Bearbeiter: RA Prof. Dieter Schmalz

Bestimmtheitsgebot bei Strafgesetzen (Art. 103 II GG). Spannungsverhältnis zwischen Bestimmtheitsgebot und Schuldprinzip. Rechtliche Einordnung und Bestimmtheit des § 43 a StGB

BVerfG Urteil vom 20.3.2002 (2 BvR 794/95) NJW 2002, 1779, DVBl 2002, 697

Fall (Vermögensstrafe - weg ist das Einfamilienhaus)

§ 43 a StGB lautet: (1) Verweist das Gesetz auf diese Vorschrift, so kann das Gericht neben einer lebenslangen oder zeitigen Freiheitsstrafe von mehr als zwei Jahren auf Zahlung eines Geldbetrages erkennen, dessen Höhe durch den Wert des Vermögens des Täters begrenzt ist (Vermögensstrafe).… Der Wert des Vermögens kann geschätzt werden.… (3) Das Gericht bestimmt eine Freiheitsstrafe, die im Falle der Uneinbringlichkeit an die Stelle der Vermögensstrafe tritt (Ersatzfreiheitsstrafe). Das Höchstmaß der Ersatzfreiheitsstrafe ist zwei Jahre, ihr Mindestmaß ein Monat. - § 43a wurde 1992 eingeführt und u.a. damit begründet, durch diese zusätzliche Strafe solle die Möglichkeit geschaffen werden, Gewinne, die möglicherweise aus Straftaten herrühren, umfassend abzuschöpfen. - § 30c Betäubungsmittelgesetz (BtMG) verweist auf § 43 a StGB.

A wurde wegen unerlaubten Handelstreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten und zu einer Vermögensstrafe von 300 000 € verurteilt. Die hiergegen beim BGH eingelegte Revision hatte keinen Erfolg. Die Höhe der Vermögensstrafe wurde von den Gerichten damit begründet, dass A ein Einfamilienhaus besitzt, das diesen Verkehrswert hat. Den Einwand des A, das Haus, in dem er und seine Familie wohnen, stamme nachweislich nicht aus unerlaubt erworbenen Mitteln, wies der BGH mit der Begründung zurück, darauf komme es nach § 43 a StGB nicht an. A hat gegen die Verurteilung, soweit sie die Vermögensstrafe betrifft, in zulässiger Weise Verfassungsbeschwerde erhoben. Wie wird das BVerfG entscheiden ?

Die VfB ist begründet, wenn das Strafurteil gegen ein Grundrecht verstößt. Als verletztes Grundrecht kommt das strafrechtliche Bestimmtheitsgebot des Art. 103 II GG in Betracht. Dieses Grundrecht wird durch ein Urteil verletzt,

Das gegen A ergangene Urteil ist, soweit es die Vermögensstrafe enthält, auf § 43 a StGB gestützt. Somit ist entscheidend, ob § 43 a StGB gegen Art. 103 II GG verstößt.

Zur Prüfungsstruktur bei diesem Fall: Es handelt sich um die Fragestellung (3) der obigen Übersicht. Die VfB richtet sich gegen ein Urteil (Einzelakt), entscheidend ist aber die Verfassungsmäßigkeit des zu Grunde liegenden Gesetzes (§ 43a). In diesem Zusammenhang ist die Vereinbarkeit des § 43a mit Art. 103 II zu prüfen. Besonderheit ist, dass Art. 103 II kein Freiheitsrecht ist, so dass das Eingriffsschema nicht zur Anwendung kommt. Es gibt keinen Eingriff und keine Rechtfertigung. Statt dessen wird das Grundrecht nach Voraussetzungen und Rechtsfolge des Art. 103 II geprüft.

