeuge und Lkw, die zur Baustelle wollten, und wurden durch die Aktion zum Anhalten und Warten veranlasst.

Das Amtsgericht verurteilte B1 und B2 wegen Nötigung. Sie hätten Gewalt angewendet, die ohne Rücksicht auf ihre Motive als verwerflich zu beurteilen sei. Bei der Strafzumessung sei aber die ideelle, politische Zielsetzung der Aktion zu berücksichtigen, so dass auf eine nur geringe Geldstrafe erkannt wurde. LG und BayObLG wiesen die Berufung und die Revision zurück.

(2) B3 ist Präsident der Roma und Sinti in Deutschland. Als mehreren ihrer Mitglieder, die nicht Deutsche sind, die Abschiebung drohte, fuhren etwa 600 Sinti und Roma mit Pkw, Wohnmobilen und Bussen über die BAB 5 Richtung Basel, um den Hohen Flüchtlingskommissar der UNO in Genf aufzusuchen und ihn zu bitten, sich für ein Bleiberecht der von der Abschiebung Bedrohten in Deutschland oder der Schweiz einzusetzen. Als die Schweizerischen Grenzbehörden der Gruppe die Einreise verweigerten, hielt B3 sein Fahrzeug etwa 500 m vor der Grenze auf der Autobahn an und gab dadurch zugleich ein Signal für die anderen Teilnehmer, sich in gleicher Weise zu verhalten. Die Beteiligten stellten ihre Fahrzeuge so auf den Fahrstreifen und Seitenstreifen der Autobahn ab, dass der übrige Verkehr und der Grenzübergang Weil am Rhein vollständig blockiert wurde. Erst nach mehreren Stunden konnte notdürftig eine Umleitung eingerichtet werden. Die Blockade begann um 12 Uhr und dauerte bis 17 Uhr des folgenden Tages. B 3 wurde wegen Nötigung zu einer Geldstrafe verurteilt. Rechtsmittel blieben erfolglos.

B1, B2 und B3 haben in zulässiger Weise VfB erhoben. Wie ist zu entscheiden ?

Die VfB ist begründet, wenn der Beschwerdeführer in einem Grundrecht verletzt ist. Da die Fälle der B1 und B2 völlig gleich, der Fall des B3 ähnlich liegt, können die drei Fälle zunächst gemeinsam behandelt werden. Dabei werden die drei Beschwerdeführer als „B“ bezeichnet.

A. Gesetzmäßigkeit und Bestimmtheit bei Bestrafungen, Art. 103 II GG

I. Art. 103 II ist verletzt, wenn eine Bestrafung aufgrund eines Gesetzes erfolgt, das nicht hinreichend bestimmt ist. B ist aufgrund des § 240 StGB bestraft worden. Diese Vorschrift ist aber hinreichend bestimmt, wie das BVerfG wiederum entschieden hat.

1. BVerfG S. 1031 unter I 1: Nach der st. Rspr. des BVerfG ist der Begriff der Gewalt in § 240 I StGB hinreichend bestimmt i.S. des Art. 103 II GG (vgl. 73, 206 [233 ff.]; 92, 1 [13 f.]). BVerfGE 73, 237: Dabei verwendet der Gesetzgeber mit dem Begriff der Gewalt ein sprachlich verständliches Merkmal, das auch in zahlreichen anderen Strafvorschriften vorkommt, das zwar für eine Auslegung offen sein mag, dessen Tragweite sich aber durch eine an Wortlaut und Gesetzeszweck orientierte Auslegung in einer für den Bürger hinreichend vorhersehbaren Weise ermitteln lässt.

2. BVerfG S. 1032 unter 2: Das BVerfG hat ebenfalls entschieden, dass auch die Verwerflichkeitsklausel des § 240 II StGB dem Bestimmtheitsgebot des Art. 103 II GG gerecht wird. Dabei hat es darauf abgestellt, dass diese Klausel von den Strafgerichten als tatbestandsregulierendes, den Täter begünstigendes Korrektiv behandelt wird, das strafbarkeitsbeschränkend wirkt (vgl. BVerfGE 73, 206 [238 f.]).

