Bearbeiter: RA Prof. Dieter Schmalz
► Rückwirkungs-, Bestimmtheits- und Analogieverbot für das Strafrecht, Art. 103 II GG. ► Auslegung eines Strafgesetzes, Begrenzung der Auslegung durch den Wortsinn. ► Auslegung des zu § 142 StGB (Unerlaubtes Entfernen vom Unfallort) gehörenden § 142 II Nr. 2 im Falle eines bloß unvorsätzlichen Verlassens des Unfallorts
BVerfG Beschluss vom 19. 3. 2007 (1 BvR 2273/06) NJW 2007, 1666
Fall (Unfall durch aufgewirbelten Rollsplit)
B, der spätere Beschuldigte und Beschwerdeführer der Verfassungsbeschwerde, befuhr mit seinem Pkw einen Baustellenabschnitt, für den ein Überholverbot galt. Gleichwohl überholte er den G und wirbelte dabei Rollsplit auf, der am Pkw des G Lackschäden anrichtete, deren Beseitigung später 1.900 Euro kostete. G folgte dem B, der nach etwa einem halben Kilometer auf ein Tankstellengrundstück fuhr. Dort sprach G den B auf den Vorfall an. B bestritt die Darstellung des G und fuhr davon. G hatte sich das Kennzeichen des B notiert und erstattete Anzeige. Im Strafverfahren gegen B wegen unerlaubten Entfernens vom Unfallort entschied das Amtsgericht: B könne nicht nachgewiesen werden, dass er das Schadensereignis bemerkt habe, so dass er nicht wegen § 142 I StGB bestraft werden könne. Er habe sich aber nach § 142 II Nr. 2 StGB strafbar gemacht, weil diese Vorschrift nach der Rspr. des BGH (dazu noch in der Falllösung unter A II 1a) auch auf den Fall anwendbar sei, dass sich jemand ohne Kenntnis vom Unfall entfernt habe und nachträglich von seiner möglichen Beteiligung erfahre. B wurde zu einer Geldstrafe von 40 Tagessätzen und dem Entzug der Fahrerlaubnis für neun Monate verurteilt. Eine Sprungrevision an das OLG blieb erfolglos. B hat in zulässiger Weise Verfassungsbeschwerde erhoben. Wie wird das BVerfG darüber entscheiden ?
A. Das gegen B ergangene Strafurteil des AG, vom OLG bestätigt, könnte gegen das Grundrecht des B aus Art. 103 II GG verstoßen. Danach darf eine Tat nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde.
I. Ihren Inhalt erhält die Vorschrift aus zwei Begriffen:
1. Rückwirkungsverbot und Bestimmtheitsgebot richten sich an den Gesetzgeber. BVerfG Rdnr. 10: Nach der Rspr. des BVerfG (vgl. BVerfGE 92, 1 [11 ff.] m. w. Nachw.) enthält die Regelung des Art. 103 II GG nicht nur ein Rückwirkungsverbot für Strafvorschriften. Sie verpflichtet den Gesetzgeber auch, die Voraussetzungen der Strafbarkeit so konkret zu umschreiben, dass Anwendungsbereich und Tragweite der Straftatbestände sich aus dem Wortlaut ergeben oder jedenfalls durch Auslegung ermitteln lassen. Diese Verpflichtung soll einerseits sicherstellen, dass die Normadressaten vorhersehen können, welches Verhalten verboten und mit Strafe bedroht ist. Sie soll andererseits gewährleisten, dass die Entscheidung über strafwürdiges Verhalten im Voraus vom Gesetzgeber und nicht erst nachträglich von der vollziehenden oder der rechtsprechenden Gewalt gefällt wird. Das schließt allerdings nicht eine Verwendung von Begriffen aus, die in besonderem Maße der Deutung durch den Richter bedürfen. Auch im Strafrecht steht der Gesetzgeber vor der Notwendigkeit, der Vielgestaltigkeit des Lebens Rechnung zu tragen. Ferner ist es wegen der Allgemeinheit und Abstraktheit von Strafnormen unvermeidlich, dass in Einzelfällen zweifelhaft sein kann, ob ein Verhalten noch unter den gesetzlichen Tatbestand fällt oder nicht. Jedenfalls im Regelfall muss der Normadressat aber anhand der gesetzlichen Vorschrift voraussehen können, ob ein Verhalten strafbar ist.