I. Voraussetzung dafür, dass ein Gesetz gegen Art. 103 II verstößt, ist, dass das Gesetz eine Strafe vorsieht. Bei § 43a ist das nicht von vornherein klar. Es könnte sich auch um eine Maßregel der Besserung oder Sicherung handeln, bei denen das BVerfG bisher offen gelassen hat, ob auf sie Art. 103 II anwendbar ist (BVerfGE 74, 102, 126; 83, 119, 128). Auch eine andere, atypische Folge einer Straftat wäre denkbar. Das BVerfG entscheidet diese Frage in Anwendung der vier Auslegungselemente Wortsinn, Gesetzessystematik, Entstehungsgeschichte und Gesetzeszweck - also schulmäßig - und kommt zu dem Ergebnis, dass es sich um eine Strafe handelt. Vorweg stellt es auf S. 1781 unter 1a) fest: Maßgebend für die Auslegung einer Gesetzesbestimmung ist der in der Norm zum Ausdruck kommende objektivierte Wille des Gesetzgebers, so wie er sich aus dem Wortlaut der Vorschrift und dem Sinnzusammenhang ergibt, in den sie hineingestellt ist … Hierbei helfen alle herkömmlichen Auslegungsmethoden… Unter ihnen hat keine einen unbedingten Vorrang vor einer anderen. Im Strafrecht kommt freilich der grammatikalischen Auslegung eine herausgehobene Bedeutung zu; hier zieht der mögliche Wortsinn einer Vorschrift gerade mit Blick auf Art. 103 II GG der Auslegung eine Grenze, die unübersteigbar ist (BVerfGE 85, 69, 73; 87, 209, 224).

1. Der Wortsinn von „Vermögensstrafe“ ist eindeutig.

2. Systematisch ist § 43 a StGB in den 1. Titel des Dritten Abschnitts des Allgemeinen Teils eingefügt, der die „Strafen“ enthält.

3. Ein Blick in die Geschichte der Gesetzgebung bestätigt die Qualifikation der Vermögensstrafe in § 43 a StGB als Strafe. So haben die am Gesetzgebungsverfahren Beteiligten zwar immer wieder auf die kriminalpolitische Zielrichtung der Vermögensstrafe hingewiesen, Vermögensgewinne umfassend abzuschöpfen, und damit den Eindruck erweckt, sie fügten dem Strafgesetz mit § 43 a eine Maßregel ein. Sie haben jedoch nie einen Zweifel gelassen, dass sie dieses Ziel nur mit einem Instrument verfolgen wollten, das ausschließlich als Strafe ausgestaltet ist (folgen Hinweise auf die Gesetzesbegründung).

4. Gegen die Einordnung der Vermögensstrafe in den Katalog der Strafen spricht auch nicht eine objektiv-teleologische Auslegung, die auf den aktuellen Sinn und Zweck einer Norm abstellt. Ein vom Willen des Gesetzgebers abweichender Zweck des § 43 a könnte sich allenfalls aus veränderten Rahmenbedingungen ergeben. Solche sind hier schon deshalb nicht zu erkennen, weil die Vorschrift, um deren richtiges Verständnis es geht, erst seit kurzer Zeit in Kraft ist.

Somit handelt es sich um eine Strafe (Tröndle/Fischer, StGB, 50. Aufl. 2001, § 43a Rnr. 3 bezeichnen sie als „Nebenstrafe besonderer Art“). Die Voraussetzungen des Art. 103 II liegen vor.

II. Rechtsfolgen des Art. 103 II sind:

Im vorliegenden Fall kommt ein Verstoß gegen das Bestimmtheitsgebot in Betracht. Dieses gilt zunächst für die Voraussetzungen der Strafvorschrift, also für den Straftatbestand.

1. BVerfG S. 1779 unter 1: Art. 103 II verpflichtet den Gesetzgeber, die Voraussetzungen der Strafbarkeit so genau zu umschreiben, dass Tragweite und Anwendungsbereich der Straftatbestände für den Normadressaten schon aus dem Gesetz selbst zu erkennen sind und sich durch Auslegung ermitteln und konkretisieren lassen … Das GG will auf diese Weise sicherstellen, dass jedermann sein Verhalten auf die Strafrechtslage eigenverantwortlich einrichten kann und keine unvorhersehbaren staatlichen Reaktionen befürchten muss … Mit der strengen Bindung der strafenden Staatsgewalt an das Gesetz gewährt das Bestimmtheitsgebot Rechtssicherheit und schützt zur Wahrung ihrer Freiheitsrechte das Vertrauen der Bürger, dass der Staat nur dasjenige Verhalten als strafbare Handlung verfolgt, das zum Zeitpunkt der Tat gesetzlich bestimmt war … Art. 103 Abs. 2 GG sorgt zugleich dafür, dass im Bereich des Strafrechts mit seinen weit reichenden Folgen für den Einzelnen nur der Gesetzgeber abstrakt-generell über die Strafbarkeit entscheidet.