Zur Prüfungsstruktur bei diesem Fall: Es handelt sich um die Fragestellung (3) der obigen Übersicht. Da ein Einzelakt (Urteil) geprüft wird, muss dieser auf ein Gesetz gestützt werden können. Das ist hier § 240 StGB. Folgerichtig prüft das BVerfG, wenn auch nur kurz, die Verfassungsmäßigkeit des § 240 StGB unter dem Gesichtspunkt des Art. 103 II. Möglich wäre auch gewesen, § 240 StGB als zweifellos verfassungsmäßige Vorschrift zu Grunde zu legen; dann wäre es zum Prüfungsverlauf (4) gekommen. In jedem Fall liegt der Prüfungsschwerpunkt bei der folgenden Anwendungsprüfung. Das gilt auch für die spätere Prüfung des Art. 8 GG.

II. Art. 103 II GG ist auch dann verletzt, wenn durch eine Rechtsanwendung gegen den Bestimmtheitsgrundsatz verstoßen wird. Ein solcher Verstoß liegt vor, wenn Tatbestandsmerkmale über ihre „Bestimmung“ hinaus ausgedehnt werden. Denn die Forderung nach der Bestimmtheit des Straftatbestandes bliebe ohne Schutzfunktion, wenn bei der Rechtsanwendung über die gesetzlich aufgestellten Anforderungen hinausgegangen werden könnte. Es würde sich dann um eine (verdeckte) Analogie handeln, die durch Art. 103 II gerade ausgeschlossen werden soll.

1. Voraussetzung für eine dem Art. 103 II entsprechende Rechtsanwendung ist, dass sich die Auslegung des Begriffs der Gewalt in § 240 I StGB noch im Rahmen der methodisch zulässigen Auslegungsmöglichkeiten hält. Kern des Gewaltbegriffs ist eine körperliche Kraftentfaltung, die von einer anderen Person als Zwangseinwirkung empfunden wird. Die Rspr. ist aber seit langem von der Notwendigkeit einer Kraftentfaltung abgerückt (vgl. Tröndle/Fischer, StGB, 50. Aufl., § 240 Rnr. 10; Sinn NJW 2002, 1024/5) und hat die Zwangseinwirkung auch aufgrund psychischer Einwirkung ausreichen lassen. Fraglich ist aber, inwieweit das methodisch und damit verfassungsrechtlich zulässig ist.

a) Von BVerfGE 92, 1, 18 wurde die Annahme von Gewalt für die Fälle abgelehnt, in denen lediglich eine passive Sitzdemonstration andere Personen veranlasst hat, mit ihrem Fahrzeug anzuhalten, weil sie die Demonstrierenden nicht überfahren wollten. Die Bejahung von Gewalt in solchem Fall auf Grund eines sog. vergeistigten Gewaltbegriffs („unwiderstehlicher psychischer Zwang“) geht über eine zulässige Auslegung hinaus. BVerfG NJW 2002, 1032: Das Tatbestandsmerkmal der Gewalt kann … nicht in Fällen bejaht werden, in denen die „Gewalt“ lediglich in körperlicher Anwesenheit besteht und die Zwangswirkung auf den Genötigten nur psychischer Natur ist.

b) In den hier gegebenen Fällen lässt das BVerfG aber die Bejahung von Gewalt zu und bestätigt damit die sog. Hindernisrechtsprechung des BGH (BGHSt 41, 182; vgl. Sinn NJW 2002, 1024 Fn 6).

(1) S. 1032: Die Aktion der Bf. beschränkte sich nicht auf die körperliche Anwesenheit vor dem Tor und den dadurch auf die Führer der Kraftfahrzeuge ausgelösten psychischen Zwang, wegen der Gefahr der Verletzung oder Tötung der Demonstranten anzuhalten oder umzukehren. Zusätzlich erfolgte durch die Demonstranten selbst eine körperliche Kraftentfaltung, und zwar durch die Anbringung der in Hüfthöhe mit den Personen verbundenen Metallketten an den beiden Pfosten des Einfahrtstors. … Die Ankettung gab der Demonstration eine über den psychischen Zwang hinausgehende Eignung, Dritten den Willen der Demonstranten aufzuzwingen. Über die psychischen Wirkungen hinaus wurde durch das Anketten und das durch die Kette bewirkte Versperren des Tores eine physische Barriere geschaffen, die als Zwang und Gewalt wirkte.