Unter dem Gesichtspunkt des Bestimmtheitsgrundsatzes hat das BVerfG gegen § 142 StGB ungeachtet der dort enthaltenen unbestimmten Rechtsbegriffe wie insbesondere „angemessene Zeit“ in Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 2 Nr. 1 keine Bedenken geäußert.
2. BVerfG Rdnr. 11: Für die Rechtsprechung folgt aus dem Erfordernis gesetzlicher Bestimmtheit ein Verbot analoger oder gewohnheitsrechtlicher Strafbegründung. Ausgeschlossen ist danach jede Rechtsanwendung, die über den Inhalt einer gesetzlichen Sanktionsnorm hinausgeht. Da Gegenstand der Auslegung gesetzlicher Bestimmungen immer nur der Gesetzestext sein kann, erweist dieser sich als maßgebendes Kriterium: Der mögliche Wortsinn des Gesetzes markiert die äußerste Grenze zulässiger richterlicher Interpretation. Da Art. 103 II GG die Vorhersehbarkeit der Strafandrohung für den Normadressaten garantieren will, ist die Grenze aus dessen Sicht zu bestimmen. - Dabei verbietet des Analogieverbot des Art. 103 II nicht nur, einen Fall ausdrücklich über Analogie zu lösen, sondern bereits jede nicht mehr als Auslegung mögliche Strafbegründung.
Also (so BVerfG Rdnr. 12) entscheidet allein der Gesetzgeber über die Strafbarkeit. Fällt ein Fall nicht unter den erkennbaren Wortsinn des Gesetzes, müssen die Gerichte auf Freispruch erkennen, selbst wenn das Verhalten als strafwürdig erscheint. Es ist dann Sache des Gesetzgebers, ggfs. eine „Strafbarkeitslücke“ zu erkennen und zu schließen.
II. Die hier mit der VfB angegriffenen Strafurteile verstoßen gegen Art. 103 II GG, wenn die in ihnen vorgenommene Subsumtion des Falles des B unter § 142 II Nr. 2 StGB nicht mehr auf einer Auslegung beruht, sondern methodisch nur als Analogie möglich wäre, was von Art. 103 II GG aber untersagt wird.
1. Ob die Strafbegründung in einem solchen Fall noch durch Auslegung des § 142 II Nr. 2 StGB zu rechtfertigen ist, haben zunächst Strafgerichte und Strafrechtswissenschaft zu entscheiden. Unter ihnen ist die Antwort auf diese Frage seit langem streitig. Das BVerfG stellt zunächst den Streitstand dar.
a) Nach der Ansicht, der die Gerichte im vorliegenden Fall gefolgt sind, muss auch derjenige, der sich ohne Kenntnis des Unfalls („unvorsätzlich“) vom Unfallort entfernt hat, nach Kenntnisnahme vom Unfall sich melden und nachträglich die nötigen Feststellungen ermöglichen. Der Fall unvorsätzlichen Entfernens wird dem in § 142 II Nr. 2 geregelten Fall gleichgestellt, dass sich jemand „berechtigt oder entschuldigt“ vom Unfallort entfernt hat. Diese Auffassung wurde vor allem von BGHSt 28, 129 vertreten. Zur Begründung des BGH vgl. BVerfG Rdnr. 15: Die Begriffe „berechtigt oder entschuldigt“ seien nicht im technischen Sinne zu verstehen, sondern fänden in der Rechtssprache und ihrem natürlichen Wortsinn entsprechend auch Anwendung auf tatbestandsmäßig nicht vorsätzliche Verhaltensweisen… Für die Erfassung möglichst aller Fälle des „erlaubten“ Entfernens vom Unfallort durch die Vorschrift des § 142 II Nr. 2 StGB spreche zudem die ratio legis des Straftatbestandes, die zivilrechtlichen Ansprüche der Unfallbeteiligten untereinander zu sichern. Eine Bestrafung setze allerdings voraus, dass zwischen der nachträglichen Kenntniserlangung und dem Unfallgeschehen noch ein zeitlicher und räumlicher Zusammenhang mit dem letzteren bestehe.