2. Hinsichtlich der Voraussetzungen der Strafbarkeit ist § 43a unproblematisch, weil sich die Strafbarkeit jeweils aus einem anderen Gesetz ergibt, das auf § 43a verweist. Im Fall des A sind das §§ 29a, 30c BtMG.

III. Art. 103 II könnte auch für die Rechtsfolgen der Straftat gelten, zu denen § 43a gehört.

1. Grundsätzlich ist das zu bejahen. BVerfG S. 1780 unter 2: Das Gebot der Gesetzesbestimmtheit gilt auch für die Strafandrohung, die in einem vom Schuldprinzip geprägten Straftatsystem gerecht auf den Straftatbestand und das in ihm vertypte Unrecht abgestimmt sein muss. … Die Strafe als missbilligende hoheitliche Reaktion auf schuldhaftes kriminelles Unrecht muss deshalb in Art und Maß durch den parlamentarischen Gesetzgeber normativ bestimmt, eine strafende staatliche Antwort auf eine Zuwiderhandlung gegen eine Strafnorm muss für den Normadressaten vorhersehbar sein.

2. Allerdings gilt das Bestimmtheitsgebot für die Strafe nur in modifizierter, abgeschwächter Form, weil die Strafe im Einzelfall der individuellen Schuld muss Rechnung tragen können. Nach BVerfG S. 1780 unter a) ist es von Verfassungs wegen grundsätzlich nicht zu beanstanden, wenn der Gesetzgeber bei der Festlegung der Strafrechtsfolgen auf ein abstraktes Höchstmaß an Präzision verzichtet, wie es mit absoluten Strafen theoretisch zu erreichen wäre, und stattdessen dem Richter die Festsetzung einzelner Rechtsfolgen innerhalb gesetzlich festgelegter Strafrahmen überlässt; im Blick auf die Besonderheiten des Einzelfalls kann nämlich regelmäßig erst der Richter die Angemessenheit der konkret zu bemessenden Strafe beurteilen. … Bei der Frage, welche Anforderungen an die Bestimmtheit von Rechtsfolgenregeln zu stellen sind, geraten also zwei Verfassungsprinzipien in ein Spannungsverhältnis, das weder durch einen allgemeinen Verzicht auf Strafrahmen noch durch eine grundsätzliche Entscheidung für möglichst weite richterliche Strafzumessungsspielräume aufgelöst werden kann. Schuldprinzip und Einzelfallgerechtigkeit auf der einen Seite sowie Rechtsfolgenbestimmtheit und Rechtssicherheit auf der anderen Seite müssen abgewogen und in einen verfassungsrechtlich tragfähigen Ausgleich gebracht werden, der beiden für das Strafrecht unverzichtbaren Prinzipien möglichst viel an Substanz belässt.

3. Dabei ist auch die Besonderheit der jeweiligen Vorschrift zu beachten. BVerfG S. 1780 unter b): Die Anforderungen an den Gesetzgeber sind umso strenger, je intensiver der Eingriff wirkt … Je schwerer die angedrohte Strafe ist, umso dringender ist der Gesetzgeber verpflichtet, dem Richter Leitlinien an die Hand zu geben, die die Sanktion vorhersehbar machen, die bei Verwirklichung des Straftatbestands droht, und den Bürger über die zu erwartende Strafrechtsfolge ins Bild zu setzen. S. 1781 unter 2: Die Vorschrift des § 43a erlaubt durch ihre Verbindung von Freiheitsentzug und Vermögensstrafe, die einen Zugriff auf das gesamte Vermögen zulässt, einen intensiven Grundrechtseingriff und müsste daher erhöhten Anforderungen an ihre Bestimmtheit genügen.

IV. Auf S. 1781 ff. ab 2. hat das BVerfG ausführlich begründet, dass § 43a StGB den vorstehend unter III. entwickelten Anforderungen nicht genügt.

