► Rücktritt vom Versuch eines mehraktigen Unterlassungsdeliktes, §§ 212 I, 22, 13 I, 24 I StGB
BGH Beschluss vom 29.10.2002 (4 StR 281/02), NJW 2003, 1057
Fall (Kindesmisshandlung)
A lernte B kennen und zog mit diesem in eine gemeinsame Wohnung. A hatte zwei Kinder aus einer vorherigen Beziehung. B fühlte sich durch das Schreien des Säuglings S derart gestört, dass er diesen des Öfteren heftig durchschüttelte und wiederholt mit der Faust ins Gesicht schlug. Da B mehrfach drohte, wegen der Schreie des Säuglings die gemeinsame Wohnung A zu verlassen, unternahm A nichts. Wenige Tage später, am 15.3., kam es zu weiteren Gewalttätigkeiten des B gegenüber S. Nachmittags schlug B den S mit der flachen Hand gegen den Kopf und mit der Faust heftig gegen die Stirn. Einige Stunden später am Abend, als S wieder schrie, schüttelte B den S und würgte ihn mit beiden Händen, bis dieser rot anlief und röchelte. Hierbei war A die ganze Zeit anwesend, unternahm aber nichts. Sie rechnete während beider Misshandlungen damit, dass ihr Kind ohne ärztliche Hilfe zu Tode kommen oder erhebliche Dauerschäden erleiden könnte, fand sich aber damit ab. Erst am Abend des folgenden Tages, als S nur noch röchelnde Laute von sich gab, verständigte sie den Notarzt. S konnte gerettet werden, erlitt aber infolge der Misshandlungen vom 15. 3. 2001 dauernde Hirnschädigungen, die eine geistige Behinderung zur Folge haben. Strafbarkeit der A ?
I. A könnte sich wegen Misshandlung Schutzbefohlener durch Unterlassen gemäß §§ 225 I Nr. 1, III Nr. 1, 13 StGB strafbar gemacht haben.
1. A hatte gemäß §§ 1626, 1631 BGB die elterliche Sorge für S und hatte somit eine Garantenstellung gemäß § 13 I StGB inne.
2. Dadurch, dass A nicht gegen die Misshandlungen des B am 15.3.2001 einschritt, hat sie S durch Unterlassen gequält und roh misshandelt sowie in die Gefahr des Todes gebracht. Der objektive Tatbestand des § 225 I Nr. 1, III Nr. 1 StGB ist somit durch Unterlassen verwirklicht.
3. A handelte vorsätzlich, rechtswidrig und schuldhaft, so dass sie sich wegen Misshandlung Schutzbefohlener durch Unterlassen gemäß §§ 225 I Nr. 1, III Nr. 1, 13 I StGB strafbar gemacht hat.
II. Dadurch, dass S infolge der Misshandlungen durch B dauernde Hirnschädigungen erlitt, hat sich die garantenpflichtige A gemäß §§ 226 I Nr. 3, 13 I StGB wegen einer schweren Körperverletzung durch Unterlassen strafbar gemacht.
III. A könnte sich weiterhin wegen eines versuchten Totschlags durch Unterlassen gemäß §§ 212 I, 13 I StGB strafbar gemacht haben.
1. A nahm die Tötung ihres Kindes durch die Misshandlungen des B billigend in Kauf. Ferner wusste sie als Mutter des S um ihre Garantenstellung, so dass sie hinreichenden Tatentschluss zu einer Tötung des S durch Unterlassen hatte.
2. Indem A trotz einer akuten Gefährdung des Lebens des S nicht gegen die Misshandlungen des B eingeschritten ist, hat sie unmittelbar zur Tatbestandsverwirklichung i. S. des § 22 StGB angesetzt.
3. A hat rechtswidrig und schuldhaft gehandelt.
4. Zugunsten der A könnte der persönliche Strafaufhebungsgrund des § 24 StGB eingreifen.
a) Das setzt voraus, dass kein fehlgeschlagener Versuch vorliegt. Fehlgeschlagen ist ein Versuch grundsätzlich dann, wenn der Täter nach Abschluss der letzten Ausführungshandlung davon ausgeht, dass eine Fortführung der Tat nicht mehr möglich ist. Bei mehraktigen Tatgeschehen ist ein fehlgeschlagener solange nicht gegeben, solange die Gefahr für das Opfer ungehindert durch die einzelnen Teilakte fortwirken kann. Das LG stellte ... fest, dass die Angekl. bereits aufgrund der erlittenen Misshandlungen am Nachmittag des 15.3. damit rechnete, ohne ärztliche Hilfe werde das Kind möglicherweise sterben. Für die Zeit zwischen den beiden Gewalthandlungen (durch B)... sind den Feststellungen keine Anhaltspunkte für einen Fehlschlag in dem Sinne zu entnehmen, dass eine Unterbrechung der Gefährdungslage des Kindes eingetreten oder von der Angekl. vorgestellt worden wäre. Dieses war zwar eingeschlafen und wieder erwacht, befand sich aber weiterhin mit lebensgefährlichen Verletzungen ohne jede medizinische Versorgung schutzlos in ihrer Gewalt. Die Verletzungen durch den ersten Teilakt waren demzufolge aus Sicht der Angekl. nach wie vor geeignet, den Todeserfolg herbeizuführen, wobei die Verletzungen aus dem zweiten Teilakt nur geeignet waren, den Eindruck akuter Lebensgefährlichkeit im Sinne des nahen Erfolgseintritts zu verstärken. .
Demnach liegt kein fehlgeschlagener Versuch vor, und ein Rücktritt der A ist nicht ausgeschlossen.
b) Der Rücktritt des Unterlassungstäters ist nach den Grundsätzen des beendeten Versuchs beim Begehungsdelikt gemäß § 24 I S. 1 2. Fall StGB zu beurteilen (BGH NJW 2000, 1730). Danach kann der Täter mit strafbefreiender Wirkung von der Tat zurücktreten, wenn er die Vollendung der Tat verhindert. A hat den Notarzt verständigt, so dass S gerettet werden konnte. A verhinderte somit die tatbestandliche Vollendung eines Totschlags gemäß § 212 I StGB durch B. Sie ist deshalb mit strafbefreiender Wirkung von dem versuchten Totschlag durch Unterlassen zurückgetreten. Dabei erstreckt sich der Rücktritt sowohl auf das Tatgeschehen am Nachmittag als auch auf das am Abend.
Liegt ein mehraktiges Tatgeschehen vor, so kann der Täter solange mit strafbefreiender Wirkung von dem gesamten Tatgeschehen zurücktreten, solange nicht ein einzelner Tatabschnitt fehlgeschlagen ist.