Bearbeiter: Prof. Dr. Rainer Strauß

Festnahmerecht, § 127 StPO. Selbsthilfe, § 229 BGB. Einschränkung des Notwehrrechts

AG Grevenbroich Urteil vom 26.9.2000 (Ds 6 Js 136/00) NJW 2002, 1061

Fall (Flüchtender Fahrgast)

Nachdem A verschiedene Gaststätten in Düsseldorf aufgesucht hatte, begab er sich um 6.00 Uhr morgens zu einem Taxistand. Dort stieg er in ein Taxi und ließ sich nach Hause fahren. Am Ortseingang des Wohnortes des A zeigte das eingeschaltete Taxameter einen Fahrpreis in Höhe von 80 DM an. A behauptete, es sei ein Pauschalpreis in Höhe von 40 DM für die Fahrt vereinbart worden; ob dies tatsächlich der Fall war, lässt sich nicht mehr feststellen. Daraufhin entstand zwischen Taxifahrer T und A eine Diskussion über den zu zahlenden Fahrpreis. T bestand auf Zahlung von 80 DM. A bestand dagegen auf der möglicherweise vereinbarten Pauschalpreisvereinbarung. A zahlte 40 DM und verließ das Taxi. T, der seinen Anspruch auf vollständige Bezahlung des Fahrpreises gefährdet sah, folgte A und versuchte, ihn an der Schulter festzuhalten. A setzte sich zur Wehr, was dazu führte, dass beide zu Boden fielen. T klammerte sich an einem Bein des A fest und rief lautstark mehrmals nach der Polizei. A versuchte, sich durch Tritte aus der Umklammerung zu lösen. Wie stark A zugetreten hatte und welches Schuhwerk er dabei trug, ließ sich nicht mehr feststellen. T gelang es, A in den Schwitzkasten zu nehmen, woraufhin A ihm in die Hand biss. T ließ A los, und A konnte sich entfernen. T rannte jedoch hinter A her, holte diesen ein und klammerte sich wiederum an den Beinen des A fest und rief nach der Polizei. Zwischenzeitlich war der in der Nähe wohnende Polizist P durch die Rufe des T auf das Geschehen aufmerksam geworden und im Schlafanzug herbeigeeilt. Auf seine Bemerkung: „Halt, stehen bleiben, Polizei“ beendeten A und T das Gerangel. Entgegen der Aufforderung des P, stehen zubleiben, entfernte A sich. Als P versuchte, ihn festzuhalten, drehte A sich um und boxte P heftig gegen die Schulter, so dass dieser umfiel. A wurde zwei Stunden später von alarmierten Polizeikräften in einem angrenzenden Park gefunden. In der späteren Hauptverhandlung ließ A sich unwiderlegbar dahin ein, dass er P, der keine Uniform trug, sondern nur mit einem Schlafanzug bekleidet war, nicht für einen Polizisten gehalten hätte. Strafbarkeit des A ?

I . A könnte sich durch die Tritte und den Biss in die Hand des T wegen einer gefährlichen Körperverletzung gegenüber T gemäß §§ 223 I, 224 I Nr. 2 StGB strafbar gemacht haben.

1. Die Tritte und der Biss stellen eine üble und unangemessene Behandlung des T und somit eine Körperverletzung dar. Eine gefährliche Körperverletzung setzt gemäß § 244 I Nr. 2 StGB voraus, dass die Körperverletzung mittels eines gefährlichen Werkzeuges begangen wurde. Ein gefährliches Werkzeug ist ein Gegenstand, der nach seiner objektiven Beschaffenheit und der Art seiner Benutzung konkret geeignet ist, erhebliche körperliche Verletzungen hervorzurufen. Die Verwendung von Kleidungsstücken, wie der Tritt mit dem beschuhten Fuß, kann die Benutzung eines gefährlichen Werkzeugs beinhalten. Hierfür kommt es auf die konkrete Beschaffenheit des Schuhwerks an. Der Tritt mit leichtem Schuhwerk ist im Gegensatz zum Tritt mit schwerem Schuhwerk keine Verwendung eines gefährliches Werkzeug. Bei normalem Schuhwerk ist die Stärke und die Art des Fußtrittes entscheidend. Nur bei heftigen Fußtritten, insbesondere gegen den Kopf des Opfers, liegt die Verwendung eines gefährlichen Werkzeugs vor (vgl. Tröndle/Fischer § 224 Rnr. 8 m, w. N.). Vorliegend konnte A die Verwirklichung des § 224 I Nr. 2 StGB nicht nachgewiesen werden, weil sich die Heftigkeit der Tritte nicht mehr feststellen ließ. A hat daher nur den objektiven Tatbestand einer einfachen Körperverletzung verwirklicht.

2. A hat vorsätzlich gehandelt.

3. Weiterhin müsste er rechtswidrig gehandelt haben. Die Tat des A könnte durch Notwehr gemäß § 32 I StGB gerechtfertigt gewesen sein.

a) Dann müsste eine Notwehrlage des A gegeben sein.

Diese setzt einen gegenwärtigen und rechtswidrigen Angriff voraus. T hielt A fest und nahm ihn in den Schwitzkasten, so dass ein Angriff auf die Bewegungsfreiheit des A gegeben war. Der Angriff müsste rechtswidrig sein. Das ist der Fall, wenn der Angriff in ein fremdes Rechtsgut ohne einen besonderen Rechtfertigungsgrund erfolgt.

aa) Der Angriff des T könnte durch das Festnahmerecht des § 127 I S. 1 StPO gerechtfertigt gewesen sein.