1. § 43a StGB stellt dem Strafrichter schon keine inhaltlichen Vorgaben zur Verfügung, nach denen er entscheiden könnte, in welchen Fällen des Verweises eines Tatbestands auf § 43a StGB er eine Vermögensstrafe wählen soll und in welchen Fällen nicht. Die Entscheidung über die Angemessenheit einer Vermögensstrafe trifft allein und ohne inhaltliche Vorgaben der Richter, obwohl es dem Gesetzgeber ohne weiteres möglich gewesen wäre, hierfür Kriterien festzulegen.

2. § 43a StGB verzichtet zudem auf einen seinem Betrag nach von vornherein festgelegten Strafrahmen, wie er herkömmlich ist, und überträgt die Bestimmung eines konkreten Strafrahmens als Ausgangspunkt der Strafzumessungsentscheidung über die im Einzelfall zu verhängende Vermögensstrafe dem Richter. Kann dieser das Vermögen des Angeklagten als obere Grenze des Strafrahmens nicht hinreichend sicher feststellen, so verstärken sich die Ungenauigkeiten bei der Festsetzung des Strafrahmens noch einmal; denn dann ist dem Richter die Möglichkeit eingeräumt, das Vermögen zu schätzen, ohne dass er dafür im Gesetz Vorgaben fände.

3. Beträchtliche Unklarheiten bestehen auch bei dem Verhältnis der primär verwirkten Freiheitsstrafe zur Vermögensstrafe und bei der Umrechnung einer Vermögensstrafe in eine Ersatzfreiheitsstrafe nach § 43a III StGB (BVerfG S. 1784/5).

V. § 43a StGB verletzt somit Art. 103 II GG. Das hat zur Folge, dass auch die hierauf gestützten Urteile dieses Grundrecht verletzen. Die VfB des A ist begründet. Das BVerfG hat § 43a StGB für nichtig erklärt (§ 95 III 2 BVerfGG) und die Strafurteile aufgehoben (§ 95 II BVerfGG).

Im Anschluss an die Mehrheitsbegründung ist in NJW 2002 auf S. 1785 ff. eine abweichende Meinung dreier Richter abgedruckt, die § 43 a für verfassungsmäßig halten. Die obige Entscheidung ist deshalb mit nur fünf zu drei Stimmen ergangen.

Anmerkung: Nach Auffassung des Bearbeiters gehört § 43a zu den Überreaktionen des Staates auf die Bedrohungen durch die Organisierte Kriminalität und den Handel mit Rauschgift (derzeit auch: durch den Terrorismus). Man wird es deshalb begrüßen dürfen, dass die Mehrheit des BVerfG hier rechtsstaatliche Grenzen aufgerichtet und § 43a StGB für verfassungswidrig erklärt hat. Wenn es dabei aber allein auf die Unbestimmtheit abgestellt hat, fragt sich, ob damit der wesentliche Gesichtspunkt getroffen wurde. Denn danach müsste das Ergebnis anders ausfallen, wenn dem A vorher in bestimmter Weise angekündigt worden wäre, dass er im Falle einer Bestrafung wegen Rauschgifthandels sein Einfamilienhaus verlieren würde. Es drängt sich auf, dass eine solche Reaktion auch einen unverhältnismäßigen Eingriff in Art. 14 I oder Art. 2 I enthält (auf Art. 14 weist auch die abweichende Meinung S. 1787 hin, hält diese Vorschrift allerdings ebenfalls nicht für verletzt). Das BVerfG hat die Verhältnismäßigkeit des § 43a möglicherweise deshalb nicht mehr geprüft, weil bei einem nicht näher bestimmten Eingriff zu wenige Anhaltspunkte bestehen, um zu entscheiden, ob dieser Eingriff geeignet, erforderlich und angemessen ist. Gleichwohl dürfte sachlich viel dafür sprechen, dass es absolut unangemessen ist, wenn der Staat seinen Bürgern neben der verwirkten Freiheits- oder Geldstrafe das gesamte Hab und Gut wegnimmt, zumal er dadurch auch die Familienangehörigen mit in die Armut stürzen kann.

Zusammenfassung

Weitere Folgen hat Art. 103 II für die Anwendung des Strafgesetzes (insbes.: keine Analogie); diese werden im nachfolgenden Fall behandelt.