(2) Auch die … Autobahnblockade war durch eine von körperlicher Kraftentfaltung ausgehende Zwangswirkung geprägt. Das Anhalten der Fahrzeugkolonne und das Abstellen der von den Teilnehmern benutzten Fahrzeuge auf den beiden Fahrstreifen und dem Seitenstreifen der Autobahn stellten die Errichtung eines Hindernisses durch körperliche Kraftentfaltung dar, von dem eine Zwangswirkung ausging. Die Überwindung dieser physischen Barriere hätte das Risiko der Selbstschädigung für diejenigen ausgelöst, die sich hätten widersetzen wollen.

Somit war die Bejahung von Gewalt im vorliegenden Fall mit § 240 I StGB vereinbar und verletzte den Art. 103 II nicht.

2. Dann war aber auch die Bejahung des § 240 II StGB (Verwerflichkeit) ohne Verletzung grundlegender Auslegungsregeln möglich (vom BVerfG nicht mehr geprüft). Ob die vorgenommene Auslegung inhaltlich zutreffend ist, ist keine Frage des Art. 103 II, sondern mit Blick auf die einschlägigen Freiheitsrechte, insbesondere des Art. 8, zu prüfen.

Art. 103 II ist nicht verletzt.

B. Versammlungsfreiheit, Art. 8 GG

I. Dieses Grundrecht steht nur Deutschen zu. Die von der Abschiebung Betroffenen sind nicht Deutsche. Jedoch sind von den anderen teilnehmenden Sinti und Roma sicherlich viele Deutsche, vor allem kann davon ausgegangen werden, dass B3 Deutscher ist.

II. Es müsste ein Eingriff in den Schutzbereich der Versammlungsfreiheit vorliegen.

1. Hierfür müssten die Vorgänge, die Grund für die Bestrafung waren, Versammlungen sein.

a) Das BVerfG vertritt auch in dieser Entscheidung, so wie bereits im Love-parade-Fall NJW 2001, 2459 (JurTel 2001 Heft 11 S. 232), einen engen Versammlungsbegriff. LS 2: Versammlung i.S. des Art. 8 GG ist eine örtliche Zusammenkunft mehrerer Personen zur gemeinschaftlichen, auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Erörterung oder Kundgebung. S. 1032 unter 1a): Der besondere Schutz der Versammlungsfreiheit beruht auf ihrer Bedeutung für den Prozess öffentlicher Meinungsbildung in der freiheitlichen demokratischen Ordnung des Grundgesetzes. … Für die Eröffnung des Schutzbereichs reicht es wegen seines Bezugs auf den Prozess öffentlicher Meinungsbildung nicht aus, dass die Teilnehmer … durch einen beliebigen Zweck verbunden sind. Vorausgesetzt ist vielmehr zusätzlich, dass die Zusammenkunft auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichtet ist.

Dabei sind geschützt nicht nur Veranstaltungen, bei denen Meinungen in verbaler Form kundgegeben oder ausgetauscht werden, sondern auch solche, bei denen die Teilnehmer ihre Meinungen zusätzlich oder ausschließlich auf andere Art und Weise, auch in Form einer Sitzblockade, zum Ausdruck bringen (vgl. BVerfGE 87, 399 [406]).

b) Danach war die Blockadeaktion von B1 und B2 eine Versammlung. Die Teilnehmer wollten ihren Widerstand gegen das Vorhaben zum Ausdruck bringen, auf die Gefahren der Atomenergie aufmerksam machen und in diesem Rahmen die Bauarbeiten symbolisch einstellen. - Ob es sich um eine öffentliche Versammlung gehandelt hat, ist für Art. 8 unerheblich (im Ergebnis aber zu bejahen).