b) Das Schrifttum lehnt diese Auslegung überwiegend ab (Nachw. bei BVerfG Rdnr. 16). Insbesondere die neuere Kommentarliteratur spricht sich einhellig gegen die Rechtsanwendung der Rspr. aus (u. a. Tröndle/Fischer, StGB, 53. Aufl. 2006, § 142 Rdnr. 52; Cramer/Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder, StGB, 27. Aufl. 2006, § 142 Rdnr. 55). Auf eine Darstellung der Begründung kann an dieser Stelle verzichtet werden, denn:
2. Das BVerfG folgt der Auffassung unter b) und begründet das mit den anerkannten vier Auslegungsmethoden: der Auslegung nach dem Wortsinn, der historischen, systematischen und teleologischen Auslegung.
a) Beim Wortsinn hält BVerfG Rdnr. 20 dem BGH entgegen: Schon die Umgangssprache unterscheidet zwischen[einerseits] unvorsätzlichen im Sinne nicht absichtlicher und [andererseits] berechtigten oder entschuldigten Verhaltensweisen, die „das Recht auf ihrer Seite haben“ bzw. deren Konsequenzen aus höherrangigen Gründen hinzunehmen sind. Stellt man auf den - für die Auslegung maßgeblichen - möglichen Wortsinn ab, wie er sich aus dem Kontext erschließt, so kennzeichnen die Begriffe „berechtigt oder entschuldigt“ einen Sachverhalt, der an den in § 142 I StGB beschriebenen anschließt: Wer sich als Unfallbeteiligter an einem Unfallort befindet und also die erforderlichen Feststellungen ermöglichen muss, darf sich unter bestimmten, durch die Begriffe „berechtigt oder entschuldigt“ näher gekennzeichneten Voraussetzungen entfernen; er muss dann aber die Feststellungen nachträglich ermöglichen. Das unvorsätzliche Sich-Entfernt-Haben geht über diesen Sinngehalt hinaus, da es die normative Wertung, unter welchen Voraussetzungen das Sich-Entfernen zulässig ist, zu Gunsten einer empirischen Tatsache - der Kenntnis vom Unfallgeschehen - ausblendet. Auf Grund ihres normativen Gehalts können die Begriffe „berechtigt oder entschuldigt“ nicht in einem nicht-normativern Sinn ausgelegt werden. Wer sich „berechtigt oder entschuldigt“ vom Unfallort entfernt, handelt objektiv und subjektiv unter ganz anderen Voraussetzungen als der jenige, der das mangels Kenntnis des Unfallgeschehens tut. Dass unvorsätzliches Verhalten - wie zum Beispiel das Übersehen des Rotlichts bei einem dringenden Krankentransport - zugleich berechtigt oder entschuldigt sein kann, steht dem nicht entgegen.
Da, wie oben A I 2 ausgeführt, der mögliche Wortsinn die äußerste Grenze der Auslegung ist und nach den vorangegangenen Überlegungen das unvorsätzliche Verhalten nicht mehr durch den Wortsinn des § 142 II Nr. 2 StGB gedeckt ist, steht bereits fest, dass die vom BGH und von den Gerichten im vorliegenden Fall vertretene „Auslegung“ des § 142 II Nr. 2 nicht mehr zulässig ist und gegen Art. 103 II GG verstößt.