Dann müsste eine Festnahmelage zugunsten des T bestanden haben. Diese setzt voraus, dass B den A auf frischer Tat verfolgt oder betroffen hat. Hierfür reicht nach der Rechtsprechung ein dringender Tatverdacht aus. Unter den Tatbegriff des § 127 I 1 StPO fällt jedes Verhalten, das eine strafrechtliche Sanktion nach sich ziehen kann, es muss sich daher um eine Straftat oder zumindest eine rechtwidrige Tat handeln, wobei jedoch die Festnahmebefugnis der Privatperson nicht davon abhängt, dass der Betroffene eine Tat wirklich begangen hat (so auch die ständige Rechtsprechung des BGH: NJW 1981, 745; NJW 2000, 1348).

A hat sich von T befördern lassen und anschließend den vom Taxameter angezeigten Fahrpreis nicht bezahlt. Allein diese unstrittigen bzw. objektiven Umstände begründen den dringenden Verdacht, dass sich der Angekl. die Beförderung durch den Nebenkl. (T) erschleichen wollte und damit zu demjenigen Zeitpunkt, als der Nebenkl. ihn begann festzuhalten, einen vollendeten oder versuchten Betrug zu dessen Lasten begangen hatte. Die Einlassung des Angekl., er habe mit dem Nebenkl. einen Fahrpreis von pauschal 40 DM vereinbart, ändert an diesem Ergebnis nichts. Sie mag dazu führen, dass dem Angekl. ein Betrug zu Lasten des Nebenkl. ... nicht nachzuweisen ist; an dem dringenden Tatverdacht, der sich allein aus den unstreitigen objektiven Umständen ergab, ändert diese Einlassung jedoch nichts.

In der Lehre wird zum Teil darauf abgestellt, dass die Straftat wirklich begangen sein muss. Es wird darauf abgestellt, dass der Normtext des § 127 I S. 1 StPO eindeutig von Tat und nicht von Tatverdacht spreche. Außerdem habe der Gesetzgeber in §§ 127 II iVm § 112 II StPO eine Verdachtsfestnahme ausdrücklich nur für Polizeibeamte gestattet (Roxin, Strafrecht AT 1, § 17 C I Rnr. 23). Geht man aber mit dem AG Grevenbroich und dem BGH davon aus, dass ein bloßer Tatverdacht ausreichend ist, ist eine Festnahmelage gegeben.

Weiterhin müsste eine Festnahmehandlung gegeben sein. Im Rahmen des § 127 I S. 1 StPO ist die Anwendung von Gewalt, um den „Täter“ festzuhalten und dessen Identität festzustellen, erlaubt. Dabei ist das feste Zupacken, auch wenn dieses Schmerzen bei dem Festgehaltenen verursacht, gestattet (Kleinknecht/Meyer-Großner § 127 Rnr. 14). T war daher berechtigt, A zunächst an der Schulter und am Bein festzuhalten sowie ihn später in den Schwitzkasten zu nehmen.

Da T auch den Willen zur Festnahme des A hatte, war sein Verhalten durch § 127 I S. 1 StPO gerechtfertigt.

bb) Im übrigen weist das AG Grevenbroich daraufhin, dass dem T auch das Selbsthilferecht aus § 229 BGB zustand, da obrigkeitliche Hilfe nicht rechtzeitig zu erwarten war und die Gefahr bestand, dass der Anspruch des T aus dem Beförderungsvertrag auf Auskunft bezüglich Name und Adresse des A durch die Flucht des A vereitelt würde.

Somit ist kein rechtswidriger Angriff seitens des T gegeben. Es bestand keine Notwehrlage zugunsten des A und dieser handelte rechtswidrig.

b) Selbst wenn man die Anwendbarkeit des § 127 I S. 1 StPO und des § 229 BGB verneint und deshalb eine Notwehrlage des A bejaht, wäre - worauf das AG Grevenbroich zu Recht hinweist - das Notwehrrecht des A aus sozialethischen Gründeneingeschränkt. Eine Handlung ist nämlich zur Abwehr eines Angriffs nicht geboten, wenn von dem Angegriffenen ein anderes Verhalten zu fordern oder ihm zuzumuten ist, insbesondere wenn die Verteidigung als rechtsmissbräuchlich anzusehen wäre ... Genauso verhält es sich im vorliegenden Fall. Der Angekl. wusste, dass zwischen ihm und dem Nebenkl. Streit über den zu zahlenden Fahrpreis bestand. Dennoch hat er sich vom Fahrzeug entfernt und versucht zu flüchten. Damit hat er die Festhalteversuche des Nebenkl. zwar nicht absichtlich, aber doch fahrlässig herausgefordert, so dass ihm letztlich zumutbar war, auf den ersten Festhalteversuch des Nebenkl. zu reagieren, an Ort und Stelle zu verbleiben und auf das Eintreffen der Polizei zu warten, die im Interesse des Nebenkl. seine Personalien hätten aufnehmen können.

A hat sich wegen einer Körperverletzung strafbar gemacht.

II. Durch den Schlag gegen die Schulter des P hat A sich wegen einer weiteren (einfachen) Körperverletzung gemäß § 223 StGB strafbar gemacht.

III. Eine Strafbarkeit wegen Widerstandes gegen Vollstreckungsbeamte gemäß § 113 I StGB scheidet mangels Vorsatz des A aus, da A nicht zu widerlegen war, dass er den im Schlafanzug auf die Straße eilenden P nicht für einen Amtsträger gehalten hat.

Zusammenfassung