c) Dagegen diente im Fall (2) die Autobahnblockade nicht, jedenfalls nicht in erster Linie, der Kundgebung einer Meinung oder der Erregung öffentlicher Aufmerksamkeit für ein kommunikatives Anliegen. Vielmehr zielte die Blockade darauf ab, unbedingt ein Gespräch mit dem Hohen Flüchtlingskommissar in Genf zu erreichen und dafür die Einreise zu erzwingen. … Art. 8 GG schützt … nicht die zwangsweise oder sonstwie selbsthilfeähnliche Durchsetzung eigener Forderungen.

Somit scheidet im Fall (2) eine Anwendung des Art. 8 zu Gunsten des B3 aus.

2. Die Versammlung des B1 und 2 wird nur geschützt, wenn sie friedlich war. Das wird vom BVerfG bejaht, obwohl die Beteiligten Gewalt i.S. des § 240 StGB angewendet haben. S. 1033 unter 1b): Art. 8 GG schützt die Freiheit kollektiver Meinungskundgabe bis zur Grenze der Unfriedlichkeit. Die Unfriedlichkeit wird in der Verfassung auf einer gleichen Stufe wie das Mitführen von Waffen behandelt. Unfriedlich ist eine Versammlung daher erst, wenn Handlungen von einiger Gefährlichkeit wie etwa aggressive Ausschreitungen gegen Personen oder Sachen oder sonstige Gewalttätigkeiten stattfinden, nicht schon, wenn es zu Behinderungen Dritter kommt, seien diese auch gewollt und nicht nur in Kauf genommen (vgl. BVerfGE 73, 206 [248]; 87, 399 [406]). Die Ankettung der Teilnehmer der Blockadeaktion führte nicht zu der so umschriebenen Gefährlichkeit für Personen oder Sachen und damit zur Unfriedlichkeit i.S. des Art. 8 GG. … Für die Begrenzung des Schutzbereichs des Art. 8 I GG ist allein der verfassungsrechtliche Begriff der Unfriedlichkeit maßgebend, nicht der umfassendere Gewaltbegriff des § 240 StGB (vgl. BVerfGE 73, 206 [248]).

3. Die Bestrafung von B1 und 2 wegen der Teilnahme an der Blockadeaktion, die eine Versammlung war, führt zu einem Nachteil wegen eines grundrechtlich geschützten Verhaltens und ist ein Eingriff in den Schutzbereich des Art. 8.

III. Dieser könnte gerechtfertigt sein.

1. Es handelte sich um eine Versammlung unter freiem Himmel. Sie wird deshalb durch den in Art. 8 II enthaltenen Gesetzesvorbehalt beschränkt.

a) Gesetz ist nicht nur das Versammlungsgesetz, sondern auch § 240 StGB.

b) Diese Vorschrift ist verfassungsmäßig. Im Hinblick auf Art. 103 II GG wurde dies bereits geprüft und bejaht (A I). Ebenso hindert Art. 8 GG den Gesetzgeber nicht daran, eine verwerfliche Nötigung für strafbar zu erklären, selbst wenn sie ein durch Art. 8 an sich geschütztes Verhalten betrifft. Mit Rücksicht auf die strengen Voraussetzungen des § 240 StGB und insbesondere die Beschränkung auf verwerfliche Handlungen ist die Beschränkung der Versammlungsfreiheit - und anderer grundrechtlicher Freiheiten, die durch § 240 StGB Schranken unterworfen werden - auch verhältnismäßig. Folglich berechtigt die Versammlungsfreiheit wegen Art. 8 II GG, § 240 StGB nicht dazu, andere durch Gewalt oder Drohung in verwerflicher Weise zu einem Verhalten zu nötigen. BVerfG S. 1033 unter a): Gegen die Verfassungsmäßigkeit der Strafbarkeit von Nötigungen bestehen unter dem Gesichtspunkt der Versammlungsfreiheit keine Bedenken. … Art. 8 GG schafft insbesondere keinen Rechtfertigungsgrund für strafbares Verhalten (vgl. BVerfGE 73, 206 [248 ff.]).