b) Gleichwohl zieht das BVerfG zum Zwecke der Bestätigung seines Ergebnisses auch noch die anderen Auslegungselemente heran (Rdnr. 21 - 24). Es verweist zum Zwecke der historischen Auslegung auf die Entstehungsgeschichte, während deren der Gesetzgeber sich in einer Weise mit der Auslegung der Begriffe „berechtigt oder entschuldigt“ befasst hat, die gegen ein untechnisches Verständnis dieser Begriffe, so wie vom BGH befürwortet, spricht. In systematischer Hinsicht vergleicht das BVerfG die hier auszulegende Vorschrift des § 142 Abs. 2 Nr. 2 mit Abs. 1. Dort braucht der Unfallbeteiligte nur zu warten und muss nicht selbst aktiv werden. In den Fällen des § 142 II hat er weitergehende Pflichten, was sich damit erklären lässt, dass er trotz Kenntnis vom Unfall sich zunächst entfernen durfte und insofern privilegiert war. Dem Ausnahmecharakter des § 142 II StGB widerspricht es, wenn auch derjenige, der dieses Privileg nicht in Anspruch nimmt, weil er den Unfall nicht bemerkt hat, gleichermaßen verpflichtet wird. Wenn zum Zwecke der teleologischen Auslegung darauf verwiesen wird, für eine weite Auslegung des 142 II Nr. 2 StGB spreche dessen Zweck, die zivilrechtlichen Ansprüche der Unfallbeteiligten zu sichern, so ist dem entgegen zu halten, dass Schwierigkeiten bei der zivilprozessualen Verwirklichung von Ansprüchen Unfallbeteiliger für eine Ausdehnung der Strafbarkeit nicht ausreichen.
3. Somit war die vom BGH und von AG / OLG im vorliegenden Fall vorgenommene Rechtsanwendung nicht mehr als Auslegung möglich. Damit verstieß sie gegen Art. 103 II GG.
B. Geldstrafe und Entziehung der Fahrerlaubnis bedeuten auch einen Eingriff in den Schutzbereich des Grundrechts auf allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 I GG). Dieses wird durch Art. 103 II nicht verdrängt, weil Art. 2 I nur im Vergleich zu spezielleren Freiheitsrechten subsidiär ist; Art. 103 ist aber kein Freiheitsrecht, sondern eine Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips.
Art. 2 I steht allerdings (über die weite Auslegung der „verfassungsmäßigen Ordnung“ als „verfassungsmäßiger Rechtsordnung“) unter Gesetzesvorbehalt. § 142 StGB enthält deshalb eine Einschränkung der allgemeinen Handlungsfreiheit. Die eingreifenden Urteile lassen sich aber, wie oben A. dargelegt, durch § 142 nicht rechtfertigen. BVerfG Rdnr. 25: Da die Rechtsanwendung der Fachgerichte gegen Art. 103 II GG verstößt, ist der Bf. durch seine Verurteilung…zugleich in seinem Grundrecht aus Art. 2 I GG verletzt.
Ergebnis: Weil B in seinen Grundrechten aus Art. 103 II und Art. 2 I verletzt ist, ist die VfB begründet. Das BVerfG hebt die Strafurteile auf (§ 95 II BVerfGG).
Ergänzender Hinweis: Nach BVerfG NJW 2007, 1669 (in der NJW nach obigem Rollsplit-Fall abgedruckt) ist es mit Art. 103 II GG vereinbar, dass die Strafgerichte dichtes, bedrängendes Auffahren eines Kfz.-Fahrers auf den Vordermann - insbesondere bei Betätigung von Lichthupe und Signalhorn - als Gewalt im Sinne des Nötigungsparagraphen § 240 StGB ansehen. Das gilt auch im innerörtlichen Verkehr. Das BVerfG hat dran festgehalten, dass Gewalt zweierlei voraussetzt: eine körperliche Kraftentfaltung durch den Täter (hier das Steuern des Autos, technisch unterstützt durch dieses) und einen physischen, nicht nur psychisch wirkenden Zwang auf das Opfer; heftiges Drängeln könne zu einer körperlich empfundenen Angstreaktion beim Opfer führen und sei dann Zwang.
Zusammenfassung