2. Art. 8 könnte aber bei der Anwendung des § 240 StGB zu berücksichtigen sein.

a) Bei der Auslegung und Anwendung von unbestimmten Rechtsbegriffen und Generalklauseln sind die davon berührten Grundrechte zu berücksichtigen. Dieser Gebot zur grundrechtskonformen Auslegung einfachen Rechts gilt für die gesamte Rechtsordnung, also auch für das Zivil- und Strafrecht, im vorliegenden Fall für die Anwendung des § 240 II StGB.

aa) BVerfG S. 1033 unter b): Bei der Anwendung der Verwerflichkeitsklausel ist der wertsetzenden Bedeutung des Art. 8 GG Rechnung zu tragen … Diese Klausel ist Ausdruck des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit. An dieser Stelle ist der Rechtsgüterkonflikt im Rahmen einer einzelfallbezogenen Abwägung zu bewältigen. Entscheidend ist nach § 240 II StGB, ob die Anwendung der Gewalt zu dem angestrebten Zweck als verwerflich anzusehen ist. Es entspricht verfassungsrechtlichen Anforderungen, wenn dabei alle für die Mittel-Zweck-Relation wesentlichen Umstände und Beziehungen erfasst werden und eine Abwägung der auf dem Spiel stehenden Rechte, Güter und Interessen nach ihrem Gewicht in der sie betreffenden Situation erfolgt (vgl. BVerfGE 73, 206 [255 f.]). - Bis hierher hat das BVerfG zwar eine Reihe begrüßenswert klarer Aussagen vorgenommen, aber nichts eigentlich Neues gebracht. Die Neuerungen folgen jetzt:

bb) S. 1034 unter bb): Ob eine Handlung als verwerfliche Nötigung zu bewerten ist, lässt sich ohne Blick auf den mit ihr verfolgten Zweck nicht feststellen. Mit der Bewertung des zu Grunde liegenden Zwecks wird zugleich eine Weiche für die Verwerflichkeitsprüfung gestellt. Erfolgt das Verhalten im Schutzbereich des Art. 8 I GG, muss die Bestimmung des relevanten Zwecks von der wertsetzenden Bedeutung dieses Grundrechts geleitet sein. Entgegen der bisherigen Rspr. der Strafgerichte sind also die Fernziele des Verhaltens nicht erst bei der Strafzumessung, sondern bereits beim Tatbestand des § 240 II StGB zu berücksichtigen (Sinn NJW 2002, 1025).

BVerfG: Im vorliegenden Fall galt die Sperrung nicht einem beliebigen Tor, sondern dem zu der politisch umstrittenen Wiederaufarbeitungsanlage in Wackersdorf. Die Bf. setzten die Blockade als Mittel ein, um das kommunikative Anliegen, die Erzielung von öffentlicher Aufmerksamkeit für ihren politischen Standpunkt, auf spektakuläre Weise zu verfolgen und dadurch am Prozess öffentlicher Meinungsbildung teilzuhaben.… Das Anliegen der Bf., für ihren Standpunkt öffentliche Aufmerksamkeit zu erzielen, ist bei der strafrechtlichen Prüfung der Verwerflichkeit notwendig zu berücksichtigen.

cc) Andererseits sind auch die beeinträchtigten Belange Dritter und der Allgemeinheit in die Abwägung einzubeziehen. Der Einsatz des Mittels der Beeinträchtigung dieser Interessen ist zu dem angestrebten Versammlungszweck bewertend in Beziehung zu setzen, um zu klären, ob eine Strafsanktion zum Schutz der kollidierenden Rechtsgüter angemessen ist. … Wichtige Abwägungselemente sind die Dauer und Intensität der Aktion, deren vorherige Bekanntgabe, Ausweichmöglichkeiten über andere Zufahrten, die Dringlichkeit der blockierten Transporte …

Nicht berücksichtigt werden darf, ob das Gericht den Versammlungszweck und die getroffenen Aussagen billigt oder missbilligt.

b) Ob diese Aspekte von den Strafgerichten berücksichtigt worden sind, ist eine spezifische Verfassungsfrage und wird vom BVerfG im Falle einer Urteilsverfassungsbeschwerde nachgeprüft (S. 1034/5 unter aa). Im vorliegenden Fall war das AG noch der bis dahin herrschenden Rspr. (BGHSt 35, 270) gefolgt und hatte die Demonstrationsziele der Bf. bei § 240 II nicht berücksichtigt. Das wird vom BVerfG als Verletzung des Art. 8 beanstandet (S. 1035 unter bb). Die Strafgerichte haben somit durch die den Art. 8 missachtende Auslegung und Anwendung des § 240 II StGB Art. 8 verletzt.

3. Gleichwohl hat das BVerfG der VfB nicht stattgegeben. Denn das AG und die Rechtsmittelinstanzen haben die ideelle, politische Zielsetzung der Aktion im Rahmen der Strafzumessung berücksichtigt und auf eine nur geringe Geldstrafe erkannt. Nach BVerfG S. 1035 unter 3 halten die Entscheidungen verfassungsrechtlichen Anforderungen statt, da sie nicht auf dem Fehler beruhen. Auch bei hinreichender Berücksichtigung des Grundrechts der Versammlungsfreiheit erscheint es ausgeschlossen, dass die Gerichte den Bf. günstigere Entscheidungen getroffen hätten. Das gilt gleichermaßen für die Verwerflichkeitsprüfung, den Schuldspruch und die verhängte Sanktion. Wie das BVerfG näher ausführt, haben die Gerichte trotz Verkennung der Bedeutung von Art. 8 GG die für die Verwerflichkeitsprüfung wesentlichen Gesichtspunkte letztlich im Ergebnis der Entscheidung zum Tragen gebracht.

Somit ist Art. 8 nicht in einer Weise verletzt, dass dies zum Erfolg der VfB führen würde.

C. Art. 5 I 1 GG scheidet nach Anwendung des Art. 8 GG als weiterer Prüfungsmaßstab aus. BVerfG S. 1032 unter II: Zwar kann eine an den Inhalt oder die Form der Meinungsäußerung anknüpfende Bestrafung das Grundrecht der Meinungsfreiheit auch dann berühren, wenn die Meinungskundgabe in einer oder durch eine Versammlung erfolgt. Gegenstand der strafrechtlichen Verurteilung ist im vorliegenden Fall aber nicht die Äußerung, sondern die der Erzielung öffentlicher Aufmerksamkeit dienende Blockadeaktion. Nur wegen dieser ist eine Bestrafung erfolgt und nicht wegen des Inhalts der dabei zum Ausdruck gebrachten Meinungen.

Die Verfassungsbeschwerden von B1 und B2 werden ebenso wie die von B3 zurückgewiesen.

Zusammenfassung

 

Zwei Ergänzungen:

1. Auch Art. 7 EMRK wird so verstanden wie Art. 103 II GG, was Bedeutung für eine Anrufung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte hat. EGMR NJW 2001, 3035, JuS 2002, 603 (Fall Krenz) LS 3: Art. 7 EMRK verbietet nicht nur die rückwirkende Anwendung des Strafgesetzes zu Ungunsten eines Angeklagten; er bedeutet auch, dass nur das Gesetz einen Straftatbestand bestimmen und eine Strafe androhen darf. Außerdem untersagt er jede extensive Auslegung des Strafgesetzes zu Lasten eines Angeklagten (st. Rspr.)

2. Mit Art. 8 GG und dem Versammlungsgesetz befasst sich Seidel DÖV 2002, 283 ff., u.a. mit den Fragen: Deutschenrecht, Versammlungsbegriff, Spontan- und Eilversammlungen, Behandlung der im VersG nicht geregelten nichtöffentlichen Versammlungen, Friedlichkeit und Versammlungsfreiheit auch für neonazistische Gruppierungen.